
Verwaltungsgericht Berlin
Bundesregierung muss Afghanen mit Zusage Visa erteilen
Die Bundesregierung will das Aufnahmeprogramm für gefährdete Afghanen beenden. Einige der Betroffenen haben aber bereits eine Zusage. Eine Gerichtsentscheidung zwingt nun zum Handeln. Die Kritik ist scharf. Pro Asyl sieht sogar Straftat erfüllt.
Dienstag, 08.07.2025, 16:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 08.07.2025, 16:30 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Weitere Schlappe vor Gericht für die neue Bundesregierung: Das Auswärtige Amt muss einer Afghanin und ihrer Familie Visa zur Einreise nach Deutschland erteilen, nachdem entsprechende Zusagen gemacht wurden. Das hat das Verwaltungsgericht Berlin in einem Eilverfahren im Streit um das Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen entschieden, wie eine Gerichtssprecherin mitteilte. (Az.: VG 8 L 290/25)
Die Bundesregierung habe sich „durch bestandskräftige, nicht widerrufene Aufnahmebescheide rechtlich zur Aufnahme gebunden“, erklärten die Richter zur Begründung. „Von dieser freiwillig eingegangen Bindung“ könne sich Deutschland nicht lösen.
Damit war der Eilantrag der Juradozentin und ihrer 13 Familienangehörigen, die in Pakistan auf Visa warten, in erster Instanz erfolgreich. Das Auswärtige Amt ist nach der Entscheidung laut Gerichtssprecherin verpflichtet, sofort zu handeln. Gegen den Beschluss kann jedoch Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt werden. Sollte die Behörde das tun, könnte es zu Verzögerungen kommen.
Vereinbarung im Koalitionsvertrag
In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich CDU, CSU und SPD darauf geeinigt, keine neuen freiwilligen Aufnahmeprogramme des Bundes für bestimmte Gruppen von Schutzbedürftigen mehr zu starten. Auch die Beendigung des Aufnahmeprogramms für Afghanen wurde darin als Ziel formuliert. Dass zumindest einige der Politikerinnen und Politiker, die an den Koalitionsverhandlungen beteiligt waren, Zweifel hatten, dass dies vor Gericht Bestand haben würde, lässt sich allerdings schon an der Formulierung im Koalitionsvertrag ablesen. Darin heißt es: „Wir werden freiwillige Bundesaufnahmeprogramme soweit wie möglich beenden (zum Beispiel Afghanistan) und keine neuen Programme auflegen.“
Für das Bundesinnenministerium, das das Aufnahmeprogramm gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt verantwortet, ist dies nun binnen weniger Wochen die zweite Niederlage vor Gericht im Kontext der sogenannten „Migrationswende“ der neuen Bundesregierung, die für Schlagzeilen sorgt. Anfang Juni hatte eine andere Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts die Zurückweisung dreier Asylsuchender aus Somalia nach Polen für rechtswidrig erklärt.
Aus dem Auswärtigen Amt, das für die Visaerteilung zuständig ist, heißt es, man habe den Beschluss des Verwaltungsgerichts zur Kenntnis genommen. Dieser sei noch nicht rechtskräftig und werde derzeit von der Bundesregierung geprüft.
Richter: Bundesregierung kann Programm beenden
Die Richter betonen in ihrem Beschluss, dass die Bundesregierung frei darüber entscheiden kann, ob sie das Aufnahmeverfahren für afghanische Staatsangehörige beenden will – oder unter welchen Voraussetzungen eine Fortsetzung denkbar ist. Auch könne sie von neuen Aufnahmezusagen absehen. Im vorliegenden Fall könnten sich die Betroffenen jedoch auf die bereits gemachten Zusagen berufen.
Bei der Frau und ihrer Familie seien Aufnahmezusagen bestandskräftig geworden, so die zuständige 8. Kammer. Zudem erfüllten die Betroffenen die Voraussetzungen für ein Visum: Es seien keine Sicherheitsbedenken ersichtlich, und die Identität der Menschen sei geklärt. Der Familie droht nach eigenen Angaben die Abschiebung aus Pakistan nach Afghanistan, wo ihr Leben unter der Herrschaft der Taliban gefährdet sei. Dies wurde aus Sicht des Gerichts glaubhaft dargestellt.
Verschiedene Programm nach Machtübernahme
Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden verschiedene Aufnahmeverfahren für Menschen aus Afghanistan eingerichtet. Ursprünglich hatte die Ampel-Koalition geplant, ihre Ausreise nach Deutschland noch während der laufenden Legislaturperiode zu organisieren.
Daraus wurde dann auch deshalb nichts, weil es nach dem Ausscheiden der FDP aus der Koalition vorgezogene Neuwahlen gab. Der vorerst letzte von der Bundesregierung organisierte Charterflug für Menschen aus dem Bundesaufnahmeprogramm landete am 16. April in Leipzig.
Die neue Bundesregierung von Union und SPD stoppte die Programme dann Anfang Mai. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes vom 20. Juni warten rund 2.400 Menschen in Pakistan darauf, dass sie ein Visum bekommen. Zu ihnen gehörten ehemalige Ortskräfte, Menschenrechtsaktivisten, Kulturschaffende und Journalistinnen, die von den Taliban bedroht wurden, sowie Angehörige verletzlicher Gruppen wie alleinstehende Frauen und Homosexuelle.
