„Puppe mit Kriegsschaden“
UNHCR-Plakataktion über Flüchtlinge erinnert an deutsche Vergangenheit
In Deutschland wird immer wieder kontrovers über Flüchtlinge diskutiert. Dabei gerät häufig in Vergessenheit, dass Deutsche in der Vergangenheit selbst vor Krieg und Verfolgung flohen. Das UNHCR macht darauf mit einer Plakataktion aufmerksam.
Von Bettina Gabbe Sonntag, 20.08.2023, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 20.08.2023, 12:15 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
„Wir waren die letzten, die raus mussten, es war mitten in der Nacht im Februar“, erzählt Helga Lade vor dem Plakat eines Flüchtlingskindes an einer Berliner Bushaltestelle. Die 84-Jährige tauscht sich bei der Präsentation der Plakataktion des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) mit einer anderen Frau ihrer Generation und zwei jungen Frauen über ihre Fluchterlebnisse aus. „Meine Katze ist mir über die Oder nachgelaufen, auf der anderen Seite waren Tausende Flüchtlinge“, erinnert sich Lade, die im Alter von sechs Jahren aus Pommern flüchten musste.
Bei der Überquerung der zugefrorenen Oder seien Pferdewagen eingebrochen und vor ihren Augen Menschen ertrunken. „Die Schreie höre ich immer noch, es war grauenvoll“, berichtet die 84-Jährige, die später in Frankfurt am Main eine Fotoagentur gründete.
Flüchtlingsmädchen von 1945 und 2023
Auf dem Plakat an der Bushaltestelle in der Karl-Marx-Allee ist je nach Perspektive ein Flüchtlingsmädchen von 1945 und eines aus der Gegenwart mit einer Puppe im Arm zu sehen. Das UNHCR will in den kommenden Wochen mit der bundesweiten Aktion auf Parallelen zwischen Flüchtlingserfahrungen von 1945 und heute aufmerksam machen.
Karin Ehrlich floh 1945 mit ihrer Familie aus Schlesien. „Jeder hatte im besten Fall einen Koffer und vielleicht eine Puppe“, erzählt die 85-jährige Berlinerin. Nachdem ihre Mutter einen Riss im Schädel ihrer Puppe reparieren ließ, sei ein Strich wie eine Narbe geblieben: „Also hatte meine Puppe einen Kriegsschaden.“
„Irgendwann war das Kind still.“
Ehrlich erinnert sich an eine Mutter mit einem schreienden Kind auf ihrem Treck: „Irgendwann war das Kind still.“ Als der Treck einen Stopp einlegte, sei die Mutter mit dem Kind ausgestiegen und am Straßenrand zurückgeblieben. Ehrlich fragte ihre Mutter, warum sie nicht mitkäme und bekam zur Antwort, das Kind sei tot und die Frau habe es nicht allein lassen wollen. „Die Frau wusste genau, dass sie am Straßenrand erfrieren würde“, erzählt Ehrlich unter Tränen. Als sie nach vier Tagen in Berlin angekommen seien, sei das nicht das Ende gewesen, denn dort erlebten sie die Bombenangriffe auf die Stadt.
Die beiden jungen Frauen, mit denen sich die Rentnerinnen austauschen, stammen aus Syrien und dem Iran. Sie sind erst seit wenigen Jahren in Deutschland. Beide verloren in den vergangenen Monaten ein Elternteil und konnten nicht an der Beerdigung teilnehmen. „Ich konnte mich nicht von meinem Vater verabschieden“, sagt Rim Alnajjar. Aus Furcht vor Repressalien kann die 39-jährige Syrerin auch ihre Mutter in Damaskus nicht besuchen. Sie hat eine Schwester in Dubai und einen Bruder in Kanada. „Ich hätte nie gedacht, dass ich in Deutschland leben werde“, sagt die Frau, die heute in einer Bank arbeitet und mittlerweile einen deutschen Pass hat.
Erinnerung an eine nicht ferne Vergangenheit
Bei allen Unterschieden haben die vier Frauen Verlusterfahrungen gemeinsam. Die UNHCR-Plakataktion mit Fotos von damaligen und heutigen Flüchtlingen soll bundesweit daran erinnern, dass auch Deutsche in einer nicht fernen Vergangenheit Flüchtlinge waren. Insgesamt drei Bildpaare werden auf digitalen Werbeflächen zu sehen sein. Auf jeweils zwei Fotos sind vertriebene Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg und aus der heutigen Zeit abgebildet.
Johannes Tarvainen vom UNHCR sagte, die Zahl der Vertriebenen sei höher denn je: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Zahlen weiter steigen werden.“ Nach Angaben des UNHCR gibt es derzeit rund 110 Millionen Menschen weltweit. Mehr als zwei Drittel von ihnen haben demnach innerhalb des eigenen Landes nach Schutz gesucht. Die meisten der 35,3 Millionen in andere Länder geflüchteten Menschen sind in Nachbarländern untergekommen. In Deutschland haben derzeit etwas mehr als zwei Millionen Flüchtlinge Schutz gefunden. (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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