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„St. Angela“

Zehn Jahre Streit um drei Worte: „Wir schaffen das“

Vor zehn Jahren stand Angela Merkel vor einer historischen Entscheidung: Zurückweisung oder humanitäre Krise. Sie sagte: „Wir schaffen das“. Es wurde der bekannteste und umstrittenste Satz aus 16 Jahren Kanzlerschaft. Warum?

Von Donnerstag, 21.08.2025, 12:10 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 21.08.2025, 12:13 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Die Kanzlerin ist ein wenig genervt an diesem 31. August 2015. „Gerade erst haben wir das Griechenland-Problem hinter uns, und sofort liegt das nächste Riesenthema vor der Haustür“, mault Angela Merkel im Gespräch mit ihrer Büroleiterin Beate Baumann. So zumindest erinnert sie sich selbst in ihrer vor einem Jahr erschienen Autobiografie „Freiheit“.

Gerade war bekanntgeworden, dass für das laufende Jahr nun 800.000 Flüchtlinge in Deutschland erwartet wurden. „Aber egal“, machte sie sich damals Mut. „Irgendwie werden wir auch das schaffen. Wir haben das andere ja auch geschafft.“ Baumann bestätigte sie darin: „Genau das können Sie doch auch in der Pressekonferenz sagen!“ Gemeint war die jährliche Sommerpressekonferenz in Berlin. Und da sagte Merkel es dann auch: „Wir schaffen das!“

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Hereinlassen oder humanitäre Krise

Niemand konnte damals ahnen, dass die drei Worte zur bekanntesten Aussage ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft werden würden. Im Rückblick gilt: „Der Satz hat sich geradezu ikonisch eingeprägt, weil sie als Kanzlerin, die damals auf dem Höhepunkt ihres Ansehens stand, eben auch über diese Benennungsmacht verfügte.“ So analysiert es der Politologe Karl-Rudolf Korte im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. „Es schwang ja mit: ‚Reißt euch zusammen, wir kriegen das schon irgendwie hin‘.“

Was trieb Merkel damals an? Frank Trentmann ist Professor für Geschichte am Birkbeck College der University of London und Autor der Epochenstudie „Aufbruch des Gewissens – Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute“. Das Buch ordnet die „Flüchtlingskrise“ von 2015 in die bundesdeutsche Geschichte ein. Trentmann sieht Merkels Politik weniger als das Ergebnis einer tief verankerten humanitären Einstellung, sondern eher als eine Form von Krisenmanagement.

Als Tausende Geflüchtete in Ungarn auf der Autobahn Richtung Deutschland marschiert seien, habe Merkel schlicht vor der Wahl gestanden, sie entweder hereinzulassen oder aber zurückzudrängen und damit eine humanitäre Krise und ein gewaltsames Vorgehen an der Grenze zu provozieren. „Sie hat sich damals für das kleinere Übel entschieden – ein klassisches Beispiel für ihre Art des Krisenmanagements“, sagt Trentmann der dpa. „Sie reagierte auf Ereignisse, weil sie reagieren musste.“

Eine historische Leistung der Deutschen

Gleichwohl wurde Merkel für viele Menschen im In- und Ausland zu „St. Angela“, zu einer säkularen Heiligen. „Im kollektiven Unterbewusstsein ist dank der Hilfe Merkels für die Flüchtlinge das Bild des strengen, harten Deutschen plötzlich verschwunden“, sagte damals der italienische Schriftsteller Umberto Eco („Der Name der Rose“). Das US-Magazin „Time“ kürte Merkel zur „Person of the Year“ und schrieb, Deutschland habe dank ihr seine nationalistische, militaristische und genozidale Vergangenheit endgültig abgelegt.

Aber auch Merkel-Kritiker, besonders im Ausland, stellten die deutsche Politik der offen gehaltenen Grenzen in einen Zusammenhang mit der Nazi-Vergangenheit: Demnach wollten die Deutschen der Welt aus einem Schuldkomplex heraus moralische Überlegenheit demonstrieren und sich damit reinwaschen.

