Fehlende Sensibilität

Zum Stand der Willkommenskultur

Die Frage nach der Empathie und Sensibilität für Menschen mit Flucht- bzw. Einwanderungsgeschichte hat an Stellenwert gewonnen. Doch wird diese Frage losgelöst von alten Strukturen diskutiert – im Justizwesen, in den Medien, in der Gesellschaft. Von Robert Westermann

„Empathielevel: Auto“ 1 – Dies war einer der vielen Kommentare auf Twitter zum Versuch der Bundeskanzlerin, das palästinensische Mädchen Reem zu trösten. Die Meinungen, ob Frau Merkel dies gelungen ist oder nicht, gingen weit auseinander. Im Nachhinein zeigt sich, dass die Frage nach der nötigen Empathie und Sensibilität für Menschen mit Flucht- bzw. Einwanderungsgeschichte an Stellenwert gewonnen hat.

Bisher war diese Debatte nur eingeschränkt und zwar angesichts der steigenden Zahlen von Geflüchteten in Deutschland mit Blick auf die Entwicklung einer Willkommens- und Anerkennungskultur geführt worden. Dabei lag der Fokus primär auf einer institutionalisierten Willkommenstechnik und dem Aspekt, wie Behörden und Unternehmen den Anforderungen zunehmender globaler Flucht- und Migrationsbewegungen gerecht werden bzw. davon profitieren.

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Die eigentlich implizierte gelebte Willkommens- und Anerkennungskultur, die sich auf das alltägliche Miteinander bezieht und ausschlaggebend ist für ein gesamtgesellschaftliches Willkommensklima, war bisher kaum Thema. Dabei ist, nicht erst seit den zunehmenden Angriffen auf Unterkünfte von Asylbewerbern, klar, dass der so genannten „Willkommenskultur“ eine ausgeprägte Kultur der Ausgrenzung gegenübersteht.

Diese richtet sich nicht nur gegen Flüchtlinge und Einwanderer, sondern ebenso gegen bereits vor langer Zeit eingewanderte Gruppen und Personen sowie deren Nachfahren. In diesem Sinne gilt es, das Konzept auszuweiten: Zu einer umfassenden Willkommens- und Anerkennungskultur gehört, wie Klaus J. Bade es formuliert, nicht nur eine „freundliche Begrüßung neuer Gäste beim Erstkontakt, sondern auch das Innenleben im Haus“ 2.

Strukturen im Wandel

Die Debatte über fehlende Empathie und Sensibilität kann somit nicht getrennt vom aktuellen Diskurs über die Migrations- und Einwanderungsgesellschaft geführt werden. 3 Bedenklich ist dabei, dass sich, jenseits vom parteiübergreifenden Konsens – „Deutschland ist ein Einwanderungsland!“, noch viel zu wenig mit Blick auf das Aufbrechen alter Strukturen und eine gleichberechtigte Teilhabe getan hat. 4

Dies liegt teilweise daran, dass die hierfür notwendige Pionierarbeit einer gesellschaftlichen Neuvermessung/ -justierung 5 noch sehr schleppend vorankommt: Zwar ist, unter dem Stichwort postmigrantische Gesellschaft, in den Feldern Wissenschaft und Kultur bereits das erste Fundament für eine migrationssensiblere Erinnerungskultur bzw. eine neue identitätsstiftende Rahmenerzählung für Alle geschaffen worden 6; es gibt aber noch zu viele Bereiche, in denen Widerstände einen strukturellen Anpassungsprozess verhindern.

Ein Beispiel ist das deutsche Justizsystem: Seit dem 1. August 2015 gelten, nach zähen Verhandlungen im Parlament und aufgrund des durch den NSU-Untersuchungsausschuss erzeugten öffentlichen Drucks, verschärfte Gesetze zur Aufdeckung rassistischer Tatmotive sowie einer gesonderten Behandlung von Hasskriminalität. 7 Das ist eine gute Nachricht, zeigt aber auch, dass hier nachträglich auf Terror und Verbrechen reagiert wurde anstatt den Justiz- und Polizeiapparat systematisch, orientiert an den Anforderungen einer Einwanderungsgesellschaft, zu reformieren.

