Wie stark das Denken über Migration und Integration im Bundesministerium des Innern nach wie vor durch die Grundorientierung an Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr geprägt ist, zeigt aktuell aufs Neue der nun von der Großen Koalition verabschiedete Entwurf des sogenannten Integrationsgesetzes. Er zielt zwar auf eine Art administrative Beschleunigung der Integration von Geflüchteten ab; er ist aber, von einigen hilfreichen Verbesserungsvorschlägen abgesehen, von Misstrauen in die Integrationsbereitschaft seiner Adressaten, von lebensfremden Auflagen, Kontrollvorschriften und Sanktionsdrohungen geprägt.
Der Gesetzentwurf ist, darin waren sich viele Integrationsforscher und Integrationspraktiker einig, zum Beispiel im Blick auf die Wohnsitzzuweisung sogar eine Art Integrationsbehinderungsgesetz. Sein eigentlicher Zweck war offenbar, unter AfD-Angst und Österreich-Schock in Integrationsfragen Härte und Geschlossenheit zu zeigen und damit einen im Grunde populistischen Beitrag zur Förderung des ‚gesellschaftlichen Zusammenhalts‘ zu leisten.
Manche nannten den Entwurf einen Schritt in die richtige Richtung. Für die zustimmungswillige SPD, aus der die meisten außerparlamentarischen Kritiker kamen, war er am Ende vielleicht mehr ein Tritt in die falsche Richtung, nämlich noch weiter nach unten in der Gunst ihrer Stammwähler.
Der Streit war vorprogrammiert. Aneinander gerieten bei der öffentlichen Bewertung des Referentenentwurfs auch die beiden seinerzeit von mir angeschobenen wissenschaftlichen Organisationen zur kritischen Politikbegleitung, der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) und der Rat für Migration (RfM), die in der Spannung zwischen Kritik und ‚Ausgewogenheit‘ ohnehin deutlich verschieden positioniert sind. 1
„Der größte Fehler in Sachen Integrationspo- litik war in Wirklichkeit, dieses gesellschafts- politisch zentrale Thema in der Verantwortung des Bundesministeriums des Innern zu lassen.“
Der im Vergleich zu seinen politikkritischen Anfängen – von seinem kritischen Forschungsbereich abgesehen – nachgerade gouvernemental gewordene SVR begrüßte den Gesetzentwurf unter Konzentration auf die Verbesserungsvorschläge mit nur einigen beiläufigen Ermahnungen zu einem ausgewogenen ‚Fördern und Fordern‘ 2 im wesentlichen als Schritt „in die richtige Richtung“. 3 Er befürwortete sogar die am heftigsten attackierte Wohnsitzauflage als möglicherweise durchaus „vernünftiges Instrument zur Integrationsförderung„.
Der RfM hingegen kritisierte den Referentenentwurf scharf in einem öffentlichen Aufruf zusammen mit DeutschPlus 4 und zusätzlich in einem – zusammen mit dem Paritätischen Gesamtverband, der Diakonie Deutschland und der Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl verfassten – offenen ‚Brandbrief‘ 5 an den Bundesinnenminister:
Der Entwurf, den Pro Asyl als ‚Desintegrationsgesetz‘ und damit als ‚Etikettenschwindel‘ disqualifizierte, sei im Blick auf die beabsichtigte Integrationsbeschleunigung durch sanktionsbewehrte Maßnahmen eine kontraproduktive, praktischen Erfahrungen und einschlägigen Forschungsergebnissen widersprechende und überdies für die Akzeptanzbereitschaft gegenüber Asylsuchenden in der weiteren Öffentlichkeit sogar gefährliche Rolle rückwärts in die 1980er Jahre.
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Dem entsprach unbeabsichtigt auch die dekuvrierende Verteidigung des Gesetzentwurfs durch Bundesinnenminister de Maizière mit dem giftigen Mottenkisten-Argument, man wolle aus den „Fehlern der Vergangenheit“ lernen – nämlich „Gettos“ und „Parallelgesellschaften“ vermeiden. Genau das war das Vokabular der Integrationsskeptiker der 1980er und 1990er Jahre mit ihrem denunziativen Gerede von der ‚gescheiterten Integration‘, das entscheidend beigetragen hat zu den xenophoben Vorstellungen von angeblich mangelnder Integrationsbereitschaft bzw. ‚Integrationsverweigerung‘ (de Maizière). 6
Der größte Fehler in Sachen Integrationspolitik war in Wirklichkeit, dieses gesellschaftspolitisch zentrale Thema in der Verantwortung des Bundesministeriums des Innern zu lassen. Es gab Ausnahmen wie die Bundesinnenminister Schäuble (CDU) und Schily (SPD), die sich auch als Gesellschafspolitiker verstanden. Aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich nur die Regel.
Fordern wir also aufs Neue, dass in den Koalitionsverhandlungen zu Beginn der nächsten Legislaturperiode endlich ein eigenes Ministerium für Migration und Integration vereinbart wird.
- Integrationsgesetz bei Experten umstritten, in: MiGAZIN (epd, 19.5.2016), 20. 5. 2016; Fabio Ghelli, Experten kritisieren geplantes Integrationsgesetz, in: Mediendienst Integration, 19.5.2016; vgl. Verbände schlagen Alarm wegen Integrationsgesetz, in: Donaukurier, 19.5.2016.
- Das in regierungsamtlichen Verlautbarungen gern gebrauchte programmatische Begriffspaar ‚Fördern und Fordern‘ hat mit dem Gesetzentwurf selbst nichts zu tun und stammt ursprünglich von dem seinerzeitigen Aussiedlerbeauftragten Jochen Welt (SPD).
- Presseinformation SVR, Berlin 14.4.2916: Beim Integrationsgesetz kommt es auf gute Balance von Fördern und Fordern an. Die Eckpunkte der Großen Koalition für ein Integrationsgesetz enthalten gute Ansätze. Entscheidend ist nun eine kluge Ausgestaltung, damit das Ziel der Integrationsförderung auch erreicht werden kann.
- RfM / DeutschPlus, „Dieses Gesetz spaltet“. Wissenschaftler, Künstler und Autoren protestieren gegen das geplante Integrationsgesetz. Es sei ein „Rückschritt in die 1980er Jahre“, in: ZEIT Online, 4.5.2016.
- RfM, Pro Asyl, Paritätischer Gesamtverband, Diakonie Deutschland an BMI De Maizière, betr. Referentenentwurf zu einem Integrationsgesetz vom 29.4.2016, Berlin 19.5.2016.
- Vgl.: Klaus J. Bade, Zur Karriere und Funktion abschätziger Begriffe in der deutschen Asylpolitik, in: MiGAZIN, 29.6.2015 (online); ders., Sicherheit, Ordnung und Gesellschaftspolitik im Bundesinnenministerium, in: ebenda, 12.1.2016; ders., Von Unworten zu Untaten. Kulturängste, Populismus und politische Feindbilder in der deutschen Migrations- und Asyldiskussion zwischen ›Gastarbeiterfrage‹ und ›Flüchtlingskrise‹, in: IMIS-Beiträge, 48/2016, Januar 2016, S. 35-171.