Roma und Sinti

„Aus dir wird ohnehin nichts“ – Bildungssituation in Deutschland

Immer wieder werden in Deutschland leidenschaftliche Debatten um die „Integration“ von Ausländern und Minderheiten geführt. Bemerkenswert ist, dass in diesen Debatten zumeist die größte Minderheit in Europa fehlt: die Roma und Sinti.

Von Dettloff, Amirpur Donnerstag, 28.07.2011, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 08.01.2020, 15:45 Uhr Lesedauer: 10 Minuten  |  

„Wenn ich so darüber nachdenke, hat der Hitler recht gemacht“, zitiert ein junger deutscher Sinto seine Englischlehrerin, die sich über ihn geärgert hatte – nachzulesen in der 2011 von Daniel Strauß, dem baden-württembergischen Vorsitzenden des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma herausgegebenen „Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma“. Es ist die erste über diese Minderheit seit dreißig Jahren. Untersucht wurde die Frage, ob für diese Bevölkerungsgruppe ein gleichberechtigter Zugang zum Bildungswesen besteht. 275 Personen aus 35 Städten und Orten wurden dazu befragt – anders als bei sonstigen Studien diesmal von eigens dazu ausgebildeten InterviewerInnen mit Sinti- oder Roma-Hintergrund.

In der Einleitung heißt es: „Immer wieder werden in Europa und in Deutschland leidenschaftliche Debatten um die „Integration“ von Ausländern und Minderheiten in die Mehrheitsgesellschaften geführt. Bemerkenswert ist, dass in diesen Debatten zumeist die größte Minderheit in Europa fehlt: die Roma und Sinti. Ungefähr zehn bis zwölf Millionen Personen leben auf diesem Kontinent. In Deutschland sind es circa 80.000 bis 120.000; hinzu kommen vermutlich 50.000 als Flüchtlinge und so genannte Arbeitsimmigranten.“

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Die Studie kommt zu einem günstigen Zeitpunkt, um Beachtung zu finden, denn soeben hat ein EU-Gipfel nationale Strategien für die bessere Integration von Roma in Bezug auf Arbeit, Wohnraum, Medizin und Bildung vereinbart.

Rassismus wirkt nachhaltig
Die eingangs erwähnte Zustimmung einer deutschen Lehrkraft zur Vernichtung der Roma und Sinti im Nationalsozialismus ist das krasseste Beispiel für Diskriminierung in der aktuellen Studie. Doch auch jenseits solcher Verhetzung wirkt die rassistische Verfolgung der „Zigeuner“ bis heute nach in einem andauernden Misstrauen der Nachfahren staatlichen Institutionen gegenüber – durchaus auch gegen Schulen. „Meine Mutter hat ja überhaupt keine Schule besucht. Mein Vater hat auch keine Schule besucht. Meine Großmutter war ja Verfolgte im Krieg und sie hat es mit erlebt, dass die Kinder damals, die Sinti- und Roma-Kinder, aus den Schulen deportiert wurden und die Kinder wurden niemals wieder gesehen“, sagt eine der Befragten.

Dabei zeigt sich auch in dieser Untersuchung: Je besser ausgebildet Eltern und Großeltern waren, desto größer der Schulerfolg der Kinder.

Das gilt für die in der Bildungsstudie untersuchte Minderheit lange in Deutschland ansässiger Sinti und Roma. Es ist auch die Erfahrung von Lehrkräften und SozialarbeiterInnen, die mit Romakindern aus Flüchtlingsfamilien zu tun haben.

Viele Befunde der Studie, so Kurt Holl, Vorstandsmitglied des Kölner Rom e.V., gelten noch potenziert für die Bildungssituation zu uns geflüchteter Roma.

