Kinder Deutschlands

Es geht schon längst nicht mehr nur noch um Özil und Gündoğan

Es geht nicht um Özil und Gündoğan. Es geht um Unbehagen, Zerrissenheit, Verwirrung, Misstrauen und Identität. Özil und Gündoğan sind lediglich Austragungsort für all die Verunsicherungen, die sich in den letzten Jahren angestaut haben. Von Nima Mehrabi

Bei der nicht mehr enden wollenden öffentlichen Auseinandersetzung um Özil und Gündoğan geht es schon längst nicht mehr um die beiden Fußballer. Denn dafür ist die Diskussion zu sehr entartet, hat sie mittlerweile jeden rational nachvollziehbaren Rahmen gesprengt. Vielmehr müssen diese beiden Gastarbeiterkinder als Austragungsort für all die Verunsicherungen herhalten, die sich in den letzten Jahren im postmigrantischen Deutschland angestaut haben. Das herkunftsdeutsche Kollektiv hat sie als geeignete Repräsentanten einer ganzen Generation von eingebürgerten Migrantennachkommen ausgemacht, denen man ihr Deutschsein nie wirklich abgenommen hat.

Aber es ist nicht nur das, da schwingt noch viel mehr mit: Es ist das Unbehagen einer Gesellschaft, die es noch immer nicht ertragen kann, die Özils, Khediras und Boatengs dieses Landes in erfolgreichen Positionen zu erblicken, es ist die Zerrissenheit einer Nation, die sich nach den grausigen Verirrungen ihrer jüngsten Geschichte auch ein dreiviertel Jahrhundert später noch nicht wirklich selbst gefunden hat, es ist der Minderwertigkeitskomplex einer Mehrheitsbevölkerung, die sich bis heute in einer verzweifelten Identitätskrise befindet.

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In solch einer Atmosphäre suchen sich die aufgekommenen inneren Spannungen eine Oberfläche, an denen sie sich entladen können, münden schließlich in solchen Scheindebatten, wie die über das Mitsingen der deutschen Nationalhymne. Darüber, wann dieses Mitsingen ein ungeschriebenes Gesetz geworden ist, müssen sich die Kenner der Materie streiten. Fakt ist aber, dass die Kameraaufzeichnungen vom WM-Finale 1974 – als Deutschland und die Niederlande um den Weltmeistertitel spielten – deutlich verzeichnen, dass damals kein einziger Nationalspieler der Bundesrepublik bei der Hymne auch nur ansatzweise die Lippen bewegte. Ja, wer die Gesichter des damaligen deutschen Final-Elf in dieser Szenerie genauer betrachtet, der wird in ihnen gar den Ausdruck demonstrativer Verweigerung erkennen.

Heute – keine fünfzig Jahre später – ist es nun aber genau dieser Tatbestand, mit dem man Özils angebliche Integrationsverweigerung zu beweisen sucht. Vorbelastet durch das Erdoğan-Foto, glaubt man, ihn nun vollständig des Landesverrats überführt zu haben. Untermauert wird dies auch noch durch weitere Bilder, auf denen er – ganz der unintegrierte Muselmane – seine Hände vor dem Spiel zum Gebet gen Himmel streckt. Sein verkapptes Türkentum wird durch für germanische Blicke eigenartig anmutende Sitten, wie beispielsweise lippenlastige Respektbekundungen für weggeworfene Brotreste, vervollkommnet.

Bei all dem wird Özil von denselben skeptischen Argusaugen verfolgt, die ein jeder Mensch mit äußerlich sichtbarem Migrationshintergrund in Deutschland nur allzu gut kennt. Es ist ein zweifelnder Blick, dem man ständig standhalten muss, eine eifrige Suche nach Indizien, die dem immanenten Misstrauen gegenüber dem sich selbst konstruierten Fremden Rechtmäßigkeit verleihen soll. Die beobachteten migrantischen Objekte werden in diesem Zusammenhang unterschwellig auch nach mehreren Generationen stets generalverdächtigt, keine echte Loyalität für Deutschland zu empfinden, in Wahrheit nichts als trojanische Pferde ausländischer Interessen zu sein.

