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Das Landgericht Magdeburg © Yellowcard - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link

Interview mit Edgar Franke

Bundesopferbeauftragter kritisiert Umgang von Behörden mit Terroropfern

Auch nach dem Gerichtsurteil gegen den Halle-Attentäter ist die Aufarbeitung des rassistischen Anschlags nicht abgeschlossen. Insbesondere Hinterbliebene und Betroffene benötigen weitere Unterstützung. In der Pflicht sind dabei auch Behörden und Verwaltungen, betont der Opferbeauftragte der Bundesregierung, Edgar Franke, im Gespräch. Verwaltungen seien "manchmal unsensibel".

Von Dienstag, 19.01.2021, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.01.2021, 15:34 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Im Dezember wurde der antisemitische Attentäter des Anschlags auf die Synagoge von Halle zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch für viele Opfer bleibt die Gewalttat ein Trauma. Was können Sie als Opferbeauftragter der Bundesregierung tun?

Edgar Franke: Wir werden weiter für die Überlebenden, die Verletzten und die Familien der Opfer da sein, auch noch Jahre nach diesem entsetzlichen rechtsextremistischen Terroranschlag. Sie brauchen weiterhin viel Unterstützung. Zu den Betroffenen des Anschlags von Halle und Landsberg gehören auch zahlreiche Augenzeugen, die die Tat in der Synagoge und an den anderen Tatorten miterleben mussten. Mit vielen Betroffenen habe ich mich getroffen, häufig auch mehrfach. Mein Team und ich kümmern uns seit dem Anschlag um psychologische, finanzielle und praktische Hilfen.

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Die Hilfsangebote sind vielfältig: Viele Menschen, die am 9. Oktober 2019 die Synagoge in Halle besucht haben, sprechen kein Deutsch. Deshalb haben wir geklärt, welche Therapieangebote es für traumatisierte Betroffene auch auf Russisch und Englisch gibt. Wir haben auch ein rund um die Uhr erreichbares Beratungstelefon geschaltet, um jederzeit psychosoziale Unterstützung geben zu können. Alle Betroffenen des Anschlags und ihre Familien können sich weiterhin jederzeit an uns wenden. Dem Hass des Täters müssen wir die Menschlichkeit und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft entgegenhalten.

Nun ist ein Fall bekannt geworden, wo einer betroffenen polnischen Studentin von Behörden in Brandenburg das BAföG gestrichen wurde. Die junge Frau saß zum Zeitpunkt des Anschlags in der Synagoge, ist von dem Erlebten immer noch traumatisiert und kann deshalb nicht arbeiten. Nun werden ihr vom Staat finanzielle Mittel gestrichen. Was läuft da schief?

„Die Vorsitzende Richterin hat die Opfer in den Mittelpunkt gerückt, mit viel Empathie und sensiblen Nachfragen. Deshalb war dieser Prozess exemplarisch dafür, wie ein Terrorakt vor Gericht aufgearbeitet werden muss. Die Perspektive der Opfer in den Mittelpunkt zu stellen, war ein grundlegender Wandel im Vergleich zu früheren Verfahren, etwa dem NSU-Prozess. Diese Entwicklung begrüße ich ausdrücklich.“

Wir haben zu der Studentin Kontakt aufgenommen und ihr Unterstützung angeboten. Es ist klar, dass man ihr, die so unfassbar Schreckliches erlebt hat und mit dem Tod bedroht war, Zeit geben muss, das Geschehene zu verarbeiten. Das erfordert Geduld. In dieser Zeit darf sie die staatliche Unterstützung nicht verlieren. In ihrem Fall scheint jetzt eine Lösung auf gutem Weg zu sein.

Wie auch nach dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz erleben wir, dass Verwaltungen manchmal unsensibel gegenüber den Betroffenen handeln und ihre Schicksale zu wenig berücksichtigen. Bei allen Entscheidungen, in die wir mit einbezogen waren, haben wir immer darauf hingewiesen, dass man die außergewöhnlichen Umstände berücksichtigen muss. Die Behörden haben oft Entscheidungsspielräume.

