
Katharina Nocun im Gespräch
„Ich sehe viel Aktionismus und wenig Problemlösung“
Das Vorgehen von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) steht derzeit in der Kritik. Er hält trotz eines Gerichtsurteils an der Zurückweisung von Asylsuchenden an den Grenzen fest. Die Publizistin Katharina Nocun warnt, das Vorgehen der Union könne die politische Radikalisierung weiter befördern.
Von Nils Sandrisser Dienstag, 10.06.2025, 14:04 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 10.06.2025, 15:50 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Frau Nocun, Innenminister Dobrindt sieht sich Vorwürfen ausgesetzt, er ignoriere ein Gerichtsurteil und er spreche von einer Notlage, die es nicht gebe. Stimmen dieser Vorwürfe in ihren Augen?
Katharina Nocun: Die Migrationszahlen sind in den vergangenen Monaten zurückgegangen. Und viele Juristen sagen, dass die Zahlen überhaupt nicht rechtfertigen, von einer Notlage zu sprechen. Es müssen Gerichte entscheiden, ob Maßnahmen im Rahmen des rechtlich Zulässigen sind oder nicht. Und da braucht es einen Respekt vor demokratischen Institutionen und auch vor Gerichtsurteilen, die nicht der eigenen politischen Linie entsprechen. Ein Angriff auf Institutionen kann dazu führen, dass die normalen demokratischen Spielregeln zur Disposition gestellt werden.
Ist denn die Behauptung einer Krise in der Migration tatsächlich vorgeschoben? Immerhin haben Kommunen in der jüngsten Vergangenheit beklagt, sie könnten Neuankömmlinge kaum noch unterbringen.
Es ist vollkommen richtig, dass wir darüber sprechen, wie wir Kommunen stärker unterstützen können oder was wir bei der Integration besser machen können. Im Moment sprechen wir aber sehr viel über Grenzen, wo nach aktuellen Zahlen gar nicht mehr so viele Menschen ankommen. Ich sehe sehr viel Aktionismus und sehr wenig echte Problemlösung.
Welche Auswirkungen kann es haben, wenn man Krisen und Notlagen behauptet?
Autoritäre Regime sind permanent von Krisennarrativen durchzogen. Autoritäre Persönlichkeiten kommen in vielen Fällen an die Macht, weil erzählt wird, das Land brauche einen starken Mann oder eine starke Frau. Es ist in der Regel keinesfalls so, dass die Anhängerschaft geschlossen davon überzeugt ist, dass die Demokratie abgeschafft werden müsse. Wichtig ist also das Konstruieren eines Ausnahmezustands, der außergewöhnliche Mittel zumindest temporär rechtfertigt. Wenn demokratische Parteien auf dieses Krisennarrativ einsteigen, bestellen sie ohne Not das Feld, damit hinterher diese Erzählungen gezielt eingesetzt werden können, um die Demokratie zu destabilisieren.
Gibt es dafür Belege aus der Forschung?
Es gibt ja die Binsenweisheit, dass die Menschen am Ende das Original wählen. Und das konnte man in vergleichenden Studien aus unterschiedlichen Ländern sehr gut sehen. In den Studien hat man sich angeschaut, wie konservative Parteien auf extrem rechte oder autoritäre Strömungen reagieren, und welche Folgen das hatte. Die Konservativen haben sich am Ende des Tages oft keinen Gefallen damit getan, überspitzte Krisennarrative zu übernehmen, beispielsweise beim Thema Migration. Denn die Leute haben dann weit rechts gewählt und nicht konservativ.
Konservative Parteien haben also eine große Verantwortung dafür, dass Stimmungen nicht ins Autoritäre kippen?
Dem würde ich zustimmen. Ob eine autoritäre Wende gelingt, steht und fällt oft mit der Frage, wie sich konservative Parteien verhalten – ob es eine Abgrenzung gibt, ob Krisennarrative übernommen werden oder ob die gewaltvolle und verächtliche Sprache extremer Parteien übernommen wird. Wenn das geschieht, trägt das zur Normalisierung bei. Dann erscheint eine radikale Partei gar nicht mehr so radikal, weil das, was sie sagt, etwas abgeschwächt auch von etablierten Parteien zu hören ist. Das darf nicht passieren. Hier braucht es einen Zusammenhalt demokratischer Parteien. Eine politische Kultur, in der das Recht des Stärkeren gilt, führt dazu, dass eine Demokratie sehr fragil wird.
Sehen Sie diese Normalisierung in Deutschland bereits?
Momentan steht eine ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete vor Gericht in einem Prozess gegen Reichsbürger, die einen gewaltsamen Umsturz geplant haben sollen. Bei jeder anderen Partei wäre das Dauerthema. Bei der AfD scheinen wir das mittlerweile als normal abgespeichert zu haben. Das war vor zehn, fünfzehn Jahren aber nicht normal. Der Blick aufs große Ganze geht schnell verloren, und das ist Teil dieses Normalisierungsprozesses, den ich momentan sehr bedrohlich finde.
Parteien können sich außerdem verändern. Die Republikaner in den USA heute sind nicht mehr die Republikaner von vor 30 Jahren. Eine Partei, die einst eine Stütze der Demokratie war, wird heute als Einfallstor gesehen für einen Angriff auf diese Demokratie. Denn in jedem Wahlkampf ziehen Parteien ja auch neue Leute an, die von bestimmten Narrativen angesprochen werden.
Wie könnten demokratische Parteien besser auf die Herausforderungen von rechtsaußen reagieren?
Zur Wahrheit gehört, dass wir nicht auf Migration verzichten können, wenn wir unseren Lebensstandard halten wollen. Wir hatten in der Vergangenheit Phasen, in denen sehr viele Menschen kamen und in denen Kommunen mit großen Herausforderungen zu kämpfen hatten. Aber das AfD-Krisennarrativ geht ja viel weiter. Das erzählt ja davon, dass dieses Land kurz vor dem Zusammenbruch steht. Da wünsche ich mir eine ausgewogenere Diskussion darüber, wie wir mit Herausforderungen umgehen, ohne dass wir Artikel 1 des Grundgesetzes über Bord werfen.
Gerade im Bereich der Sozialpolitik – und da schiele ich in Richtung der SPD – wünsche ich mir viel mehr Aktivität, wenn es beispielsweise um Wohnraum, um Bildung oder Kinderbetreuung sprechen. Das sind Themen, mit denen man stärker auf einen Zusammenhalt und ein Miteinander schauen könnte, ohne überspitzte Krisennarrative zu übernehmen und Menschen gegeneinander auszuspielen, die sowieso nicht zu den Gewinnern gehören. (epd/mig) Aktuell Politik
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