9. November

„Tief- und Höhepunkt des deutschen Volkes“

Vor 25 Jahren war der Mauerfall und vor 76 Jahren die verheerenden Novemberpogrome gegen Juden in Deutschland. Sollten in der Erinnerung der Menschen nicht beide Ereignisse einen bedeutenden Platz einnehmen? Michael Groys kommentiert.

Es gibt wohl kaum einen Tag in der gesamten deutschen Geschichte, der den Tief- und Höhepunkt des deutschen Volkes so veranschaulicht wie der 9. November. In diesem Jahr gibt es ein besonderes Jubiläum: 25 Jahre Mauerfall. Ein wahrhaftiger Grund zur Freude und Feier, ein Tag, an dem die Trennung von Familien sein Ende gefunden hatte, sowie natürlich das Ende des Unrechtsstaates DDR. In Berlin fand gestern zu diesem Anlass ein Bürgerfest statt, welches von Barenboim bis Kalkbrenner reichte.

Im Jahr 1938 wurde gewissermaßen auch ein Fest gefeiert. Es war ein Fest des Hasses, der Zerstörung, der Vernichtung, Verbannung, Verachtung und vor allem der Vorbereitung auf den Holocaust. Tausende Synagogen brannten, jüdische Geschäfte wurden zerstört und geplündert, tausende Menschen wurden in Konzentrationslagern inhaftiert. Die sogenannte Reichskristallnacht ging in die Geschichte ein als ein Tag der Scham des zuschauenden deutschen Volkes.

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Welches außergewöhnliche Gefühl von fehlender Selbstreflexion muss man eigentlich besitzen, um an einem Tag der Scham in ein grenzenloses Jubeln zu verfallen? Wie kurz ist das Gedächtnis der Deutschen, wenn es um das einmalige Menschheitsverbrechen geht? Wie schade doch nur, dass wir Juden uns nicht an den steigenden Luftballons erfreuen. Ausgerechnet heute hätte ich mir von deutschen Politikern in der Stunde der Freude eine klare und deutliche Erinnerung an die ermordeten, vertriebenen, beleidigten, entwürdigten Juden gewünscht. Dass ich dies als Nachkomme des Opfervolkes fordern muss, ist mehr als traurig für diese Republik.

Die wahre Tragödie dieses Tages vor 76 Jahren waren nicht die Aktionen der Nazis mit ihrer kranken Ideologie, sondern die Untätigkeit der Menschen. Statt das Feuer der brennenden Synagogen zu löschen, wurden die eigenen Häuser beschützt. Diese Haltung ließ die Nazis ihren mörderischen Plan durchführen, der in den Öfen von Auschwitz, Maidanek und Treblinka endete.

Wenn ich heute diese tausenden jubelnden Menschen vor dem Brandenburger Tor sehe, die fröhlich Bier trinken und sich mit Würstchen vollstopfen, erklingt in meinen Ohren dieser ungeheure Schrei der Ungerechtigkeit. Mir scheint es so, als würden die Opfer die feiernde Menge um Respekt bitten, womöglich um die letzte Ehre. Für einige ist der Mauerfall 25 Jahre her, für die Juden ist die Pogromnacht noch gestern gewesen. Die zerbrochenen Fensterscheiben werden offensichtlich noch lange auf deutschen Straßen liegen bleiben.