Trentmann glaubt jedoch nicht, dass hinter der Willkommenskultur der Drang stand, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu sühnen. „Umfragen von damals zeigen, dass viele Helfer ihren Einsatz für erforderlich hielten, um eine gelungene Integration der Neuankömmlinge sicherzustellen.“ Die Aufnahme von 890.000 Menschen allein im Jahr 2015 sei eine historische Leistung der Deutschen, die vor der Geschichte Bestand haben werde. „Das Ausmaß der Hilfe war schon phänomenal.“

Es gab allerdings auch heftige Gegenreaktionen: Das Bundeskriminalamt registrierte 2015 mehr als 1000 Angriffe auf Flüchtlingsheime, eine Verfünffachung binnen eines Jahres.

Bundespräsident Gauck prägte den Gegen-Satz

Die „Kölner Silvesternacht“ 2015/16 mit sexuellen Übergriffen vorwiegend nordafrikanischer Männer auf Frauen markiert für viele das Ende der Willkommenskultur – auf Euphorie folgte Angst vor Kontrollverlust. Doch Trentmann verweist darauf, dass noch 2018 in einer repräsentativen Umfrage 53 Prozent der Befragten erklärt hätten, es mache sie glücklich, wenn Zuwanderer sich in ihrem Land zu Hause fühlten. 19 Prozent gaben an, dass das nicht für sie gelte.

Ähnlich sieht es Korte: „Grundsätzlich muss man festhalten, dass Merkel 2017 wiedergewählt worden ist. Die progressive Mitte ist mehrheitsfähig geblieben, also kann es keinen grundsätzlichen Dissens gegeben haben.“

In den darauffolgenden Jahren habe sich dies unter dem Eindruck von islamistischen Terroranschlägen und einer offenkundigen Überforderung insbesondere der Kommunen geändert. Korte vertritt die Ansicht, dass Merkel den Fehler gemacht hat, den Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Maß an Zuwanderung vorzugeben anstatt es mit der Gesellschaft auszuhandeln. „Das ist der entscheidende Punkt. Die Leute sind durchaus bereit, Verschiedenheit auszuhalten, aber diese Bereitschaft ist nicht unbegrenzt. Über das richtige Maß muss in einer repräsentativen Demokratie breit diskutiert und abgestimmt werden, und dieser Prozess hat in der Anfangsphase so nicht stattgefunden. Das hätte man in den Jahren nach 2015 nachholen müssen.“

Die Stimmung der Folgezeit brachte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck mit einem anderen Satz auf den Punkt: „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Das in Teilen der Bevölkerung wachsende Unbehagen über die Massenmigration ermöglichte den Aufstieg der AfD, die nach dem Ende der Euro-Krise dringend ein neues Thema benötigte.

Fast jeder hat eine Meinung zu Merkels Satz

Bis heute fordert der Merkel-Satz zur eigenen Positionierung heraus. „Wir schaffen das“ – im Rückblick richtig oder falsch? Fast jeder hat dazu eine Meinung. Trentmann glaubt aber auch, dass der Satz aufgrund seiner Mehrdeutigkeit so bekanntgeworden ist. „Was bedeutet zum Beispiel das Wort „wir“? Ist damit die Zivilgesellschaft gemeint, der Staat oder beides?“ Letztlich habe sich herausgestellt, dass viele Politiker damit vor allem die Bürgerinnen und Bürger gemeint hätten.

Der Staat dagegen habe schnell wieder in eine ganz andere Richtung gegengesteuert: Das „Asylpaket II“ vom Frühjahr 2016 hätten viele Helfer als Schlag ins Gesicht erlebt, weil damit der Familiennachzug eingeschränkt und Asylverfahren und Abschiebungen beschleunigt worden seien. In den Augen vieler Helfer sei ihr Engagement aus Berlin untergraben worden. Das habe zu einer Ernüchterung geführt, die der heutigen restriktiven Migrationspolitik den Weg bereitet habe, so Trentmann, der diese Entwicklung in seinem neuen Buch „Die blockierte Republik“ analysiert.

Die stark überalterte deutsche Gesellschaft bleibt weiterhin dringend auf Migration angewiesen. Verschiedenheit sei für Deutschland ein Muss, um zukunftsfähig zu bleiben, betont Korte. Allerdings warnt er auch: Ein Zu viel davon könne eine Gesellschaft überfordern – und letztlich systemsprengend wirken. (dpa/mig) Aktuell Panorama

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