„Nur über die Eltern erreichen wir die Kinder“
Nedjo Osman, selbst Roma und Mitarbeiter einer Förderschule in Köln, wo er Tanz-, Theater- und Sportunterricht gibt, weiß, wie wichtig gerade für die Kinder von zugewanderten Roma Elternarbeit ist. Darum macht er auch Hausbesuche, ebenso wie Kora Kaminski, eine Kölner Diplompädagogin mit mazedonischen Wurzeln, die sich im Rahmen der Sozialpädagogischen Familienhilfe des Deutschen Roten Kreuzes für Kinder geflüchteter Roma engagiert: „Nur über die Eltern erreichen wir die Kinder.“ Darüber hinaus ist die persönliche Zuwendung der Lehrkräfte entscheidend. Kinder, die sich nicht angenommen oder gar abgelehnt fühlen, lernen nachweislich schlechter. Umgekehrt kann gute Förderung wahre Wunder bewirken. Kaminski berichtet von einem zehnjährigen Roma-Mädchen aus Mazedonien, das kaum deutsche Sprachkenntnisse besaß und von ihrer Hauptschullehrerin bald nach der Einschulung in eine Förderschule abgeschoben werden sollte: „Das Mädchen wollte alles, was es wusste, sofort präsentieren und rief ständig laut in die Klasse. Damit kam die Lehrerin gar nicht zurecht.“ Kaminski intervenierte, führte Gespräche mit der Lehrerin und den Mitarbeitern im Hort, die das Kind bei den Hausaufgaben unterstützten. Nach vier Monaten zeigten sich Erfolge. „Im Moment“, erzählt Kora Kaminski, „liest sie wie besessen und lernt und lernt, und das Thema Förderschule ist erst mal vom Tisch.“

„Aus dir wird sowieso nichts?“
Laut Studie ist eine zugewandte Förderung durch Lehrkräfte sogar für Kinder deutscher Sinti nicht die Regel. So erinnert sich eine Befragte: „Wenn ein deutsches Kind sagte, dass es etwas nicht verstanden hätte, dann haben die Lehrer sofort geholfen. Bei mir nicht.“ Oder es wurde bemerkt: „Aus dir wird ohnehin nichts.“

Solche Zurückweisung, weiß Nedjo Osman aus seiner Arbeit mit erst kürzlich zugewanderten Roma-Kindern, produziert geradezu schulischen Misserfolg: „Die Motivation geht flöten. Ich sage den Kindern zwar immer, wie wichtig es ist, zur Schule zu gehen. Aber ich höre oft: Weißt du was – die denken sowieso, wir sind Roma und wir sind schlecht.“ Kora Kaminski bestätigt, es werde zum Beispiel leicht unterstellt, Roma-Kinder benutzten nur faule Ausreden, wenn sie an ihren Feiertagen schulfrei haben möchten. Das orthodoxe Weihnachtsfest etwa wird in Mazedonien und Serbien später gefeiert als bei Katholiken und Protestanten. Dann heißt es oft: „Wieso? Es ist doch gar nicht Weihnachten!“ Da müsse sie erst einmal Aufklärungsarbeit bei den PädagogInnen leisten.

Überdurchschnittlich viele Roma-und Sinti-Kinder landen auf Förderschulen. Von den in der Bildungsstudie Befragten waren es 10,7 Prozent im Vergleich zu 4,9 Prozent aller SchülerInnen in der Bundesrepublik. Nur 2,3 Prozent hingegen besuchten ein Gymnasium im Vergleich zu 24,4 Prozent der Mehrheitsbevölkerung mit Hochschulreife (in der Altersgruppe der 20-25-Jährigen sind es sogar über 40 Prozent). Eine Untersuchung über die Bildungssituation von Roma-Kindern aus Flüchtlingsfamilien liegt nicht vor.

Nicht lernbehindert, sondern lernverhindert
Der Pädagoge Christoph Schulenkorf, Lehrer am Kölner Schulprojekt für Roma-Kinder aus Flüchtlingsfamilien „Amaro Kher“, kennt die Problematik aus seiner langjährigen Erfahrung mit dieser Bevölkerungsgruppe: „Wir haben auch Kinder, die erst mit 8 bis 11 Jahren zu uns in die Schule kommen. Sie haben, wenn sie auf deutsche Schulen kommen, immer einen Rückstand von ein bis zwei Jahren gegenüber anderen Kindern. Das heißt, sie haben den Stand von Kindern mit einer Lernstörung, sind aber eigentlich nicht lernbehindert – sie sind im Grunde verhindert im Lernen. Aber sie müssen dann auf Förderschulen, weil das normale Schulsystem ihnen keine Möglichkeiten bietet.“ Im Projekt „Amaro Kher“ wird individuelle Förderung groß geschrieben. Es gibt allerdings auch entsprechend kleine Lerngruppen, so dass die Aufgabe für die LehrerInnen zu bewältigen ist.

