Warschauer Ghetto, Juden, Konzentrationslager, Nationalsozialismus
Von Bundesarchiv, Bild 101I-134-0771A-39 / Zermin / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, Link

"Todesurteil in der Tasche"

Vor 75 Jahren: Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto

Wenige Hundert jüdische Kämpfer greifen 1943 im Warschauer Ghetto zu den Waffen. Sie widersetzen sich dem Transport in die Vernichtungslager. Von Dirk Baas

Donnerstag, 19.04.2018, 6:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 19.04.2018, 22:07 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Im Juli 1942 beginnen die deutschen Besatzer, das Warschauer Ghetto zu räumen. Bis Ende September haben sie bereits rund 260.000 Juden aus dem ummauerten Sperrbezirk in das Vernichtungslager Treblinka gebracht und ermordet. Und das Töten geht weiter. Da fallen am frühen Morgen des 19. April 1943 plötzlich Schüsse: Jüdische Freiheitskämpfer sagen den Besatzern den Kampf an.

Sie wehren sich gegen den Abtransport der insgesamt noch rund 60.000 im Ghetto lebenden Juden in die NS-Vernichtungslager. Mit Pistolen, Gewehren und Molotow-Cocktails attackieren die meist nur schlecht ausgebildeten Kämpfer die gepanzerten Fahrzeuge der Truppen. Polizei und SS ziehen sich nach verlustreichen vier Tagen zunächst zurück, stellen die Deportationen vorübergehend ein. Die Kämpfer jubeln: Auf einem Hausdach hissen sie eine Fahne mit dem Davidstern und auch die polnische Nationalflagge.

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„Der Traum meines Lebens ist endlich wahr geworden. Die Selbstverteidigung im Ghetto wurde Realität. Jüdischer bewaffneter Widerstand und Rache sind Tatsachen“, schrieb Mordechai Anielewicz (1919-1943), Kommandant der Aufständischen, in einem Brief. „Ich war Zeuge dieses großartigen, heroischen Kampfes von jüdischen Männern in der Schlacht.“ Doch auch ihm war klar: „Die Verbliebenen werden früher oder später sterben. Ihr Schicksal ist entschieden.“

Der erste städtische Volksaufstand

Anfangs ging die Guerillataktik der Partisanen auf, heimlich versorgt mit Waffen, Munition und Sprengstoff von der polnischen Untergrundorganisation „Heimatarmee“. Zudem hatten sie zuvor Verstecke und Bunker im Ghettodistrikt ausgebaut und Zugänge zur Kanalisation geschaffen.

Info: Christoph Dieckmann/Babette Quinkert (Hrsg.): Im Ghetto 1939-1945. Neue Forschungen zu Alltag und Umfeld (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 25), Wallstein Verlag, Göttingen 2009. 20 Euro Ainsztein, Reuben: Revolte gegen die Vernichtung. Der Aufstand im Warschauer Ghetto, Assoziation A. Berlin 1993. 12,50 Euro Marek Edelmann, Paula Sawicka: Die Liebe im Ghetto, Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013.

„Das war der erste städtische Volksaufstand im nationalsozialistisch besetzten Europa“, heißt es auf der Homepage der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Und, so schrieb später Marek Edelmann, einer der ganz wenigen Überlebenden: „Der erste Tag des Aufstandes gilt als der erste vollkommene Sieg über die Deutschen.“

„Es ging nur darum, die Art des Sterbens zu wählen“

Erst Ende 1942 war es gelungen, mehrere jüdische Untergrundorganisationen zu vereinen und eine Kommission zur Koordinierung des Widerstands zu bilden. „Es ging nur darum, die Art des Sterbens zu wählen“, sagte Marek Edelmann kurz vor seinem Tod 2009. „Es ging darum, sich nicht abschlachten zu lassen. (…) Es ist eine große Sache, wenn man ohne Kraft und Hoffnung kämpft.“

Die hinter dem Widerstand stehende Organisation „Zydowska Organizacja Bojowa“ (ZOB) war aus drei zionistischen Jugendbewegungen und der Partei „Poale Zion“ entstanden. Zu ihrem Anführer wurde der 24-jährige Mordechai Anielewicz ernannt. Ihm gelang es zwar, die Aufständischen zunächst im Häuserkampf zu halten. Aber: „Der Kampf der schlecht ausgerüsteten Aufständischen war ebenso verzweifelt wie aussichtslos“, schreibt der Historiker Arnulf Scriba – David hatte gegen Goliath keine Chance.

„Das Ghetto brennt“

Knapp vier Wochen lang gelang es den Juden dennoch, ihre Verstecke gegen mehr als zwei Bataillone der SS zu halten. Die Deutschen änderten daraufhin ihr Vorgehen, fluteten Keller und Kanäle mit Wasser oder Gas. Auch setzten sie Flammenwerfer ein und steckten ganze Straßenzüge an. Aus dem Tagebuch einer jungen Frau, deren Schicksal ungeklärt ist: „Das Ghetto brennt den vierten Tag. Man sieht nur noch die Kamine und die Skelette ausgebrannter Häuser. (…) Wir leben diesen Tag, diese Stunde, diesen Augenblick.“

Emanuel Ringelblum (1900-1944), Chronist des Ghettos, gab die düstere Stimmung der Eingeschlossenen wieder: „Wir brauchen uns keine Gedanken um unser Überleben zu machen, denn jeder von uns trägt sein Todesurteil bereits in der Tasche. Wir sollten besser daran denken, mit Würde zu sterben, im Kampf zu sterben.“

„Nachweislich vernichtet“

An der Mila-Straße 18 befand sich der Kommandobunker der Kämpfer. Am 8. Mai 1943 umzingelten die Deutschen den Gefechtsstand. Anielewicz und sein Stab saßen in der Falle. Die Eingeschlossenen begingen vermutlich Suizid. Marek Edelmann war nicht dort. Er führte den Aufstand weiter und konnte am 10. Mai mit einer Gruppe von 40 Kampfgenossen durch die Kanalisation fliehen.

SS-Generalleutnant Jürgen Stroop, 1951 zum Tode verurteilter SS- und Polizeiführer von Warschau, schlug mit mehr als 2.000 Soldaten und SS-Männern den Aufstand nach 27 Tagen nieder. Am 16. Mai notierte er in seinem 75-seitigen Bericht an SS-Chef Heinrich Himmler: „Nur durch den ununterbrochenen und unermüdlichen Einsatz sämtlicher Kräfte ist es gelungen, insgesamt 56.065 Juden zu erfassen bzw. nachweislich zu vernichten.“ Und weiter meldete er: „Das ehemalige jüdische Wohnviertel Warschau besteht nicht mehr. Mit dem Sprengen der Warschauer Synagoge wurde die Großaktion um 20.15 Uhr beendet. (…) Alles, was an Gebäuden und sonst vorhanden war, ist vernichtet.“ (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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