Die ersten Kontingent-Flüchtlinge
„Sie packten ihr ganzes Leben in ihren Koffer“
Sie sind erschöpft, einige haben Traumatisches erlebt. Die ersten 32 syrischen Flüchtlinge, die im Rahmen des Flüchtlingspaktes zwischen der Europäischen Union und der Türkei nach Deutschland geholt werden, haben Niedersachsen erreicht. Von Reimar Paul und Michael Grau
Von Reimar Paul & Michael Grau Dienstag, 05.04.2016, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 25.04.2016, 18:02 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die Uhr der Kirche St. Norbert zeigt 11.51 Uhr an, als der weiße Bus in die Einfahrt zum Grenzdurchgangslager Friedland bei Göttingen einbiegt. An Bord sind 16 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge. Drei Jahre haben die sieben Erwachsenen und neun Kinder in der Türkei gelebt. Jetzt sind sie die ersten, die im Rahmen des umstrittenen Rücknahmeabkommens zwischen der Europäischen Union und der Türkei nach Deutschland geholt werden. Am Morgen sind sie auf dem Flughafen Hannover gelandet.
Vor der Feuerwache des Lagers kommt der Bus zum Stehen. Nach dem Fahrer und Dolmetscher Samal Osman steigen zwei Frauen aus. Ihre Gesichter haben sie mit Kopftuch und Schleier verhüllt, rasch wenden sie die Köpfe von den neben dem Fahrzeug wartenden Kameraleuten ab. Auch die anderen Syrer verschwinden nach Verlassen des Busses schnell durch den Eingang des nahen Versorgungsgebäudes.
Mit Journalisten sprechen wollen die Flüchtlinge an diesem Tag nicht – einige von ihnen hätten Traumatisches erlebt, heißt es. Auch die Anwesenheit von Medienvertretern bei der kurzen Begrüßungszeremonie sei nicht erwünscht, bittet Osman um Verständnis. Die Flüchtlinge seien sehr erschöpft von der Reise, die für sie nachts um vier Uhr begonnen habe. „Während der Busfahrt haben sie die meiste Zeit geschlafen.“ Am Nachmittag machen sich noch einmal 16 Syrer aus diesem sogenannten Resettlement-Programm auf den Weg nach Friedland.
Aufgeregt, aber auch erleichtert sind sie, als sie am Flughafen in Hannover eintreffen. „Die zweite Gruppe ist etwas entspannter, weil sie nicht so früh aufstehen mussten“, sagt Corinna Wicher vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg. Gemeinsam mit zwei Kollegen, Mitarbeitern des Technischen Hilfswerks und einem Übersetzer ist sie zur Ankunftshalle gekommen und heißt die Syrer willkommen.
Für ein 16-jähriges Mädchen ist Flug TK 1551 aus Istanbul eine besondere Strapaze: Sie leidet unter Epilepsie und reist deshalb in Begleitung einer Ärztin. Unterwegs erhält sie ein Beruhigungsmittel. Mit einem Rollstuhl wird sie durch die Flughafenhalle zu dem weißen Reisebus gefahren, der sie und ihre Familie nach Friedland bringen soll.
Alle Familien wurden vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR in der Türkei ausgewählt. Vor einer Woche erhielten sie die Nachricht, dass sie nach Deutschland ausreisen können. „Sie packten ihr ganzes Leben in ihren Koffer“, sagt Corinna Wicher. Die Mütter sind in traditionelle arabische Kleider gehüllt, eine jüngere Frau zeigt sich jedoch in westlichem Outfit. Die Jungen kommen in Jeans und Kapuzenjacke, die älteren Mädchen tragen Kopftücher. Auch ein Flüchtlingsgegner erscheint am Flughafen und protestiert mit einem Schild gegen die Aufnahme der Syrer – er bleibt ein Einzelner.
Zunächst werden die Syrer zwei Wochen in Friedland bleiben, sagt der Leiter der Einrichtung, Heinrich Hörnschemeyer. Wenn die ersten Formalitäten erledigt sind und sie einen Gesundheitscheck absolviert haben, können die Kinder bereits ab Donnerstag am Schulunterricht teilnehmen. Den Erwachsenen wird die Teilnahme an „Wegweiserkursen“ angeboten. Diese vermitteln erste Grundlagen der deutschen Sprache und informieren über Gesetze und Regeln in der Bundesrepublik.
Anders als die meisten anderen syrischen Flüchtlinge müssen die Menschen aus dem Resettlement-Programm kein Asylverfahren durchlaufen. Gleich nach ihrer Registrierung bekommen sie eine zunächst auf drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis. Von Friedland aus werden die Familien dann auf andere niedersächsische Kommunen verteilt – sie alle bleiben im Bundesland.
Bis dahin würden sie in Friedland bestens betreut, verspricht Lagerleiter Hörnschemeyer. Denn derzeit leben nur 350 Menschen in dem Lager – fast zehnmal so viele waren es während des großen Flüchtlingsandrangs im vergangenen Jahr. „Uns tut es gut, mal eine Atempause zu haben“, sagt Hörnschemeyer. Wenn es mehr Platz gebe und die Mitarbeiter weniger Stress hätten, sei das auch gut für die Flüchtlinge. (epd/mig) Gesellschaft Leitartikel
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