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Luisa Elleser © Privat, Zeichnung: MiG

Volle Teller, leere Netze

Wie Europas Fischhunger Flucht antreibt

Überfischung vor der Küste Senegals und Gambias zerstört Existenzen – und treibt Menschen in die Migration. Ein Blick auf die unsichtbaren Folgen europäischer Fischereipolitik.

Von Dienstag, 02.12.2025, 12:32 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 02.12.2025, 12:32 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

An den Küsten Senegals und Gambias war der Fischfang jahrzehntelang Lebensgrundlage ganzer Gemeinschaften. Doch wo einst Boote mit Fischen vielerlei Art befüllt zurückkehrten, bleiben heute viele Netze leer. Während in europäischen Supermärkten Thunfisch, Hering und Fischstäbchen zu günstigsten Preisen angeboten sind, kämpfen westafrikanische Fischer ums Überleben. Was als wirtschaftliche Chance begann, ist zu einem Kreislauf doppelter Ausbeutung geworden – einer, der Menschen durch maritime Ausbeutung aus ihrer Heimat vertreibt und sie später als billige Arbeitskräfte in Europas Ernährungssystem wieder auffängt.

Seit den 1970er-Jahren schließen die EU und andere Industriestaaten Fangabkommen mit westafrikanischen Ländern. Offiziell sollen diese Partnerschaften legale Fischerei sichern sowie wirtschaftliche Entwicklung bei einem nachhaltigen Umgang mit Ressourcen fördern. In der Realität profitieren jedoch meist die europäischen Industrienationen, während lokale Fischer leer ausgehen.

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Trotz festgelegter Quoten und Lizenzgebühren fischen EU-Trawler in den produktiven Gewässern vor Westafrika weit mehr, als die Meere hergeben. Studien zufolge sind die Fischbestände an der westafrikanischen Küste in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen – menschengemachter Klimawandel trägt durch Erwärmung und Versauerung des Wassers bei, aber eben auch die massive Überfischung der See. Lokale Fischer können mit den hochgerüsteten Flotten aus Europa und Asien nicht mithalten – die Folgen sind fehlende Einnahmen und fehlende Perspektiven.

Überfischung und illegale Fischerei

In den atlantischen Gewässern operieren regelmäßig illegale, unregulierte und undokumentierte Fischereiflotten (kurz: IUU für Englisch: „illegal, unreported and undocumented fishing“) – häufig aus China, aber auch mit europäischer Beteiligung oder indirekter Subventionierung. Diese Schiffe fischen oft nachts, mit abgeschalteten Ortungssystemen, und zerstören mit Grundschleppnetzen Laichgebiete und Seegraswiesen, die für die Regeneration der Bestände überlebenswichtig sind.

Studien zufolge beträgt der Anteil IUUs in Westafrika 40 Prozent – mehr als in jeder anderen Region der Welt. Und während industrielle Trawler dank modernster Technik und Ausrüstung tonnenweise Fisch abtransportieren, bleiben die Netze der lokalen Fischer leer und sie kehren in ihren bunten Pirogen ohne Fang zurück.

„Viele junge Männer aus Gambia und Senegal sehen keine Zukunft mehr in ihrer Heimat. Sie machen sich auf den Weg nach Norden. Für viele endet diese Flucht auf der tödlichsten Migrationsroute der Welt: der Atlantikroute. „

Gambia spezifisch besitzt zudem keine wirksamen Mechanismen, um diese Verstöße zu ahnden. Während andere Regierungen in der Region auf nationaler Ebene Maßnahmenpläne gegen die IUU-Fischerei und Überwachungs- und Kontrollmechanismen entwickelt haben und lokale Fischerei aktiv fördern, hat Gambia nichts dergleichen unternommen. Damit steht das kleinste Land Afrikas nahezu schutz- und machtlos gegenüber der maritimen Ausbeutung vonseiten europäischer und asiatischer Akteure. Zudem sind die Bestimmungen zu den Fanggebieten unübersichtlich und missverständlich, was wiederholt zu Auseinandersetzungen auf See zwischen einheimischen Fischern und den Industrieflotten führt.

Es entsteht ein Teufelskreis: Die Bevölkerung verliert ihre Lebensgrundlage, während internationale Flotten ungestraft weiterfischen. Viele junge Männer aus Gambia und dessen „großen Bruder“ Senegal – deren Familien seit Generationen vom Meer leben – sehen keine Zukunft mehr in ihrer Heimat. Sie machen sich auf den Weg nach Norden. Für viele endet diese Flucht auf der tödlichsten Migrationsroute der Welt: der Atlantikroute. Über 10.000 Menschen starben im vergangenen Jahr auf dem Weg nach Europa – 30 an einem einzigen Tag.

Migration als letzte Option?

Wenn das Meer leer ist, bleibt für viele nur die Migration – sie präsentiert sich für viele junge Männer als die einzige verbleibende Möglichkeit, ihre Familien zu ernähren. Anders als in europäischen Medien oft dargestellt, ist sie oft kein individueller Wunsch auf Wohlstand in Europa – sie ist das Ergebnis eines globalen Systems, das Wohlstand ungleich verteilt. Sie ist Flucht vor Ungleichheit und Perspektivlosigkeit.

„Solange europäische Konsumstandards auf Kosten anderer bestehen, bleibt Migration für viele logische Konsequenz.“

Absurderweise sind die Länder, in denen viele von ihnen landen, genau jene, deren Fischereipolitik ihre Existenzgrundlagen zerstört haben. Dort werden sie oft in der Landwirtschaft oder der Nahrungsmittelindustrie beschäftigt – in Sektoren, die ebenfalls von Ausbeutung geprägt sind. So zum Beispiel gelangen viele Migrant:Innen ohne Schutzstatus in die Fänge der Agromafia in Süditalien, wo sie in prekären Hausungen wohnen und bei einem Stundensatz von zwei Euro bis zu 16 Stunden am Tag in der heißen Sonne schuften – ohne jegliche Rechte und Absicherung. Der Kreislauf der Ungerechtigkeit schließt sich auf perverse Weise: Wer durch Europas Fischhunger vertrieben wurde, sichert nun durch seine billige Arbeitskraft billige Preise im europäischen Supermarkt.

Ein Kreislauf der Verantwortung

Die Geschichte zeigt, wie eng globale Ernährungssysteme, Handelspolitik und Migration verflochten sind. Europas Nachfrage nach billigen Lebensmitteln produziert anderswo Ausbeutung und Armut – und zieht auf grausam-ironische Weise genau jene Betroffenen wieder in ihr Netz.

Solange europäische Konsumstandards auf Kosten anderer bestehen, bleibt Migration für viele logische Konsequenz. Für ein gerechteres Ernährungssystem müsste mehr geleistet werden als leere Nachhaltigkeitsrhetorik: Es müsste Verantwortung entlang der gesamten Lieferkette übernehmen werden, um ökologische und soziale Ausbeutung zu verhindern. Weder unser Fischfilet noch die Pasta al Pomodoro sollten den bitteren Geschmack von Raubbau haben. Meinung

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