Hier werden besonders benachteiligte Flüchtlingskinder auf Regelschulen vorbereitet. Deren gravierende Lernprobleme ergeben sich vor allem aus ihrer schwierigen sozialen Situation. Vorurteilen von der Art, Roma-Kinder seien „bildungsunfähig“, tritt Schulenkorf entschieden entgegen: „Die Kinder, die wir betreuen, leben in Verhältnissen, die bildungsstörend, bildungshemmend oder bildungsverhindernd sind. Sie wohnen in Flüchtlingsheimen mit vielen anderen Familien auf viel zu engem Raum. Der Lärm und diese Enge verhindern bei den Kindern eine gesunde Entwicklung und auch eine gesunde Lernentwicklung. Und erst, wenn die Kinder aus diesen Verhältnissen heraus kommen, ergeben sich Möglichkeiten für Bildung. Wir arbeiten mit einem Kinderarzt zusammen, der die Familien zum Teil seit fünfzehn, zwanzig Jahren kennt. Er stellt fest, die Entwicklung der Kinder sei bis zum Eintritt in „Amaro Kher“ häufig desaströs gewesen. Erst durch „Amaro Kher“ komme eine einigermaßen gesunde Entwicklung zustande. Das heißt, Wachstum und Gewichtszunahme entwickelten sich wieder normal.“

Kranke und gekränkte lernen schlechter
Kora Kaminski, die auch in der Integrationsagentur Gesundheit des Deutschen Roten Kreuzes tätig ist, bestätigt: „Diese Kinder sind aufgrund ihrer unhygienischen Wohnverhältnisse oft krank. Dann versäumen sie den Unterricht. In den Heimen sind kalte Flure, schmutzige Räume, Schimmel. Das macht sie anfällig für Infektionen, für Erkältungen. Sie haben häufig Mandelentzündungen, husten ganz viel, und die Zahngesundheit ist ein Riesenproblem. Ein Kind mit Zahnschmerzen kann dem Schulunterricht nicht folgen.“ Darüber hinaus träten auch psychische Krankheiten bei den Kindern wie auch den Eltern vermehrt auf. Ursache sei unter anderem der Spagat zwischen der eigenen und der Mehrheitsgesellschaft. Aber Fachärzte und Therapeuten, die deren Muttersprachen sprechen, seien kaum zu finden.

Eine extreme psychische Belastung bedeutet der prekäre Aufenthaltsstatus der Betroffenen. Die meisten leben im Zustand der „Duldung“, das heißt ihnen wird nur für ein paar Wochen oder Monate ein Bleiberecht gewährt. Die Duldung muss immer wieder neu beantragt werden. Dies führt zu sogenannten Kettenduldungen oft über viele Jahre hinweg, und immer steht die Drohung einer möglichen Abschiebung im Raum. Sie haben keine Arbeitserlaubnis und müssen von den Mitteln nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leben. Lehrer Schulenkorf weiß: „Aufgrund der geringen Zahlungen noch unter Hartz-IV-Niveau, die die Familien bekommen, können sie an der Gesellschaft nicht teilnehmen und haben deswegen auch überhaupt keine Möglichkeit zu so etwas wie Integration oder wie man es nennen will. Wenn wir aber mit den Kindern arbeiten, dann merken wir plötzlich, dass da totale Potenziale bei ihnen vorhanden sind.“ Das werde auch nach der Umschulung in Regelschulen von den dortigen KollegInnen bestätigt.

„Bitte kein mitleidiges Engagement!“
An der Förderschule Rosenzweigweg in Köln schafft Nedjo Osman für die fast fünfzig Roma-Kinder gute Rahmenbedingungen, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen: „Darüber versuche ich andere Probleme zu bearbeiten: Ich versuche es über Theater, Tanz, Sport – denn die Roma-Kinder können schlecht ruhig sitzen bleiben. Viel besser geht es, wenn sie mit etwas anderem beschäftigt sind, und zwischendurch rede ich immer über ein Problem mit ihnen. Wie sie sich gegenüber den anderen Lehrern verhalten sollen oder was zu Hause los ist oder in der Straße usw.“ Während der ersten fünf Jahre war Osmans Projekt allein für Roma und Sinti da, doch seit zwei Jahren hat er eine gemischte Gruppe mit Deutschen, Türken und Roma. Diese integrative Arbeit macht dem Kulturmittler Osman Freude. Was er nicht mag, ist eine latente Diskriminierung, die er immer wieder spürt. Mitleidiges Engagement verabscheut er: „Diese Art Sympathie ist für mich Diskriminierung. Das ist für mich beleidigend. Ich brauche kein Mitleid, sondern ich brauche mein Recht und Gleichheit. Ich möchte so angesehen werden wie jeder andere Mensch.“