Dies wird auf lange Sicht nicht funktionieren: In einer durch weltweite Migration und Mobilität gekennzeichneten Gesellschaft müssen von vornherein Spielregeln gelten, mit denen Sensibilität bzw. ein besonderes Gespür zur Aufdeckung von rassistischen Delikten und diskriminierende Verfahren verankert sind.

Eine ähnliche „Blockadehaltung “ kennzeichnet den Presse- und Medienbereich: Zwar treten zunehmend Journalisten offensiv gegen Fremdenhass und rassistische Hetze ein 8, ein struktureller Wandlungsprozess ist aber auch hier noch nicht erkennbar. Dies betrifft sowohl die Repräsentation von Journalisten mit Migrationsgeschichte 9, als auch, und dies ist das eigentliche Kernproblem, die Produktionsprozesse in der Medienbranche.

So führt der permanente Zwang, unter Zeitdruck hohe Quoten und Auflagen zu erzielen, häufig zu Ergebnissen, bei denen die Darstellung von herkunfts- und religionsbezogener Vielfalt auf Stereotypen und Klischees basiert. 10 Eine gelebte Willkommenskultur kann sich aber nur einstellen, wenn gerade in den Massenmedien eine durch Hintergrundwissen und Fachkompetenz gekennzeichnete Sensibilität für den Fokus Migration präsent ist.

Begriffe und Bilder

Um dies zu erreichen, muss vor allem der Umgang mit Begriffen und Bildern auf den Prüfstand gestellt werden. Die Debatte der letzten Monate und Jahre hat gezeigt, dass der Einsatz von migrationssensibler bzw. -feindlicher Sprache ein Gradmesser für den Stand gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennung oder eben Ausgrenzung und Abwertung ist. 11

Beispielhaft steht hierfür die Entscheidung der Deutschen Presseagentur (DPA), in Zukunft auf den Euphemismus „Asylkritiker“ zu verzichten und verstärkt auf eine genaue Beschreibung und Benennung von fremdenfeindlichen Einstellungen und Handlungen zu achten. 12 Neben der bewussten Auswahl von Begriffen muss es dabei immer auch um eine kontinuierliche Anpassung bzw. den Neuaufbau eines gemeinsamen Wortschatzes gehen, so wie es die Neuen Deutschen Medienmachern (NDM) mit dem Glossar „Neue Begriffe für die Einwanderungsgesellschaft“ 13 verfolgen.

Genauso zentral wie der richtige Einsatz von Begriffen ist aber auch ein migrationssensibler Umgang mit Bildern. In einer visuell geprägten Welt haben diese großen Einfluss darauf, ob Stereotype und Vorurteile verhärtet oder aufgebrochen werden. Dass in Deutschland selbst Kampagnen misslingen, die explizit für Toleranz und Respekt werben 14, ist ein Indiz dafür, dass es mehrheitlich noch an natürlicher Vorstellungskraft für diverse Lebenswelten mangelt. 15

Dabei wäre ein besseres „Marketing von Vielfalt“ wichtig, um die eigene Identität als „plurale Republik“ zu stärken und die Vorzüge von offenen sowie heterogenen Strukturen herauszustellen. Es ist eben nicht damit getan, gesetzliche Rahmenbedingungen anzupassen: Status und Image eines Einwanderungslandes sind abhängig von migrationssensiblen Einstellungen, Verfahren und Strukturen. Bevor dies nicht stärker thematisiert wird, kann auch ein „Zuwanderungsmarketing“, wie vom Innenminister vorgeschlagen, nur wenig Wirkung erzielen. 16

Neues Leitmotiv

Die Auflistung von Bereichen, die im Kontext der Einwanderungsgesellschaft strukturelle Defizite aufweisen, ließe sich an dieser Stelle fortsetzen (z.B. der Arbeits- und Ausbildungsmarkt, das Bildungssystem, der Kulturbetrieb etc.).

