Studie

Europäische Asylpolitik verletzt Menschenrechte

Seit zehn Jahren regelt die Dublin-II-Verordnung die nationalstaatliche Zuständigkeit bei Asylanträgen. Ein Bündnis von Flüchtlingsorganisationen hat die Anwendung der Regelung in elf europäischen Ländern untersucht. Es fordert grundlegende Veränderungen.

Von Thomas Hummitzsch Dienstag, 02.04.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 08.01.2020, 15:45 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Die in der Dublin-II-Verordnung festgelegten Standards und Kriterien zur Aufnahme von Asylsuchenden werden von den Vertragsstaaten nicht einheitlich und zum Nachteil der Schutzsuchenden angewendet. Dies zeigt die Mitte Februar vorgestellte Studie „Dublin-II-Verordnung: Leben in der Warteschleife“, die der Europäische Flüchtlingsrat (ECRE) gemeinsam mit verschiedenen Partnerorganisationen erstellt hat.

Die unterschiedliche Praxis führe dazu, dass es keine Garantie für ein faires Asylverfahren gebe. Man habe es mit einer „Asyl-Lotterie“ statt mit einem einheitlichen System zu tun, heißt es in der Studie. Dabei würden die Grundrechte von Asylsuchenden, etwa ihr Recht, angehört zu werden, das Recht auf effektiven Rechtsschutz und das Grundrecht auf Asyl selbst verletzt. Die Aussagen der vergleichenden Studie basieren auf detaillierten Untersuchungen, die von Dezember 2009 bis Mai 2011 in Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz, der Slowakei, Spanien und Ungarn durchgeführt wurden.

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Die „Verordnung zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist“ (EG Nr. 343/2003) ist seit März 2003 in Kraft. Sie gilt in allen EU-Mitgliedstaaten sowie in Norwegen, Island und der Schweiz und regelt anhand verschiedener Kriterien, welcher Mitgliedstaat für das Asylverfahren verantwortlich ist. Im Normalfall handelt es sich um das Land der Ersteinreise. Wenn der Asylsuchende in ein anderes Mitgliedsland weiterreist, kann er in das Ersteinreiseland zurückgeschoben werden. So wollen die Vertragsstaaten verhindern, dass Asylbewerber in verschiedenen Ländern Asylanträge stellen, um einen Aufenthaltstitel zu bekommen. In diesem Zusammenhang wird abwertend immer wieder von sogenanntem „Asyl-Shopping“ gesprochen.

Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen kritisieren seit Jahren die Verordnung als restriktives Instrument gegenüber Asylsuchenden. Auch einige nationale Gerichte sowie der Europäische Gerichtshof hatten in der Vergangenheit die Anwendung von Teilen der Dublin-II-Verordnung, insbesondere der Abschiebung in das Land der Ersteinreise, untersagt, wenn dort die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung besteht. Dies bezog sich auf die Zustände in den Aufnahmeeinrichtungen in Griechenland. Für das Land ist die Dublin-II-Regelung derzeit ausgesetzt. Die nun vorgestellte Studie untermauert die grundsätzliche Kritik an der Regelung.

Menschenrechtskommissar kritisiert EU: Der Menschenrechtskommissar des Europarats Nils Muižnieks hat schwere Vorwürfe gegen die Europäische Union erhoben. Er warf ihr Anfang März vor, die Visafreiheit als Druckmittel einzusetzen. Serbien und Mazedonien würden auf Drängen der EU die Asylsuche von Roma kriminalisieren und deren Pässe konfiszieren. Menschen aus diesen Staaten beantragten seit der Aufhebung der Visapflicht für Serben und Mazedonier im Dezember 2009 insbesondere in den Herbst- und Wintermonaten verstärkt Asyl in der EU. Um dies zu unterbinden, hatte die EU die Beitrittskandidaten Mazedonien und Serbien aufgefordert, die Einreise von Asylsuchenden in die EU zu verhindern. Andernfalls drohe der Entzug der Visafreiheit für mazedonische und serbische Staatsbürger. In Deutschland entzündete sich vor dem Hintergrund steigender Asylanträge von Menschen aus Serbien und Mazedonien eine Diskussion um „Asylmissbrauch“. Aktuell sind die Zahlen der Antragsteller aus diesen Ländern wieder rückläufig. Die Asylanträge von Personen aus dem Balkan werden in der Regel abgelehnt. Lesetipp: Balkanstaaten erledigen für Brüssel die „Drecksarbeit„.