Gericht macht keine Aussagen zu Charterflügen
Betroffen davon sind nach den Angaben etwa Menschen, die sich für Gleichberechtigung und Demokratie eingesetzt haben. Auch Richter, Journalistinnen oder Künstler zählten zu den Betroffenen.
Eine Aussage dazu, ob die Bundesregierung weitere Charterflüge nach Deutschland für die Betroffenen organisieren muss, hat das Gericht nicht getroffen. Womöglich müsste die Reise nach Deutschland also von den Afghaninnen und Afghanen mit Aufnahmezusage selbst organisiert und finanziert werden. Das könnte schwierig werden, da viele von ihnen durch die lange Wartezeit in Pakistan keine finanziellen Ressourcen mehr haben.
Organisation will Fortsetzung erzwingen
Mit zahlreichen Klagen will die Organisation „Kabul Luftbrücke“ die Fortsetzung des Aufnahmeprogramms für besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen erzwingen. Die Betroffenen hätten ihre Heimat verlassen im Vertrauen auf deutsche Versprechen, erklärte Sprecherin Eva Beyer im Juni, als die ersten 26 Verfahren in Berlin eingereicht wurden.
Der aktuelle Gerichtsbeschluss sei nicht nur eine Einzelfallentscheidung, hieß es von der Organisation. Die Richter stellten grundsätzlich klar: „Die Bundesregierung ist rechtlich verpflichtet, die Zusagen umzusetzen, und zwar schnell. Ansonsten drohen Schäden, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können.“
Dem Gericht liegen nach eigenen Angaben schätzungsweise etwa 40 Fälle als Eilanträge und Klagen zu der Thematik vor. Diese seien aber unterschiedlich gelagert, erklärte die Gerichtssprecherin. Über die Verfahren müssten jeweils unterschiedliche Kammern entscheiden. Es sei unklar, wann dies geschehe. Offen ist auch, ob die anderen Richterinnen und Richter die gleiche Auffassung vertreten wie aktuell die 8. Kammer.
Pro Asyl: Widerruf der Aufnahme von Afghanen ist strafbar
Einem Rechtsgutachten zufolge macht sich die Bundesregierung bei einer weiteren Aussetzung der Aufnahme von gefährdeten Afghaninnen und Afghanen mit Aufnahmezusage strafbar. Die Vereine Pro Asyl und Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte stellten am Dienstag das entsprechende Gutachten vor. Außenminister Johann Wadephul (CDU) und Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) sowie die verantwortlichen Personen beteiligter Behörden könnten angeklagt werden, sagte der Berliner Rechtsanwalt Robert Brockhaus.
Zum Vorwurf könnten die Straftatbestände der Aussetzung eines Menschen in hilfloser Lage (Strafgesetzbuch Paragraf 221), der versuchten schweren Aussetzung oder der unterlassenen Hilfeleistung (Paragraf 323c) gemacht werden, erklärte Brockhaus. Das Strafmaß bei Aussetzung liege bei einer Freiheitsstrafe zwischen drei Monaten und fünf Jahren. Sollte die Staatsanwaltschaft eine Anklage wagen, sei möglicherweise eine Freiheitsstrafe zu erwarten, die zur Bewährung ausgesetzt werde.
Deutschland habe gegenüber den afghanischen Ortskräften deutscher Behörden und Organisationen sowie gegenüber besonders gefährdeten Afghaninnen und Afghanen eine Garantenpflicht übernommen, begründete Brockhaus ähnlich wie das Berliner Verwaltungsgericht. Diese ergebe sich aus den Aufnahmezusagen der vorherigen Bundesregierungen und den tatsächlichen Aufnahmen. Die jeweilige Bundesregierung habe dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie sich verantwortlich fühle. Eine Garantenpflicht sei rechtlich bindend.
Grüne und Linke sehen keinen Spielraum
Clara Bünger, Innenpolitikerin der Linksfraktion im Bundestag, sagt, der Beschluss des Gerichts fordere eine umgehende Ausstellung der Visa. „Ich erwarte daher von der Regierung alle notwendigen Schritte einzuleiten, um die Ausreisen zu ermöglichen“, erklärte Bünger. Mit Verweis auf das Rechtsgutachten sagte sie: „Jedes andere Vorgehen sei nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch rechtswidrig“.
Dem innenpolitischen Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag, Marcel Emmerich, zufolge, bestätige das Gericht, was längst offenkundig sei: „Die Bundesregierung bricht Recht, wenn sie Aufnahmezusagen für besonders schutzbedürftige Afghaninnen und Afghanen ignoriert.“ Im „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ kritisierte er die Regierung scharf: „Während Menschen auf unsere Hilfe vertrauen, verweigert die Bundesregierung Schutz und tritt ihre Zusagen mit Füßen.“ Ähnlich sieht es auch der Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik, Lars Castellucci (SPD). „Versprechen, die man gibt, sind einzuhalten“, sagte er. Das lerne jedes Kind und das gelte auch für Deutschland.
Im Netz stoßen die Gerichtsentscheidungen gegen die Flüchtlingspolitik der neuen Bundesregierung ebenfalls Reaktionen aus. Ein Nutzer schreibt auf Facebook, dass Unionspolitiker gerne von Einwanderern Einhaltung von Recht und Ordnung einforderten, selbst aber Gesetze brechen und beugen, wenn es um Durchsetzung ihrer eigenen politischen Interessen geht. (dpa/epd/mig) Leitartikel Recht
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