Dank Sarrazin

Einmal Mitte und zurück

Ich war ein Ignorant. Zeit meines Lebens in Deutschland habe ich ignoriert, dass der Teil der deutschen Gesellschaft, zu der ich mich (wie viele andere Bildungsinländer und Vorzeigemigranten auch) zugehörig fühle, nicht das ist, für das ich es gehalten habe.

Von Dienstag, 31.08.2010, 7:56 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 13.09.2010, 10:08 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Die „Mitte“ der deutschen Gesellschaft war das, wo uns unsere hart arbeitenden und aus Armut und Perspektivlosigkeit geflüchteten Arbeiterväter und -mütter sehen wollten. Diese Mitte, demokratisch, beruflich erfolgreich, aufgeklärt und gebildet. Also unsere Lehrer, manch pensionierter Beamter in der Nachbarschaft, Betreuer im Fußballverein, Väter und Mütter unserer deutschen Spielkameraden. Diesen Menschen fühlten wir uns zugehörig, an ihnen haben wir uns orientiert. Nicht die Randgruppen der Gesellschaft, die uns mit offenem Hass, Rassismus und sogar Gewalt begegneten. Es gab nur die guten und die bösen Deutschen. Und wir wollten wie die Guten sein.

Dieser Mitte der Gesellschaft habe ich hinterher gehechelt, habe mich „integriert“, um an dieser Gesellschaft mit ihrem Wohlstand und ihrem Lebensstil teilhaben zu können. Toleriert habe ich sie, die unangenehmen Fragen und Vorurteile in Bezug auf meine Herkunft. Diese Mitte lässt mich heute im Stich, möchte mich am liebsten zur Verantwortung ziehen. Nur wofür? Habe ich ignoriert, dass ich jahrelang ignoriert wurde?

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„Für einen Türken nicht schlecht deine Abiturnote“, sagte einst ein Beamter im Rathaus beim Beglaubigen meines Abiturzeugnisses zu mir. Auch diese Kränkung habe ich weggesteckt, wie so viele andere. Doch heute sitzt mir kein beliebig austauschbarer namenloser Beamter gegenüber. Nein, heute ist es der Vorstand der Bundesbank und ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin, der mir in diesen Tagen, die medial geschwängert sind von seiner Sicht auf die Gegenwart und Zukunft Deutschlands, zu verstehen gibt, dass es trotz jahrzehntelanger Bestrebungen kein „wir“ gibt, sondern „wir“ und „die“.

Meine Gene und meine Ethnie sind schuld wird behauptet. Sie halten mich und meinesgleichen davon ab, der Gesellschaft angehören zu wollen und den Wohlstand zu sichern. Gene, die bald die Intelligenz in Deutschland auslöschen werden, glaubt man Herrn Sarrazin. Die Gene meines Vaters und meiner Mutter, die gut genug waren, ehrliche und harte Arbeit zu leisten und heute aber eine Bedrohung des Abendlandes bedeuten sollen. Die gleichen Gene, die mich in die Lage versetzt haben diese Sätze hier zu schreiben, ohne ein Wörterbuch oder die Rechtschreibfunktion meines Textverarbeitungsprogramms zu benutzen.

All diese Pauschalisierungen und der wissenschaftlich parfümierte Rassismus von einem Einzelnen oder den üblichen Verdächtigen wären mit entsprechendem Selbstbewusstsein zu ertragen. Nicht zu ertragen ist für mich und meinesgleichen aber die Tatsache, dass weite Teile der deutschen Bevölkerung zu der ich mich gesellschaftlich zugeordnet habe, diese Aussagen nicht zurückweisen oder ablehnen. Von der „unangenehmen Wahrheit“ ist plötzlich die Rede, „Sarrazin würde die Probleme beim Namen nennen“. Menschen, die sich plötzlich „überfremdet“ fühlen, dabei die „Problemstadtteile“ mit z.B. 80% Migrantenanteil nur aus der Durchfahrt in ihrem SUV kennen. Deutsche, die kurz vor dem Mittagessen in der Döner-Bude um die Ecke, noch schnell einen Kommentar im Web 2.0 abgeben, in der sie sich darüber beschweren, wie sehr sich Deutschland unter den Migranten negativ verändert. Meinung

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  1. gabriela sagt:

    Super Artikel! Ich freue mich MIGAZIN wieder lesen zu können! Danke!

  2. Bekir Altas sagt:

    Yusuf, du hast die Gefühlslage vieler Migrantinnen und Migranten sehr schön in Worte gefasst. Das ist wichtig, bleibt sie doch oft im Verborgenen. Einige haben sich nun in einem offenen Brief an den Bundespräsidenten gewandt. Bleibt zu hoffen, dass Verantwortungsträgerinnen und -träger die nötige Differenziertheit bieten (können).

  3. Loewe sagt:

    Diese Debatte, diese breite Unterstützung, die eine anti-muslimische Provokation erhält, diese hemmungslosen Übertreibungen lokaler und begrenzter Integrationsprobleme – es hat etwas Gespenstisches.

    Ich bin „Urdeutscher“, „Biodeutscher“ oder wie immer man das nennen will, Deutscher ohne Migrationshintergrund – ich frage mich, wie ich mich als Deutscher mit türkischem Migrationshintergrund fühlen würde. Es hat seinerzeit den assimilierten, 100% deutschen Juden nichts genutzt gegen den Wahn der Antisemiten, dass sie eigentlich von Deutschen nicht mehr unterscheidbar waren.

    Vielleicht aber überschätzen wir die Anzahl derer, die sich wirklich von der Sarrazin-Welle mitreißen lassen. Man sieht halt mehr den Mob als diejenigen, die sich dem Mob nicht anschließen. Es wär schon gut, wenn sich mehr von denen, die nicht mit dem Mob mitrennen, dazu entschließen könnten, ihr Nein zur Hetze öffentlich zu machen.

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  5. Orkide sagt:

    Vielen Dank für den Artikel….du hast das was ich/wir fühle(n), sehr gut zum Ausdruck gebracht :)
    Seit diese Debatte mit Sarrazin angefangen hat fühle ich mich wie im falschem Film, ein Alptraum, ein Schlag ins Gesicht…und keiner weckt mich auf.
    Warum versuchen wir nicht zusammen nach Lösungen zu suchen, statt den Schwarzen Peter hin und her zu schieben?

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