
Das Auto
Nicht nur ein Fortbewegungsmittel für migrantische Familien
Wer denkt, ein Auto sei Luxus, hat den Alltag vieler migrantischer Haushalte nicht verstanden. Denn der Wagen vor der Tür ist für viele mehr als Mobilität: Er ist ein Werkzeug zum Geldsparen, zur Selbstbestimmung – und zur Familiennähe.
Dienstag, 10.06.2025, 0:52 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 11.06.2025, 13:56 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Hochwertige Familienkombis, bis unter das Dach beladen, oft mit Anhänger. Darin sitzen Familien auf der Rückreise aus der Türkei, Kroatien, Serbien oder Bosnien – oder auf dem Weg dorthin. Ihre Fahrzeuge, nicht selten Modelle renommierter deutscher Hersteller, sind häufig größer, leistungsstärker und mit großer Sorgfalt gepflegt. Geht einmal etwas kaputt, kann man sich jederzeit auf Ersatzteil-Websites verlassen, die Originalteile verschiedener Marken anbieten – darunter Mercedes Originalteile, BMW, Opel und viele weitere Automobilmarken. Für viele Beobachtende wirkt das irritierend: Wie passt ein teures Auto zum Bild von Menschen, die statistisch gesehen im Durchschnitt weniger Einkommen haben? Die Antwort ist einfach: Wer wenig hat, muss klug haushalten. Und für viele ist das Auto der Schlüssel dazu.
Ein Auto spart da, wo der Staat lückt
Bus und Bahn sind in vielen Städten teuer. Die Monatskarte für eine vierköpfige Familie kann 150 Euro oder mehr kosten. Gleichzeitig gibt es immer noch Regionen, in denen Busse selten oder gar nicht fahren. Gerade Menschen in den Außenbezirken, in großen Wohnanlagen oder Randlagen – wo viele Menschen mit Migrationsgeschichte leben – sind auf das Auto angewiesen. Wer dort wohnt, braucht Mobilität, um zur Arbeit, zur Schule, zum Arzt oder zur Behörde zu kommen. Das Auto füllt hier eine Versorgungslücke, die der öffentliche Nahverkehr offenlässt. Und nicht selten fahren Menschen auch für andere mit: Kinder, Nachbarn, Freunde – das Auto wird zum Gemeinschaftsmittel.
Familienreisen ohne Ticket-Schock
Ein weiteres Argument: die Ferien. Flüge in die Türkei, nach Bosnien oder Kroatien kosten in den Sommermonaten ein Vermögen. Für eine vierköpfige Familie sind 2.000 Euro schnell erreicht. Wer stattdessen mit dem Auto fährt, spart mehrere Hundert Euro. Gleichzeitig ist man vor Ort flexibel: Keine Mietwagenkosten, keine Abhängigkeit von anderen – klar, dafür müssen immer wieder mal Schäden repariert werden unter der Motorhaube. Gerade bei Besuchen in ländlichen Gebieten, wo Verwandte oft weit auseinander wohnen, ist das Auto unverzichtbar. Wer mit dem eigenen Fahrzeug fährt, kann Verwandte besuchen, Geschenke transportieren – und bleibt mobil. Die Fahrten selbst haben oft auch emotionalen Wert: Die Reise wird zum Ritual, zur Vorfreude, zur gemeinsamen Zeit im engen Kreis der Familie.
Auto als Ort der Autonomie
In vielen Familien mit Migrationserfahrung ist das Auto auch ein Symbol der Unabhängigkeit. Es ermöglicht nicht nur, Termine eigenständig wahrzunehmen, Kinder zur Schule zu bringen oder spontan bei Behördengängen zu erscheinen, sondern auch die Freiheit, günstig in die Heimat reisen zu können. Hinzu kommen zahlreiche weitere Vorteile im Alltag. Besonders für Frauen, die in neuen Rollen in der Familie mehr Verantwortung übernehmen, ist der Zugang zum Auto eine Voraussetzung für Selbstbestimmung.
Klischees entlarven
„Die fahren dicke Autos, aber haben angeblich kein Geld“ – solche Aussagen gehören zum Repertoire rechter Stammtischparolen. Sie verkennen, dass viele migrantische Haushalte bewusst in ein gutes Auto investieren, um langfristig Kosten zu sparen. Statt teure Urlaubsflüge, teure Nahverkehrstickets oder altersbedingte Reparaturen zu bezahlen, wird das Geld gezielt für ein solides Fahrzeug eingesetzt. Oft geschieht dies auch gemeinschaftlich: Familienmitglieder legen zusammen, kaufen gemeinsam ein Auto, das dann allen dient. Und während manche ihre Mobilität leasen, finanzieren migrantische Familien oft direkt und langfristig.
Günstig pflegen statt teuer reparieren
Dass ein Auto teuer sein muss, ist ein Mythos. Wer es pflegt, achtsam nutzt und kleinere Reparaturen selbst übernimmt, spart auf Dauer viel Geld. Gerade in migrantischen Communitys wird das Wissen um Fahrzeugpflege häufig geteilt: Ältere zeigen Jüngeren, wie man den Ölstand prüft oder Rost vermeidet. Auch in sozialen Netzwerken sind Reparaturtipps, Tauschbörsen für Ersatzteile oder Fahrgemeinschaften Alltag. So entstehen informelle Netzwerke, die nicht nur Geld sparen helfen, sondern auch soziale Bindung stärken. Viele migrantische Familien sind in der Lage, günstig und nachhaltig zu wirtschaften – und nutzen das Auto als wichtigen Teil dieser Praxis.
Mobilität als Voraussetzung für Teilhabe
Hinzu kommen zahlreiche weitere Vorteile: Ob Jobsuche, Ausbildung, Ehrenamt oder Freizeit: Wer mobil ist, kann Teil haben. Das gilt besonders für Zugewanderte, die aus Kostengründen oft nicht in zentralen Stadtteilen wohnen und seltener von flexiblen Arbeitsbedingungen profitieren. Das Auto wird zur Brücke in die Gesellschaft. Und das erklärt auch, warum es für viele migrantische Familien nicht nur ein Mittel zum Zweck ist, sondern ein Stück Alltagssicherung. Wer es sich leisten kann, wird deshalb eher an anderen Ecken sparen als an der Mobilität.
Fazit
Was für die einen wie unnötiger Luxus wirkt, ist für andere ein wichtiges Werkzeug im Alltag. Das Auto hilft migrantischen Familien, Kosten zu senken bei der Urlaubsplanung, flexibel zu bleiben und soziale Beziehungen zu pflegen. Wer genau hinschaut, erkennt darin keinen Widerspruch, sondern ein pragmatisches Konzept für Teilhabe und Autonomie. Vielleicht ist es an der Zeit, weniger zu urteilen – und mehr zu verstehen. (em) Wirtschaft
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