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Die deutsche Politik vollführt eine Kehrtwende in der Israel-Politik. Das Völkerrecht findet nach über eineinhalb Jahren wieder Beachtung, sogar der Bundeskanzler findet klare Worte. Aber warum der plötzliche Umschwung?

Von Mittwoch, 11.06.2025, 11:01 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 11.06.2025, 11:01 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Liest man die letzten zwei Wochen politischer Rhetorik über Israel im Kontext der anderthalbjährigen Sehschwäche Deutschlands gegenüber den Ungerechtigkeiten in Gaza, könnte man meinen, wir sind in eine alternative Realität gerutscht.

Sätze wie ‚Verstöße gegen das Völkerrecht‘ oder Fragen nach der Sinnhaftigkeit der israelischen Kriegsführung hallen durch die bundespolitische Landschaft und sorgen mancherorts für Fraktionsgeraune. Auch Journalist:innen finden sehr klare Worte. Silke Mertins von der taz zieht beispielsweise Vergleiche zwischen der Hamas und dem israelischen Militär.

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Selbst Felix Klein, der vor nicht allzu langer Zeit die ethnischen Säuberungspläne Trumps mit den Worten „Während Sie Ihr Haus renovieren, schlafen Sie schließlich auch nicht darin“ kommentierte, schlägt sich jetzt auf die Seite der Kritiker:innen und der kürzlich stark gewachsenen Szene von Völkerrechtsverfechter:innen. Klein hätte sich mit seiner kritischen Position vor zwei Monaten wahrscheinlich selbst noch als Antisemit bezeichnen können.

„Ein Wandel, der ohne den Druck von Individuen, Organisationen, Journalist:innen und vielen anderen … nicht möglich gewesen wäre.“

Ein plötzlicher Wandel, ein guter Wandel. Ein Wandel, der ohne den Druck von Individuen, Organisationen, Journalist:innen und vielen anderen, die sich der Repressionskampagne widersetzen und laut geblieben sind, nicht möglich gewesen wäre.

„Wo einfach das humanitäre Völkerrecht jetzt wirklich verletzt wird, muss auch der deutsche Bundeskanzler dazu etwas sagen”, betont Merz in einem Interview beim WDR. In einem ZDF-Interview mit Felix Klein erklärt der Antisemitismusbeauftragte, auf die Frage hin, warum Deutschland sich erst jetzt gegen die Menschenrechtsverbrechen ausspricht (obwohl diese Verbrechen schon seit Anbeginn des Gaza-Krieges existieren) mit den folgenden Worten, ich zitiere:

„Aber trotzdem jetzt ist es natürlich nochmal ganz besonders so, weil das [gemeint sind Menschenrechtsverletzungen] jetzt mehrfach sozusagen auch der Fall ist.“

Die Füllwörter in Klein‘s und Merz‘ Argumentation sprechen Bände. Weil sie eben keinen triftigen Grund dafür liefern, warum sich Deutschland jetzt klarer gegenüber Israel positioniert. Das „wirklich“ und „mehrfach“ definiert sich nicht mehr über das Internationale Völkerrecht, d.h. über einen Gesetzestext, dem sich auch Deutschland verpflichtet hat, sondern steht für eine Rechtsauffassung nach eigenem Ermessen.

„Die Menschenrechtsverletzungen sind nicht erst vor zwei Wochen ausgebrochen.“

Die Menschenrechtsverletzungen sind nicht erst vor zwei Wochen ausgebrochen. Zweieinhalb Monate nach dem Angriff der Hamas und der israelischen Militäroffensive stellte Südafrika eine Genozidklage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof.

Auch etliche Expert:innenberichte, Untersuchungen und Berichterstattungen stellten schon früh die Verhältnismäßigkeit der israelischen Kriegsführung zur Debatte. Nicht zuletzt das Massaker an acht Angestellten der Hilfsorganisation des Roten Halbmondes im Al-Hashashin Berzirk, westlich von Rafah oder die mehr als zweimonatige Blockade von Hilfsgütern in den Gazastreifen, unterstreicht das Kontinuum von Völkerrechtsverstößen durch die IDF und die israelische Regierung.

