Prof. Dr. Astrid Messerschmidt, Professor, Migration, Menschenrechte, Humanwisschenschaften, Sozialwissenschaften
Prof. Dr. Astrid Messerschmidt

Gewaltverhältnisse

Weder antimuslimisch noch antisemitisch

Ausgerechnet mit Antisemitismus wird heute die Gleichzeitigkeit von Muslimischsein und Deutschsein verweigert - sie sollen nicht dazugehören. Es ist höchste Zeit für rassismuskritische Bildungsarbeit, für mehr Komplexität.

Von Mittwoch, 20.12.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 20.12.2023, 11:35 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Wenn aktuelle Gewaltereignisse alles zu überwältigen scheinen, was bis dahin gegolten hat, kann es helfen, sich auf grundlegende Überzeugungen und begründete Haltungen zu beziehen. Für die rassismuskritische Migrationspädagogik gehören die Anerkennung der Migrationstatsache und der Abbau von Rassismus durch die Veränderung von gesellschaftlichen Zugehörigkeitsordnungen dazu. Beides verbindet die kritische Auseinandersetzung mit Kulturrassismus und aktuellem Antisemitismus.

In der Gegenwart erfüllt der kulturalisierte Rassismus die Funktion der Trennung in eine nationale ‚Wir-Gruppe‘ und davon unterschiedene ‚Andere‘. Insbesondere den als muslimisch identifizierten (Post-)Migrant:innen wird eine Unterwanderung der national-kulturellen Ordnung unterstellt. Ein Instrument dieser Unterstellung ist die Zuschreibung eines spezifisch muslimischen Antisemitismus, der als importiert gilt, weil als muslimisch repräsentierte Andere in dieser Denkweise als nichtzugehörig zur deutschen Gesellschaft und zum europäischen Kulturraum markiert werden.

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Der antimuslimische Kulturrassismus wird in Europa und Deutschland vor allem von Rechtspopulisten ausgeübt und von etablierten Parteien übernommen, wodurch die europäischen und deutschen Muslime fremd im eigenen Land gemacht werden. Denn längst sind die Länder, in die familiäre oder eigene Migrationswege geführt haben, zum Teil des Eigenen geworden. Doch viele Deutsch-Muslime oder muslimische Deutsche erleben erneut, dass sie nicht dazu gehören sollen. Die Gleichzeitigkeit von Muslimischsein und Deutschsein wird verweigert, und zwar unabhängig davon, wie die eigene religiöse Zugehörigkeit verstanden und gelebt wird, zumal für viele das eigene Muslimisch-Sein gar keine so große Rolle in ihrem Leben spielt, gäbe es den antimuslimischen Rassismus nicht. Auch darin ähnelt dieser dem Antisemitismus, der viele europäische Juden und Jüdinnen traf, die ihr Judentum eher gelegentlich oder gar nicht als relevant für ihren Alltag auffassten.

„Die Beobachtung eines in Teilen politisierter und radikalisierter muslimischer Kreise vorhandenen antiisraelischen Antisemitismus bietet eine Gelegenheit, die kontinuierlich angezweifelte Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland endgültig als Illusion zu propagieren.“

Die Beobachtung eines in Teilen politisierter und radikalisierter muslimischer Kreise vorhandenen antiisraelischen Antisemitismus bietet eine Gelegenheit, die kontinuierlich angezweifelte Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland endgültig als Illusion zu propagieren. Dass dafür ausgerechnet die Bekämpfung des Antisemitismus herhalten soll, ist mehr als paradox. Denn in der langen Geschichte des Antisemitismus in Europa und in Deutschland geht es um verweigerte Zugehörigkeit und um das Fremdmachen einer rassifizierten Gruppe, was im zwanzigsten Jahrhundert zu einer völkischen und auf Vernichtung zielenden Ideologie geformt und umgesetzt worden ist.

Wenn nun ausgerechnet mit dem Vorwurf des Antisemitismus deutsche Muslime erneut als Nichtzugehörige markiert werden, zeugt das von Projektionsbedürfnissen, um sich nicht mit den Kontinuitäten des Antisemitismus in der deutschen Dominanzgesellschaft auseinandersetzen zu müssen. Die Nichtanerkennung der Präsenz und Zugehörigkeit ganzer zu Gruppen gemachter Teile der Gesellschaft widerspricht dem Anspruch eines Geschichtsbewusstseins, das sich auf die Rekonstruktion und Reflexion einer Politik der Identitätsmarkierungen, Ausgrenzungen, Deportationen und Verfolgungen bezieht. Vom historischen Gegenstand selbst geht eine Kritik an den üblich gewordenen Unterscheidungspraktiken in der verspätet anerkannten Migrationsgesellschaft aus.

