
Brandmuster
Staatsräson-as-usual
Die Bundesregierung setzt nach dreimonatigem Teilembargo die Waffenlieferungen an Israel wieder fort – trotz einer breiten und wachsenden Opposition in der Bevölkerung.
Von Joel Schülin Mittwoch, 03.12.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 03.12.2025, 9:26 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Auch wenn sich das partielle Waffenembargo der Bundesregierung mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Druck der westlichen Staatengemeinschaft zurückführen lässt, hatte man doch nicht wirklich daran geglaubt, dass so etwas möglich sei. Gerade nachdem Merz Netanjahu versichert hatte, man würde bei einem Staatsbesuch des israelischen Premiers ein Auge zudrücken.
Und doch erklärte Wadephul im August dieses Jahres, dass Genehmigungen von Waffen, die in Gaza eingesetzt werden, pausiert würden. Wie realistisch die Prüfung des Einsatzes deutscher Waffen in Gaza gewesen wäre, ist erstmal fraglich. Dennoch war es ein wichtiger Schritt. Und jetzt?
Mit der Waffenruhe in Gaza am 10. Oktober wurde Anfang November das Teilembargo gestoppt. Mit der Begründung, die Waffenruhe habe sich stabilisiert. Dass es weiterhin fast jeden Tag Tote im Gaza-Streifen gibt, scheint innerhalb der Grenzen dieser Stabilität zu liegen.
Wie die iranischen Angriffe auf Israel im Juni und die Waffenruhe in Gaza im Oktober beispielhaft verdeutlichten, braucht es für Deutschland nicht viel, der israelischen Regierung und dem israelischen Militär wieder volle moralische Integrität zuzusprechen.
„Dass Merz nicht die Gallionsfigur des westlichen Humanitarismus darstellt, machte er … nicht zuletzt mit dem „Drecksarbeit“-Kommentar … deutlich.“
Dass sich das israelische Militär jedoch gerade durch das Gegenteil charakterisieren lässt, angefangen mit dem Kommentar, es gibt keine Zivilist:innen in Gaza, über sexualisierte Gewalt an Palästinenser:innen bis hin zur Nutzung von Cluster-Munition im Libanon scheint für die Bundesregierung irrelevant. Die Nutzung von Cluster-Munition wurde von Israel nach ihrem Einsatz durch den Iran in Tel Aviv scharf verurteilt, weil sie Kollateralschäden provoziere.
Dass Merz nicht die Gallionsfigur des westlichen Humanitarismus darstellt, machte er unmissverständlich mit der Einladung Netanjahus trotz des internationalen Haftbefehls des IStGH und nicht zuletzt mit dem „Drecksarbeit“-Kommentar zu Israels Militäreinsatz im Iran deutlich. Und während sich die Ignoranz gegenüber Völkerrechtsbrüchen normalisiert, wird in Deutschland selbst mit dem Kampf gegen Antisemitismus ein Wir und die Anderen geschaffen, das nicht nur, aber verstärkt Menschen mit Migrationsbiografie immer wieder als Risiko definiert. Das zeigt beispielsweise Merz Mär vom Antisemitismus, der durch Geflüchtete nach Deutschland gebracht wird.
„Dass Antisemitismus trotz der hohen Zahlen rechter Straftaten kein ausschließlich rechtes Phänomen ist, wurde von verschiedenen Institutionen belegt. Seine Ursache jedoch in der Migration zu suchen, konstruiert eine falsche Realität.“
Dass Antisemitismus trotz der hohen Zahlen rechter Straftaten kein ausschließlich rechtes Phänomen ist, wurde von verschiedenen Institutionen belegt. Seine Ursache jedoch in der Migration zu suchen, konstruiert eine falsche Realität. Damit entzieht sich die Bundesregierung jeglicher Verantwortung und macht stille und offene Ressentiments und Rassismen gegenüber migrantischen Communitys salonfähig. Und schafft eine Grundlage für Polemiken, die Medieninstitutionen wie Springer oder vermeintliche TV-Experten dankend annehmen und weiterverarbeiten.
Während die Regierung also wieder auf ihrem altbewährten Staatsräson-Kurs ist, hat sich die Haltung gegenüber Gaza und gegenüber der deutschen Erinnerungskultur in der Bevölkerung jedoch immer stärker diversifiziert. Eine Erinnerungskultur, die auch migrantischen und post-migrantischen Biografien und Stimmen mehr Raum gibt.
Ein Zurück zum alten business-as-usual ist für viele Teile der Bevölkerung schon lange keine Option mehr, wie der Protest gegen die israelische Politik in Berlin dieses Jahr im September deutlich gezeigt hat. Was den Graben zwischen Politik und Gesellschaft immer weiter aufklaffen lässt – gerade für Personen, die direkt oder indirekt mit Gaza verbunden sind, ob biografisch oder solidarisch. So wurde mit dem Aktivismus der vergangenen zwei Jahre, seit Anbeginn des Krieges in Gaza 2023, ein Handlungsraum eröffnet, der so schnell nicht mehr zu schließen ist. Das lässt an die 1980er Jahre erinnern.
Damals waren es Graswurzelbewegungen, die für eine neue Erinnerungskultur kämpften, die von konservativen Politiker:innen unter anderem als Dauerbüßeraufgabe diffamiert wurde. Mit Erfolg, denn das Erinnern an den Holocaust wurde institutionalisiert und dominiert bis heute Politik, Wirtschaft, Bildung und Gesellschaft.
„Eine Regierung, die immer wieder das Bild produziert, sie stehe auf der richtigen Seite der Geschichte, während ihre Taten vom Gegenteil zeugen, schafft zwangsläufig tiefe Brüche.“
Die 2020er Jahre markieren eine neue Zäsur, in der mit der Aufarbeitung des Genozids in Namibia Anfang des 20. Jahrhunderts und dem Völkermord in Gaza Vergangenheit und Zukunft der Erinnerungsökonomie gesellschaftlich und politisch neu hinterfragt werden.
Eine Staatsräson-as-usual wird von konservativen Instanzen in der deutschen Politik zwar erzwungen, entspricht jedoch bei weitem nicht dem realen Stimmungsbild in der Bevölkerung und in Teilen der Politik. Eine Regierung, die immer wieder das Bild produziert, sie stehe auf der richtigen Seite der Geschichte, während ihre Taten vom Gegenteil zeugen, schafft zwangsläufig tiefe Brüche.
Während Merz und seine politische und mediale Gefolgschaft sich also wieder bei Netanjahu anbiedern, formiert sich in Deutschland eine diverse Opposition, der sich, auch durch Einschüchterungs- und Zensurversuche, kein Riegel mehr vorschieben lässt. (js) Meinung
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