Eine migrationssensible Betrachtung dieser Kernfelder bringt auch ein neues integrations- bzw. gesellschaftspolitisches Grundverständnis mit sich: Im Mittelpunkt steht der Aufbau von neuen Standards und Strukturen, die eine bessere ökonomische, politische und soziale Teilhabe (und damit Identifikation für Alle) ermöglichen und gleichzeitig die gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit im Zeitalter von Migration und Mobilität gewährleisten.

Die Kunst dabei wird es sein, dies auf alle Ebenen runter zu brechen. Dabei sollte nicht Aktionismus, sondern eine kritische Analyse und die langfristige Umgestaltung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen im Fokus stehen. Dort, wo Behörden, z.B. mit der Betreuung und Unterbringung von Asylbewerbern, zeitweise überfordert sind, ist pragmatisches und zivilgesellschaftliches Engagement gefragt.

Um jedoch eine Willkommens- und Anerkennungskultur langfristig zu etablieren, muss die Debatte über die Anforderungen der Einwanderungsgesellschaft fortgesetzt werden.

  1. Der Tweet stammt von Kübra Gümüșay (@kuebra) und ist vom 16. Juli 2015. [20.08.2015]
  2. Klaus J. Bade: Kurswechsel „Willkommenskultur“?, in: IQ Fachstelle – Interkulturelle Kompetenzentwicklung und Antidiskriminierung. [20.08.2015]
  3. Vgl. dazu auch: Neue Prämissen – Grundlagen der Migrationsgesellschaft, in: MiGAZIN vom 22.10.2014 [03.08.2015]
  4. Welche Defizite im Vergleich zu anderen Ländern in Deutschland (vor allem mit Blick auf die Zugänge und Teilhabe von jungen Menschen mit Migrationsgeschichte am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt) bestehen, hat eine aktuelle Studie der OECD/EU nachgewiesen. Vgl. OECD (2015): „Indicators of Immigrant Integration 2015: Settling In“ [03.08.2015]
  5. Vgl. Kolumne von Carolin Emke: „Neue Karte“, in: Süddeutsche Zeitung vom 31. Juli [20.08.2015]
  6. Vgl. BPB Kurzdossier „Die Einheit der Verschiedenen: Integration in der postmigrantischen Gesellschaft“ von Naika Foroutan [20.08.2015]
  7. Vgl. Deutsche Welle vom 01.08.2015: Rassismus – Rassisten werden härter bestraft. [03.08.2015]
  8. z.B. Anja Reschke’s Aufruf zum „Aufstand der Anständigen“ [06.08.2015]
  9. Vgl. Neue deutsche Medienmacher: Journalisten mit Migrationshintergrund [03.08.2015]
  10. Vgl. Mediendienst Integration: Wir brauchen andere Geschichten in den Medien! [03.08.2015]
  11. Vgl. dazu auch Yasemin Shooman: »… weil ihre Kultur so ist« – Narrative des antimuslimischen Rassismus, Berlin 2014.
  12. Vgl. hierzu den Blogbeitrag von Anatol Stefanowitsch: Kurze Geschichte des Unworts: Asylkritiker [03.08.2015]
  13. Vgl.: Neue Deutsche Medienmacher (NDM): Glossar – „Neue Begriffe für die Einwanderungsgesellschaft“ [03.08.2015]
  14. z.B. die Plakatmotive der ARD Themenwoche der Toleranz. Vgl. dazu: Toleranzwoche der ARD – Spiel ohne Reflexion, in der taz vom 14.10.2014 [20.08.2015]
  15. Dabei könnte ein Blick auf aktuelle Werbe- und Marketingkampagnen durchaus neue Perspektiven liefern: Vgl. z.B. die Kampagne des Schweizer Telekommunikationsunternehmens SALT; hier wird das Thema „diverse Lebenswelten“ bewusst subtil über authentischen Straßenszenen vermittelt [20.08.2015]
  16. Vgl. hierzu: Die Zeit vom 14. April: Einwanderung – De Maizière spricht sich für Zuwanderungsmarketing aus [20.08.2015]