Nichtsdestotrotz kommt scharfe Kritik erst jetzt. Pauline Jäckels von der taz definiert diesen Kurswechsel unter anderem durch die Angst des Kanzlers und seiner Entourage, sich rechtlich angreifbar zu machen. Durch die Einladung eines Kriegsverbrechers nach Deutschland bspw. oder durch Waffenlieferungen an einen Staat, der des Völkermordes bezichtigt wird. Es ist ein möglicher Grund, aber bestimmt nicht der einzige.

Schon im Januar 2024 war klar, dass Israels Kriegsführung Völkerrechtswidrigkeiten und genozidale Tendenzen aufweist, was die Bundesregierung jedoch nicht davon abhielt, weiterhin Waffen nach Israel zu schicken. Was sich verändert hat, ist der breite Konsens in der Zivilgesellschaft und der internationalen Politik, dass Israels Kriegsführung nichts mehr mit Moral und Lösungsorientierung zu tun hat, sondern darauf abzielt, Gaza dem Erdboden gleichzumachen.

Deutschland kann sich in diesem Konsens nicht mehr auf die Seite eines Kriegsverbrechers stellen, ohne dem eigenen Ruf zu schaden. Das eröffnet Möglichkeiten für Deutschland, die Grenzen der eigenen Erinnerungspolitik und deutschen Staatsräson zu reflektieren. Ohne Verstöße gegen das Völkerrecht der Gefahr von Antisemitismus unterzuordnen, sondern beide als dramatische Entwicklung zu begreifen, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt.

Dennoch lässt sich die Kehrtwende von Merz und anderen Politiker:innen im Kontext der fortlaufenden Repression und offenen Gewalt gegenüber Menschen mit einer anderen Meinung zu Gaza und Israel, wie der Nakba-Protest in Berlin am 15. Mai verdeutlicht, nur mit großer Vorsicht genießen.

„Sich nicht mitschuldig machen bei Kriegsverbrechen, aber auch keine Beziehungskrise in der Freundschaft zu Israel auslösen.“

„Nur das Minimum tun“ scheint vorerst die Strategie der Wahl in der deutschen Politik zu sein. Sich nicht mitschuldig machen bei Kriegsverbrechen, aber auch keine Beziehungskrise in der Freundschaft zu Israel auslösen. Kriegsverbrechen verurteilen, aber keinen konkreten Plan zu Waffenembargos oder Sanktionen in Angriff nehmen. Eigentlich alles so wie vorher.

Dabei scheint es bei der Kritik von Merz, Klein und vielen anderen Personen des öffentlichen Lebens, die sich plötzlich über die Ungerechtigkeiten in Gaza echauffieren, eher um die Sorge um das eigene Image zu gehen – und weniger um das Leben der Palästinenser:innen und das der israelischen Geiseln, die sich immer noch in Hamas-Gewahrsam befinden. Meinung

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  1. Levent Öztürk sagt:

    Das derzeitige Verhalten Deutschlands und der „zivilisierten“ Welt erinnert stark an die Massaker und Ermordungen von über 45.000 Zivilisten in Bosnien, wo der zivilisierte Westen als Menschenrechts-Weltmeister jahrelang lediglich als ignoranter Zuschauer fungiert hatte und beim Massaker mit 8.000 getöteten Zivilisten in Srebrenica sogar vor Ort mit niederländischen UN-Soldaten anwesend war und erst als das Werk „vollendet“ war wurde das mörderische Vorgehen der Serben „kritisiert“! Auch in Berg-Karabach das gleiche Schema: Trotz Massaker mit über 1.000 ermordeten Zivilisten in Hocali und 3 UN-Resolutionen gegen Armenien gab es das bis heute noch andauernde Wegschauen und Ignorieren der zivilisierten Menschenrechtsweltmeister. Nun in Gaza: Nachdem 60.000 Zivilisten, 17.000 Kinder, 200 Journalisten und hunderte Katastrophenhelfer ermordet wurden beginnen deutsche Medien und einige sehr wenige Politiker das Massenmorden und Töten von Zivilisten sowie das systematische Aushungern von Zivilisten durch Israel zu kritisieren. Guten Morgen Deutschland!