Aufnahmebedingungen
Am meisten beanstanden die Autoren der Studie die unterschiedlichen Aufnahmebedingungen in den verschiedenen europäischen Staaten. Insbesondere in den Aufnahmezentren der Staaten an der europäischen Außengrenze im Süden und Osten Europas herrschen demzufolge desolate Zustände. Aufnahmeeinrichtungen sind nicht selten überfüllt und entsprechen oftmals nicht den hygienischen Mindeststandards. In Italien, Griechenland, Ungarn und Malta wurden der Studie zufolge Asylsuchende auf die Straße gesetzt oder in leer stehenden Gebäuden untergebracht. Die betroffenen Staaten ihrerseits beklagen immer wieder die fehlende europäische Solidarität bei der Bewältigung der Flüchtlingseinwanderung, von der sie in ihrer Randlage stärker betroffen sind als EU-Staaten, die nicht direkt an der Außengrenze liegen.

In zahlreichen Ländern seien außerdem die Aufnahmebedingungen für sogenannte „Dubliner“ deutlich schlechter als für andere Asylsuchende; sie würden als „Menschen zweiter Klasse“ wahrgenommen.

Kriterien
Vor allem die von Staat zu Staat unterschiedliche Anwendung und Berücksichtigung der Dublin-II-Kriterien und Verstöße gegen ihre vorgeschriebene Rangfolge führe zu Verletzungen der Grundrechte von Asylsuchenden. So würden Personen oft in den Staat der Ersteinreise abgeschoben, obwohl ein höherrangiges Kriterium, etwa das der Einheit der Familie, vorrangig angewendet werden müsste. Die Studie zeigt, dass Familien im Zuge einer restriktiven Durchsetzung der Dublin-II-Verordnung in vielen Fällen getrennt wurden.

Kann-Bestimmungen
Möglichkeiten, nationalstaatliche Rechte auszuschöpfen oder humanitäre Mindestbedingungen geltend zu machen, um Asylsuchende zu schützen, werden von den Nationalstaaten nur unzureichend genutzt. Ursächlich dafür sei eine restriktive Auslegung des Familienbegriffs sowie der humanitären Standards.

Verfahrensgarantien
Unzureichende Informationen zum Asylverfahren, eingeschränkte Möglichkeiten zur Einsicht in die Verfahrensunterlagen und zur Anhörung sowie fehlende rechtliche Beratung und Unterstützung lassen fraglich erscheinen, inwiefern die Asylverfahren im Rahmen der Dublin-II-Regelung den rechtsstaatlichen Standards entsprechen, heißt es in der Studie. Darüber hinaus gebe es in Europa keine einheitlichen Standards im Umgang mit besonders schutzbedürftigen Personen wie unbegleiteten Minderjährigen, Schwangeren oder Kranken.

Empfehlungen
Die Autoren der Studie fordern einen humanen und gerechten Umgang mit Asylsuchenden und fordern die Europäische Kommission auf, die Asylpraxis der Nationalstaaten stärker zu überwachen. Für die Aufnahme und Unterbringung von Schutzsuchenden werden in der Studie europaweit gültige, einheitliche Standards eingeklagt. An die Nationalstaaten richten die Autoren den Appell, das Prinzip der Einheit der Familie zu respektieren und ihre nationalstaatlichen Souveränitätsrechte stärker anzuwenden, wenn humanitäre Gründe gegen eine Abschiebung gemäß Dublin-II-Verordnung sprechen.

Ausblick
Bis Ende 2012 wollte die Europäische Union ein gemeinsames europäisches Asylrecht beschließen. Dabei sollte auch die Dublin-II-Verordnung reformiert werden, wobei u. a. die Rechtsstellung von Minderjährigen und besonders schutzbedürftigen Personen verbessert sowie Standards für die Unterbringung und medizinische Versorgung von Asylsuchenden definiert werden sollten. Medienberichten zufolge sind andere diese Fragen betreffende Verordnungen und Richtlinien, etwa die Aufnahme- und Verfahrensrichtlinie sowie die Eurodac-Verordnung, noch nicht abschließend behandelt worden. Daher hat sich die Abstimmung des „Asyl-Pakets“ bis heute verzögert. Leitartikel Politik Studien

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