Überfall, Waffe, Pistole, Straftat, Rassismus, Islamfeindlichkeit
Ein Mann mit einem Kapuzenshirt schießt in der türkischen Bäckerei auf eine Verkäuferin mit Kopftuch © Szene aus dem Video der Überwachungskamera

"Nichts gelernt aus dem NSU-Komplex"

Staatsanwaltschaft: Herkunft und Kopftuch des Opfers irrelevant

Eine Szene wie aus einem NSU-Film: Einen großer, sportlich gebauter 30-jähriger Mann mit Kapuzenshirt schießt in einer türkischen Bäckerei in Heilbronn auf eine Verkäuferin mit Kopftuch. Für die Staatsanwaltschaft sind Herkunft und Kopftuch des Opfers nicht erwähnenswert, dafür aber die polnische Abstammung des Tatverdächtigen.

Von Ekrem Şenol Mittwoch, 18.07.2018, 17:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 24.07.2018, 17:09 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Mit einer Pistole in der Hand stürmt ein Mann eine Bäckereifiliale. Er ist groß, sportlich gebaut und trägt ein Kapuzenshirt. Er richtet die Pistole auf die Verkäuferin hinter dem Tresen und schießt mehrere Male auf sie. Anschließend flüchtet der Mann. Der Ladeninhaber ist türkeistämmig. Die Verkäuferin trägt ein Kopftuch.

Was sich hier wie eine Szene aus einem Film über den „Nationalsozialistischen Hintergrund“ (NSU) liest, hat sich am Dienstagvormittag in einer türkischen Bäckereifiliale an der Sinsheimer Straße in Heilbronn-Böckingen ereignet. Die Verkäuferin kam, anders als bei den NSU-Morden, mit dem Schrecken davon. Der Polizei zufolge war die Waffe nur eine Luftdruckpistole.

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Wie die Polizei in einer Presseaussendung außerdem mitteilt, handelt es sich beim Tatverdächtigen um einen in Polen geborenen 30-jährigen Deutschen. Die Herkunft des Ladeninhabers und die der Verkäuferin geht aus der polizeilischen Mitteilung nicht hervor. Auf Frage des MiGAZIN erläuterte der zuständige Staatsanwalt, warum die Herkunft des Tatverdächtigen genannt wurde und die der Opfer nicht.

Staatsanwalt: Herkunft des Opfers nicht relevant

Der polnische Hintergrund sei im vorliegenden Fall mitgeteilt worden, um möglichen „Gerüchteküchen“ den Boden zu entziehen. „Heutzutage wird sehr schnell gemutmaßt, potenzielle Straftaten würden vielmehr von Flüchtlingen begangen. Und da wollen wir der Bevölkerung immer die Möglichkeit geben, das richtig einzuschätzen“, erklärte der Pressedezernent der Staatsanwaltschaft Stuttgart dem MiGAZIN. Der Geburtsort des Tatverdächtigen sei zudem von Bedeutung, weil der Hinweis „Deutscher“ der Öffentlichkeit nicht reiche, weil dann noch die Frage aufkomme, „inwieweit da ein Migrationshintergrund eine Rolle spielt“.

Zum Opfer hingegen mache die Staatsanwaltschaft „aufgrund von Persönlichkeitsschutzrechten grundsätzlich“ keine Angaben. Es sei denn, „es ist für die Tat von Relevanz“, erklärte der Staatsanwalt dem MiGAZIN.

Staatsanwalt: Kopftuch des Opfers nicht relevant

Ähnlich verhalte es sich mit dem Kopftuch. In Pressemitteilungen würden grundsätzlich nur Informationen mitgeteilt, „die für die Tat relevant“ seien. Zwar würde man in diesem Fall einen möglichen extremistischen Hintergrund nicht ausschließen, „Spekulationen gehören in eine Pressemitteilung aber nicht rein“, so der Staatsanwalt.

Die Frage, ob Tatverdächtige grundsätzlich einem Arzt vorgeführt und in eine Psychiatrie verwiesen werden, wie es in diesem Fall geschehen ist, verneinte der Pressedezernent. „Nur bei Auffälligkeiten“ würden Tatverdächtige einem Arzt vorgeführt. Welche Auffälligkeiten in diesem Fall einen Arztbesuch erforderlich machten, wolle der Staatsanwalt „aus ermittlungstechnischen Gründen“ nicht mitteilen.

„Nichts gelernt aus dem NSU-Komplex“

Derweil schlägt das Video, das den Tathergang zeigt, in sozialen Netzwerken hohe Wellen. Zahlreiche Nutzer ziehen Parallelen zum NSU-Komplex. Dort hatten Rechtsextremisten unter anderem acht türkeistämmige und einen griechischstämmigen Unternehmer in ihren Läden erschossen. Erst vergangene Woche hat das Oberlandesgericht München das Urteil im NSU-Prozess verkündet.

Während der Aufklärung wurden eklatante Mängel in den Ermittlungsbehörden festgestellt. Bei den Morden haben sich laut Berichten der NSU-Untersuchungsausschüsse rassistische Motive geradezu aufgedrängt. Dennoch seien die Ermittler Spuren, die zu Neonazis geführt hätten, nicht nachgegangen.

In Bezug auf den Fall in der Heilbronner Bäckerei, schreibt ein Nutzer Namens „Sami“ auf dem Kurznachrichtendienst Twitter: „Nichts, aber auch gar nichts gelernt aus dem NSU-Komplex. Medien berichten nicht, Polizei sind Herkunft und Kopftuch des Opfers nicht einmal erwähnenswert. #NSU lebt – irgendwo, irgendwie.“ Leitartikel Panorama

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  1. Unsere Justiz, d.h. unsere Behörden ‚raffen‘ es einfach nicht und sie sind auch nicht ‚lernfähig‘.
    Wieder einmal ist es wichtiger für sie, die herkunft der Täter zu nennen. als die der Opfer und das offenbar den Rassismus in den Behörden allzu deutlich!