Libyen, Meer, Flagge, Fahne, Küste
Libyen © Ben Sutherland @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Tortur in Libyen

Mittelmeer-Flüchtlinge: „Sie verkaufen uns wie Fisch“

Die "Sea Watch" rettet erschöpfte Flüchtlinge aus dem Mittelmeer. Manche haben die Überfahrt schon mehrfach gewagt, wurden aber von der libyschen Küstenwache abgefangen. Zurück in Nordafrika schufteten sie für Schleuser - bis zum nächsten Versuch.

Von Christian Ditsch Dienstag, 29.11.2016, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 04.12.2016, 13:01 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Bubakas verwaschenes T-Shirt ist mit Namen übersät. Alle, die den 18-Jährigen in den vergangenen drei Jahren begleiteten, haben unterschrieben. Viele der Weggefährten leben nicht mehr. Es waren Jahre der Flucht.

Bubaka war 15, als er mit einem Freund aus seiner Heimatstadt Serekunda im westafrikanischen Gambia aufbrach – in eine lebenswerte Zukunft in Europa. Zuhause schaffte er es nicht, genug Geld für seine Familie zu verdienen. Das war 2014. Als Bubaka von der Besatzung der „Sea Watch 2“ Ende Oktober 2016 vor der libyschen Küste gerettet wird, ist er 18. Es war sein dritter Anlauf, über das Mittelmeer zu gelangen.

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Nicht alle haben es geschafft

Was Bubaka seit seinem Aufbruch erlebt hat, kann er kaum in Worte fassen. Mit Blick auf die Unterschriften auf seinem T-Shirt sagt er: „Von ihnen haben es nicht alle bis Libyen geschafft.“ Einige hätten auch die fürchterlichen Umstände in Libyen nicht überlebt, so auch sein Freund, mit dem er sich zusammen auf den Weg gemacht hatte.

Der Flüchtling aus Gambia war froh, als er vor zwei Jahren seine erste Passage in einem Schlauchboot ergatterte. Was er dafür tun musste, mag er nicht erzählen. Zu tief sitzt die Angst vor seinen Peinigern. Und er schämt sich. Nach einigen Stunden wurde das überfüllte Schlauchboot von der libyschen Küstenwache aufgebracht und zurück nach Libyen geschleppt.

Von Soldaten gezwungen, Geld aufzutreiben

Dort sei er wie die anderen auch vor die Wahl gestellt worden, entweder 2.000 US-Dollar zu zahlen oder ins Gefängnis zu gehen, sagt er. Immer gleichlautenden Berichten von Flüchtlingen zufolge werden die Zurückgebrachten von den Soldaten gezwungen, in ihrer Heimat Freunde oder Verwandte anzurufen und binnen weniger Stunden das Geld aufzutreiben. Allerdings bedeute die Zahlung des Lösegeldes nicht, dass die Menschen frei sind. Die Mitglieder der Küstenwache verkauften sie an Menschenschmuggler, welche sie so lange für sich arbeiten ließen, bis sie sich einen nächsten Versuch über das Mittelmeer leisten können. „Sie verkaufen uns wie Fisch“, sagt Bubaka.

Er hatte niemanden, den er anrufen konnte. Der Jugendliche landete in einem Gefängnis, berichtet von einem drei Meter tiefen Erdloch, in dem er kauern musste. Nach einem Jahr sei er „entlassen“ und an Schleuser verkauft worden, für die er schuftete. Ein neuer Vorstoß nach Europa scheiterte erneut an der Küstenwache, und wieder begann die Tortur in Libyen.

Im Fernsehen ist das ein humanitäres Eingreifen

Es scheint ein einträgliches Geschäft für die Mitglieder der Küstenwache, mit ihren sogenannten Push-Back-Aktionen kurz vor der Zwölf-Meilen-Zone die Flüchtlingsboote aufzubringen. In Fernsehbeiträgen wird der erste Teil dieser Aktionen vor laufender Kamera als humanitäres Eingreifen gefeiert. Die Übergabe an Menschenschmuggler passiert laut Flüchtlingen und Hilfsorganisationen dann, wenn die Kamerateams weg sind.

Ebenso ist es ein gutes Geschäft, den Booten die Außenbordmotoren zu stehlen. Sogenannte „Engine Fishers“ arbeiten hier eng mit den Schleusern zusammen. Sie verfolgen die Flüchtlingsboote mit ihren kleinen und wendigen Schnellbooten häufig schon vom Strand aus – und wenn diese in Reichweite von Hilfsorganisationen wie Sea Watch, Jugend Rettet, Ärzte ohne Grenzen oder Save the Children sind, werden die Außenbordmotoren kurzerhand abgebaut. Die Flüchtlinge treiben dann hilflos im Meer. Immer wieder wurden dabei von den Hilfsorganisationen auch Küstenwachenschiffe beobachtet, welche entweder die Motordiebe gewähren ließen oder gar selber Hand anlegten.

EU-Kriegsschiffe helfen nicht

Zu welch einem Desaster dies führen kann, zeigt sich etwa am 21. Oktober, als ein überfülltes Schlauchboot mit rund 150 Menschen von der „Sea Watch“ entdeckt wird. Die Rettungsaktion wird durch die libysche Küstenwache behindert, das Schlauchboot an das Küstenwachenschiff gezogen, und ein Soldat macht sich am Motor zu schaffen. Dabei gerät der vordere Teil des Schlauchbootes unter eine Stahlplattform des Küstenwachenschiffes. Später verliert der Bug genau an dieser Stelle Luft, Menschen rutschen ins Wasser oder springen in Panik ins Meer. Etwa 30 von ihnen ertrinken.

Die patrouillierenden EU-Kriegsschiffe stoppen nach Beobachtung von Hilfsorganisationen die Motordiebe nicht. Sollte tatsächlich einmal ein Schiff der Frontex-Mission selber Geflüchtete aus Seenot retten, werden die Schlauchboote den „Engine Fishers“ überlassen, welche während der Rettungsaktion wie Haifische die Szenerie umkreisen.

„Kennst du Michael Ballack?“

Bubaka hat in diesem Herbst Glück. Bei seinem dritten Versuch übers Meer schafft es das Schlauchboot in internationale Gewässer. Er und rund 130 weitere Flüchtende werden von der „Sea Watch 2“ aufgegriffen.

Jetzt träumt der junge Mann davon, bis nach Deutschland zu kommen. Er möchte einen Beruf lernen. „Etwas womit ich Geld verdienen kann“, sagt er. Und er möchte Fußball spielen. „Kennst du Michael Ballack?“ fragt Bubaka. „DER kann spielen! So gut möchte ich auch werden.“ Ausland Leitartikel

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  1. posteo sagt:

    Dieser Bericht wirft einige Fragen auf:
    – Woher haben die Flüchtlinge die mehreren 1000 Dollar, die sie für ihre monatelange Reise bis Lybien + die Bootspassage benötigen? Wenn man bedenkt, dass das Durchschnittseinkommen in Westafrika nur wenige Dollar am Tag beträgt, überzeugt die Erklärung nicht, dass die Familie zusammen legt.
    – Woher nehmen die Angehörigen die hohe Summe an Lösegeld an die Schlepper und wie transferieren sie diese?
    – Mit welcher Art von Arbeit erarbeiten die Flüchtlinge ihre Schleppergebühren für erneute Fluchtversuche, wo es doch kaum Arbeitsplätze für die einheimischen Lybier gibt?

    Zu guter Letzt: Gambia hat diese Woche einen neuen Präsidenten gewählt. Damit dürften die Fluchtgründe hinfällig sein.