Rezension zum Wochenende

Du nicht – Theodor Michael durfte kein Hitlerjunge sein

Während der Weimarer Republik fand man, „Farbige“ sollten den Deutschen keine Arbeitsplätze mehr wegnehmen. Bald konnten sie nur noch in den „Völkerschauen“ unterkommen, irgendwann nur noch als stumme Komparsen in den Kolonialfilmen – eine beeindruckende Biografie, rezensiert von Jamal Tuschick.

„Mischling“, „Bastard“, „Rassenschande“ – das habe ich als Kind in den frühen Sechzigerjahren gehört. Zudem wohnte ich in der „Afrika-Siedlung“ und besuchte den „Togo-Kindergarten“. Der Kindergarten hieß so nach der Straße seiner Anschrift und die Straße hieß so nach einer „verlorenen“ deutschen Kolonie.

Die Witwe eines Kolonialherrn empfing Schulklassen, sie hatte aus ihrer Wohnung ein Museum der verblassten deutschen Herrlichkeit gemacht. Das gerahmte Sinnbild der weißen Überlegenheit bot der Deutsche zu Pferde und „sein Boy“ zu Fuß daneben. Rassismus war so selbstverständlich, dass man keinen Gedanken daran verschwendete. Der Pfarrer sagte: Alle Menschen sind gleich, und der Volksmund murrte: Aber manche sind gleicher.

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Was weiß schon ein Pfarrer in seinem Wolkenkuckucksheim. Es gab eine Menge Mischlinge, hervorgegangen in Verbindungen zwischen Kasseler „Fräuleins“ und schwarzen Besatzungssoldaten. Oft wuchsen die „Bimbos“ bei den deutschen Großeltern auf, in Konstellationen, in denen quer durch die Familien ein ethnischer Riss verlief. Man sah sehr verschieden aussehende Kinder auf der Straße und wusste, die haben dieselbe Mutter. Die „Mischlinge“ mischten sich unter christliche Pfadfinder, mitunter ging es da zu „wie bei den Hottentotten“. Das war eine ständige, völlig unverstandene Redewendung. Wer kannte schon die im Tadel angespielten Ethnien? Die „Wölflinge“ machten keine Unterschiede zwischen braun und weiß. Unterschiede machten Agitatoren rechter Bünde, die Pfadfinder auf großer Fahrt zu missionieren versuchten. Sie warben um „deutschen Jungen“, ich war von der Werbung ausgenommen.

„Du nicht!“
Dieses „Du nicht!“ ist eine Mantra in der Lebensgeschichte von Theodor Michael. Er wurde 1925 als Sohn eines Kameruner und einer Deutschen in Berlin geboren. Die Mutter starb früh, der Vater brachte die Kraft nicht auf, für seine Kinder zu sorgen. Theodor kam zu sozialdemokratischen Pflegeltern in Prenzlauer Berg. Er wurde gut aufgenommen, zeigte Interesse an der Schule und litt allenfalls unter den Komparsen- und „Völkerschau“-Jobs, die ihm zuerst der Vater und später andere Bevollmächtigte mit ausbeuterischen Absichten aufzwangen. Deutsch-Afrikaner waren im Verständnis der in der Weimarer Republik nachwirkenden Kaiserzeit Schutzbefohlene mit deutschen Pässen. Das ändert sich im Dritten Reich.

Theodor wird überall ausgeschlossen, er darf nicht in die Hitlerjugend und nicht aufs Gymnasium. Seine Pflegefamilie, ein Artistengespann im Direktorenrang, schmiedet ein Exploitationsbündnis gegen Theodor – und seine jüngste Schwester, die immerhin Deutschland rechtzeitig verlassen kann.

Der im Zirkus zur Schau gestellte und in Babelsberger Exotik-Produktionen neben Hans Albers eingesetzte Theodor wird zum staatenlosen „Neger“. Er reist mit einem Nansen-Pass zu seinen Arbeitsplätzen. Als Komparse gelangt er bis nach Rom. Nach der Schule will ihn keiner als Lehrling haben, der unterernährte Halbwüchsige träumt von Metzgereien und Bäckereien. Er darf bloß Page sein. Er duckt sich und macht sich klein. Er ist eingeschlossen im Ausschluss, ohne ein Angebot, das sein Selbstwertgefühl stärken könnte. Er ist dem Herabsetzungsfuror seiner Umgebung bis zum Selbsthass ausgeliefert.

Natürlich kann man sich nicht gern haben, wenn andere nichts Liebenswürdiges an einem bemerken. Wenn man immer nur Angst hat, sich schlagen und jede Beleidigung auf sich sitzen lässt, erlebt man sich als würdelos. Woher soll ein Kind/Jugendlicher wissen, dass die erniedrigende Fremdwahrnehmung unter solchen Voraussetzungen von jedem angenommen würde?

Das weiß keiner mit vierzehn, fünfzehn. Theodor verliert seinen Pagendienst, die SS wird auf ihn aufmerksam. Man bestellt ihn ein, verwundert darüber, dass „so was“ noch am Leben ist. Man steckt Theodor zu Zwangs- und Fremdarbeitern.

Inzwischen brennt Berlin, jede Hand wird gebraucht. Der Mythos vom afroamerikanischen Kampfpiloten in den Wolken über Deutschland gefährdet Theodor zusätzlich. Er findet in keinem Bunker Schutz. Ein Markierter in der traumatisierten Volksgemeinschaft, ohne Aussicht auf Solidarität. Was löst das aus?

In der durch evolvierte Mechanismen entwickelten heuristischen Informationsverarbeitung finden Kategorisierungen statt, denen eine Dichotomie der Einordnung zugrunde liegt, mit dem unbewussten Ziel Mehrdeutigkeit auszuschließen. In unserer Verarbeitung reduzieren wir Dissonanzen, um ein in sich kohärentes Selbstbild herzustellen. Was macht einer, der keine Gruppe hat, auf die er sich positiv beziehen kann?

Theodor Michael gibt eine Antwort. Der Junge im Würgegriff der Identifikation mit dem Aggressor versucht die Differenz zum Verschwinden zu bringen und sein Deutschsein zu exponieren. Er entleibt sich in gewisser Weise. Dieses Muster wird er nie aufgeben, genauso wie er nicht aus den Verdächtigungen herauskommt. Nach dem Krieg glaubt man ihm nicht, dass er den nationalsozialistischen Rassenwahn redlich überlebt hat. Michaels Überleben wird gegen Theodor als Vorwurf erhoben. Er macht trotzdem Karriere in der Bundesrepublik, steigt auf bis zum Regierungsdirektor beim Bundesnachrichtendienst.