In der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit gilt für die Feststellung eines antiisraelischen Antisemitismus das Kriterium einer Delegitimierung des Staates Israel. Sofern diesem Staat das Existenzrecht abgesprochen wird, handelt es sich um eine antisemitische Position, die zugleich geschichtsverdrängend ist, weil sie die Verfolgungsgeschichte des europäischen Judentums und die Suche nach einem sicheren Ort für alle Jüdinnen und Juden auf der Welt missachtet. Demgegenüber muss eine konkrete Kritik an israelischer Politik und an deren Vertreter:innen nicht als antisemitisch eingeordnet werden, solange sie eben konkret bleibt und nicht zu einer pauschalen Verwerfung neigt. Dies fällt heute vielen offensichtlich schwer.

„Mut zur Komplexität ist gefragt, gerade dann, wenn Gewaltphänomene zu Vereinfachungen verleiten.“

Neben fundamentalistisch-islamistischen Aktivist:innen verschaffen sich antiimperialistische Stimmen Gehör, die in Israel schon immer eine Kolonialmacht des Westens gesehen haben. Sie alle finden im Staat Israel eine Projektionsfläche für ihre Weltbilder. Antisemitismuskritik bietet Instrumentarien, um nach den Funktionen dieser Weltbilder zu fragen, die in der Entlastung von eigener Verantwortung bestehen und in einer Täter-Opfer-Umkehr. Beides kommt in der aktuellen Situation international zum Tragen. Eine Verantwortung für die schon lange bestehenden Notlagen der Palästinenser:innen ist kaum von den Staaten und Bevölkerungen angenommen worden, die sich als muslimisch verstehen. Die Täterschaft des islamistischen Terrorismus wird verdrängt, wenn die Gewalttaten der Hamas bei den Protestaktionen gegen den Krieg im Gaza-Streifen verschwiegen werden. Mut zur Komplexität ist gefragt, gerade dann, wenn Gewaltphänomene zu Vereinfachungen verleiten. Im Aktivismus geht diese Komplexität oft verloren oder ist nicht gewollt.

Rassismuskritische Bildungsarbeit, die antimuslimischen Rassismus thematisiert, berücksichtigt die Diversität muslimischer Beziehungen zum Islam und zu den Muslimen auf der Welt, inklusive der Möglichkeit, nicht religiös zu leben. Sie vermeidet jede Pauschalisierung und reflektiert Gruppenkonstitutionen. Sowohl für Antisemitismuskritik wie für Rassismuskritik gilt ein selbstreflexives Verständnis von Kritik, das immer den eigenen normalisierten Antisemitismus und Rassismus versucht zu beachten. Für die Kritik des antimuslimischen Rassismus kommt es derzeit darauf an, den pauschalen Verdacht, Muslime würden Sympathien für die Hamas hegen, zurückzuweisen. Ebenso gilt es, sich gegen diejenigen Stimmen zu wenden, die diese Sympathien tatsächlich äußern.

„Die derzeitige Kriegssituation ist moralisch und politisch unerträglich.“

Für eine kritische Bildungsarbeit ist eine selbstsichere Haltung der Aufgeklärtheit ungeeignet. Wie Paul Mecheril einfordert, geht es darum, „das eigene Wissen weniger als Instrument der Anklage einzusetzen und stärker als suchendes, bescheidenes, gleichwohl entschiedenes Angebot zum wechselseitig aufklärenden Gespräch bereit zu stellen.“1 Für dieses aufklärende Gespräch kann es hilfreich sein, sich an die nur wenige Monate zurückliegenden Proteste aus der israelischen Gesellschaft selbst gegen die derzeitige Regierungspartei zu erinnern und die innere Diversität dieser Migrationsgesellschaft zu begreifen.

Die derzeitige Kriegssituation ist moralisch und politisch unerträglich. Das Leid der ermordeten und verschleppten Israelis und das Leid der vielen Opfer in der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen bedeutet für alle Betroffenen einen Weltuntergang und kann nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Auch dafür bieten Rassismus- und Antisemitismuskritik Reflexionshilfen, um das Denken und die Sprachfähigkeit nicht aufzugeben, wenn Gewalt die Gegenwart bestimmt.

Info: Dieser Beitrag ist eine Kooperation von MiGAZIN mit dem Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg, das unter dem Dach von adis e.V. Antidiskriminierung – Empowerment -Praxisentwicklung organsiert ist. Das Netzwerk versteht sich als Forum von Menschen aus den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Bildung/Weiterbildung, Hochschule sowie angrenzenden Professionen, die sich fachlich und (fach-)politisch in den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Weiterbildung – und auch darüber hinaus – einmischen und dort Rassismus selbststärkend, reflexiv-kritisch und wenn nötig auch skandalisierend zum Thema machen. Das Netzwerk informiert Interessierte in regelmäßigen Abständen von circa zwei Monaten per E-Mail-Newsletter über aktuelle Entwicklungen, Veranstaltungen und Publikationen im Feld der Migrationspädagogik.

  1. 41. Newsletter Rassismuskritische Migrationspädagogik, November 2023
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