Auch Nedjo Osman, der für seine Schüler ein positives Rollenmodell darstellt, leidet unter dem, was die Bildungsstudie über deutsche Roma und Sinti „Akkulturationsstress“ nennt. Der „bezeichnet ein Stressempfinden, das durch eine herkunftsbezogene Ablehnung ausgelöst wird, die durch ein Zusammenspiel von Rassismus, Vorurteilen und Diskriminierung bestimmt ist. Diese Ablehnung schlägt sich in der Beschränkung von Entwicklungschancen und dem Vorenthalten von schulischen oder beruflichen Karrierewegen nieder und konkretisiert sich im Anzweifeln von Kompetenzen, Verweigerung von Anerkennung, sozialen Abwertungen und Benachteiligungen hinsichtlich aller Formen gerechter Gleichbehandlung.“

Download: Die „ Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma“ (PDF) kann aus dem Netz heruntergeladen werden.

Osman ist als Schauspieler und Theaterwissenschaftler ausgebildet und erhält auch Rollen in Spielfilmen. Es ärgert ihn, dass er immer wieder ein und dieselbe Rolle darzustellen hat: „Ich spiele immer nur Kriminelle. Ich bin Mafia-Spezialist. Aber ich bin nicht als Mafioso geboren. Ich habe nicht nur Talent für Mafia-Rollen.“

Als Roma sichtbar
Mit Hindernissen ähnlicher Art haben Nachfahren geflüchteter Roma etwa aus Ex-Jugoslawien, Rumänien oder Bulgarien noch stärker zu kämpfen. Akkulturationsstress, so die Bildungsforscher, kann zu massiven Beeinträchtigungen der körperlichen und seelischen Gesundheit, aber auch der geistigen Entwicklung führen.

Massive Diskriminierung erfährt „Amaro Kher“-Lehrer Christoph Schulenkorf, wenn er mit seinen SchülerInnen Ausflüge unternimmt: „Jeder sieht: das sind Roma. Und dementsprechend werden sie angeguckt. Leute rücken weg, Leute tuscheln – es ist die Alltagsdiskriminierung, unter der sie unsäglich leiden. Man kann als Roma-Familie nicht irgendwo hin gehen, ohne als solche identifiziert zu werden. Zumindest bezieht sich das auf die Roma, die wir betreuen. Es gibt natürlich ganz viele andere Roma-Familien auch in Köln, von denen kein Mensch weiß, dass es Roma sind. Das sind mehrere Tausend – die haben sich so angepasst und integriert, die sagen ihren Kindern: Sagt an den Schulen niemals, dass ihr Roma-Kinder seid, sagt euren Freunden nicht, dass ihr Roma-Kinder seid, dann habt ihr eine Chance.“

Zu den Empfehlungen der Bildungsstudie zählen u.a.: gezielte Fördermaßnahmen zur tatsächlichen Gleichstellung, Überzeugungsarbeit in der Minderheit für einen „Bildungsaufbruch“, sichtbares Engagement von Personen des öffentlichen Lebens für Sinti und Roma und eine individuelle Bildungsförderung, die an die Lebenswelten von Sinti und Roma anknüpft.

Herausgeber Daniel Strauß will die Untersuchungsergebnisse nun der Kinderkommission des Deutschen Bundestags vorlegen. Von den Befragten haben 44 % keinen Schulabschluss und nur 15 % eine Berufsausbildung – das sind alarmierende Befunde. Strauß verlangt einen nationalen Aktionsplan, um das Menschenrecht auf Bildung endlich auch für Roma und Sinti in Deutschland zu verwirklichen. Gesellschaft Leitartikel Studien

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  1. saggse sagt:

    Ein interessantes Interview zu diesem Thema kam auf d-radio:
    http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1367479/

  2. Es ist erschreckend wie Bildungsmöglichkeiten verbaut werden und dann die daraus resultierende mangelnde Bildung selbst wiederum zum Anlass für Stigmatisierung genommen wird.

    Ein perfides Spiel, dass endlich beendet werden muss, wenn nötig mit aller Härte des Gesetzes.

    Josef Özcan (Diplom Psychologe / Koelner Appell gegen Rassismus e.V.)
    http://www.mig-gesundheit.com
    http://www.koelnerappell.de