Auf der anderen Seite werden diese bei Migrantenkindern so gnadenlos agierenden Augen beide gleichzeitig zugedrückt, wenn es sich um blauäugige und überaus blonde Herkunftsdeutsche handelt. Denn dann kann man sich wie die Torwartlegende Kahn auch ohne Skandal und Staatsaffäre nur einen Tag vor Özils und Gündoğans Treffen mit Erdoğan propagandaträchtig mit dem Regenten der absoluten Monarchie „Saudi-Arabien“ ablichten lassen. In diesem Zusammenhang stimmt zwar das vorgebrachte Argument, dass dieses Bild nicht für Wahlkampfzwecke hätte missbraucht werden können. Dies trifft aber auch nur deshalb zu, weil im steinzeitlich anmutenden politischen System des arabischen Golfstaates weder Parteien vorgesehen sind noch auch nur vorgetäuschte Scheinwahlen abgehalten werden. Wer sich aber wagt, diese unterschiedlichen Bewertungsmaßstäbe auch nur anzusprechen, gegen den wird unweigerlich die Whataboutism-Keule geschwungen.

Während der gemeine Mensch mit Einwanderungshintergrund sich schon längst daran gewöhnt hat, ständig mit solchen doppelten Maßstäben konfrontiert zu werden, waren die Starmigrantenkinder bisher weitgehend von solchen Phänomenen verschont geblieben. Zu groß die Sorge der nichtmigrantischen Öffentlichkeit, sich bei einem solchen Umgang mit den Vorzeigeeinwanderern der Nation den Vorwurf einer rechten Gesinnung einzuhandeln. Anstatt sich also gewohnheitsgemäß auch an diesen Schwarzköpfen austoben zu können, sah man sich dazu gezwungen, eine strenge Selbstkontrolle zu üben. Eine autodisziplinarische Maßnahme, die an den Rand des Wahnsinns getrieben hat. Schließlich war da doch diese durchgängig wahrnehmbare innere Stimme, die einem sagte, dass hier etwas nicht stimmt, diese Türkengesichter und Ansätze afrikanischer Kraushaare nicht wirklich zum Rest der Mannschaft passen.

Unter solchen Vorbedingungen kam das Treffen Özils und Gündoğans mit dem türkischen Staatspräsidenten mehr als gelegen. Seitdem gibt es endlich einen Vorwand und eine politisch korrekte Rechtfertigung, um diese beiden türkischstämmigen deutschen Nationalspieler medial zu jagen – ja, eine massenmediale Lynchjustiz an ihnen zu verüben –, ohne dabei befürchten zu müssen, womöglich als Nazi bezeichnet zu werden. So hat es sich selbst eine lokalpolitische Größe der SPD nicht nehmen lassen, sie als ziegenfixierte Zoophilisten zu bezeichnen, während ein leitender bayerischer Kulturschaffender die Gelegenheit nutzte, um ihnen mit dem Nachdruck einer soften Fäkalsprache die Rückkehr in das heimatliche Anatolien ans Herz zu legen.

Dieses extraordinäre Ausmaß an Ablehnung, das Özil und Gündoğan nun auf verschiedensten Ebenen entgegenschlägt, ist die konzentrierte und kanalisierte Form dessen, was sich zuvor gleichmäßig auf eine anonyme Masse von schwarzköpfigen Migranten ergossen hat. Denn sie sind es, die dieser hierzulande generell nicht gerade beliebten Gruppe von Einwanderernachkommen muslimischen Hintergrunds unbeabsichtigt ein Gesicht verliehen haben, auf das die breite Öffentlichkeit nun bereitwillig und voller Inbrunst einschlagen kann. Sie werden hierbei stellvertretend verprügelt, sind eine Art deutsche Nubbel türkischer Herkunft, die für all das Böse, was man in den letzten Jahren in den Talkshows, Magazinen und den Hirnen sogenannter Experten am Islam und den landeseigenen Muslimen ausgemacht haben will, herhalten müssen. Die Prügelknaben einer gesamten Nation, die es bis heute nicht wahrhaben kann, dass auch dies letztendlich die Kinder Deutschlands sind.