Sie waren bei der Urteilsverkündung des OLG Naumburg am 21. Dezember 2020 in Magdeburg, wo der Prozess stattfand, vor Ort. Auch zuvor haben Sie mehrere Prozesstage direkt mitverfolgt. Wie bewerten Sie die gerichtliche Aufarbeitung des Anschlags?

Bei dem Prozess hat man gesehen, dass der Anschlag schreckliche Wunden hinterlassen hat. Viele Zeuginnen und Zeugen aus der Synagoge haben berichtet, wie es war, als der Attentäter minutenlang versucht hat, die Tür aufzuschießen – vor ihren Augen, sie konnten es ja auf dem Überwachungsmonitor sehen. Es bleibt ein Wunder, dass die Holztür gehalten und über 50 Menschen das Leben gerettet hat. Der Prozess war sehr wichtig für die Betroffenen, um das Geschehene verarbeiten zu können. Die Vorsitzende Richterin hat die Opfer in den Mittelpunkt gerückt, mit viel Empathie und sensiblen Nachfragen. Deshalb war dieser Prozess exemplarisch dafür, wie ein Terrorakt vor Gericht aufgearbeitet werden muss. Die Perspektive der Opfer in den Mittelpunkt zu stellen, war ein grundlegender Wandel im Vergleich zu früheren Verfahren, etwa dem NSU-Prozess. Diese Entwicklung begrüße ich ausdrücklich.

Wo sehen Sie weiteren Nachbesserungsbedarf bei der Betreuung von Opfern von Terrorakten?

Wir haben in Halle und nach den rassistischen Morden in Hanau gesehen, wie problematisch es ist, wenn materielle Schäden nicht ersetzt werden können. Wenn Geschäfte zu Tatorten werden, wie der Kiez-Döner in Halle und die Shisha-Bars in Hanau, dann bedroht das auch die wirtschaftliche Existenz der Betreiber. Ich habe mich als Opferbeauftragter dafür eingesetzt, dass es auch in solchen Fällen finanzielle Hilfen des Bundes gibt. Diese Pauschalen konnten wir rückwirkend einführen. Zudem konnten wir erreichen, dass die Reisekosten zum Prozess gegen den Attentäter von Halle teilweise vom Staat übernommen wurden, mit Beträgen von bis zu 1.200 Euro pro Person. Das war sehr wichtig, um den Nebenklägerinnen und Nebenklägern, die weiter weg leben, die Teilnahme am Prozess zu ermöglichen. Im Halle-Prozess konnten wir 22 solche Reisebeihilfen auszahlen.

Als Sie 2018 nach dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz ihr Amt als Opferbeauftragter der Bundesregierung antraten, haben Sie nicht damit gerechnet, dass auf Sie so viel Arbeit zukommt. Das ist durch eine Reihe von Gewalttaten leider nun der Fall. Welche Konsequenzen leiten Sie daraus ab?

Es ist ganz wichtig, nach einem Anschlag schnell vor Ort zu sein und sich viel Zeit zu nehmen, um immer wieder für Betroffene da zu sein. Neben mir als Bundesopferbeauftragtem gibt es mittlerweile 14 Landesopferbeauftragte oder andere zentrale Anlaufstellen, mit denen wir uns eng abstimmen. Das ist schon ein großer Fortschritt. Auch politisch hat sich viel getan: Seit dem 1. Januar 2021 müssen die Länder ein flächendeckendes Angebot an Trauma-Ambulanzen schaffen, damit Opfer von Gewalttaten schnell Zugang zu psychotherapeutischer Behandlung haben. Zudem haben wir die finanziellen Hilfen des Bundes für Verletzte und Hinterbliebene von Terroropfern deutlich erhöht.

Aber immer wieder erleben wir, dass Verwaltungsverfahren lange dauern oder Betroffenenanliegen zwischen Ämtern und Versicherungen hin und her geschoben werden, etwa wenn es um einen Rollstuhl oder eine andere Unterstützung geht. Hier wünsche ich mir mehr Aufmerksamkeit und höhere Priorität für die Betroffenen. Terroropfer werden stellvertretend für unsere ganze Gesellschaft getroffen. Ihre Unterstützung muss im Mittelpunkt stehen. (epd/mig) Aktuell Interview Panorama

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