Interview mit Prof. Dietrich Thränhardt

„Sozial- und Wirtschaftspolitik mit der Migrationspolitik vereinen“

Der Rat für Migration fordert die künftige Bundesregierung und alle Bundestagsabgeordneten dazu auf, die Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland inhaltlich neu auszurichten. Migrationsforscher Dietrich Thränhardt vom RfM im Gespräch:

Herr Thränhardt, was muss sich an der deutschen Migrationspolitik ändern?

Prof. Dietrich Thränhardt: In Bezug auf die Akzeptanz hochqualifizierter Einwanderer aus den EU-Staaten haben wir in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt. Allerdings gibt es in Deutschland nach wie vor relativ wenig Einwanderung aus den Gebieten außerhalb der Europäischen Union. Die Migrationspolitik in Deutschland ist kompliziert und relativ schlecht verwaltet. Das schreckt viele Zuwanderer ab. Zudem sind die migrationspolitischen Zuständigkeiten auf verschiedene Bundesministerien und -ämter verteilt, was die Lage zusätzlich verkompliziert. Beispielsweise werden die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen und die Einbürgerung nicht miteinander koordiniert. Wir fordern daher ein Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Migration und Integration, das die Sozial- und Wirtschaftspolitik mit der Migrationspolitik vereint, gestaltend tätig wird und in dem Entscheidungen gemeinsam getroffen werden können.

___STEADY_PAYWALL___

Aber hängt die Migrations- und Integrationspolitik nicht auch von der politischen Haltung der regierenden Parteien ab, so dass bei gleichbleibender Regierung ein neues Ministerium wenig ändern würde?

Thränhardt: Viele der derzeitigen Missstände hängen mit dem Innenminister Hans-Peter Friedrich zusammen, dessen populistischer Stil und Sicherheitsdenken in Sachen Einwanderung stark dominieren und der nicht über sein Haus hinwegschaut. In seinem Politikstil findet sich sozusagen ein Rest dieser alten, in den 1990er Jahren zum Vorschein gekommenen, fast bürgerkriegsähnlichen Stimmung, die sich damals vor allem gegenüber Asylbewerbern entlud. Diese wird vom jetzigen Innenminister wieder abgerufen. Neuerdings übrigens nicht mehr allein gegenüber Asylbewerbern, sondern auch gegenüber EU-Bürgern aus Rumänien und Bulgarien. Letztlich gibt es natürlich keine Garantie, dass in einem anderen Ministerium der zuständige Minister die Migrationspolitik interessierter, differenzierter und insgesamt besser gestaltet. Wir sehen jedoch große sachliche Kompetenzen im Arbeits- und Sozialministerium, was Fragen der Migrationspolitik betrifft.

In seinem offenen Brief kritisiert der Rat für Migration auch die derzeitige Integrationspolitik als „Sozialtherapie für Menschen mit Migrationshintergrund“ und fordert stattdessen „eine teilhabeorientierte Gesellschaftspolitik für alle“. Fordert der Rat also auch inhaltlich eine Neuausrichtung der Integrationspolitik?

Thränhardt: Die derzeitige Integrationspolitik ist sicherlich gut gemeint, aber sie hat einen sehr paternalistischen Beiklang. Vielfach wird hier der Eindruck erweckt, Migranten seien besonders betreuungsbedürftig und die einheimische Gesellschaft wiederum sei besonders qualifiziert, diese Betreuung zu übernehmen. Das ist in dieser Zuspitzung unsinnig. Wir brauchen Teilhabe, wir brauchen volle staatsbürgerliche Rechte. Das heißt, wir brauchen Einbürgerung. Zudem müssen Einwanderer in allen gesellschaftspolitischen Fragen beteiligt werden. Ändern müsste sich auch die zurückhaltende, oftmals sogar abwehrende und sehr stark an Sicherheitsfragen orientierte Einwanderungspolitik des Innenministeriums. Wir fordern deswegen ein „Migrations- und Integrationsgesetz“, welches vorsieht, Einwanderer in aufeinander aufbauenden Schritten von der Einreise bis zur Einbürgerung zu begleiten und ihnen Orientierung zu geben. Ein solches Gesetz hätte nicht nur einen sachlichen Regelungscharakter, sondern auch eine symbolische Funktion. Es würde gegenüber Zugewanderten und der Gesamtgesellschaft Transparenz schaffen, welche Schritte hin zu einer vollen Teilhabe, Gleichberechtigung und Zugehörigkeit nötig sind.

Wenn sich Integrationspolitik zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe entwickeln soll, welche Rolle kommt dann den Deutschen ohne Migrationshintergrund zu?

Thränhardt: Die Botschaft muss sein, dass wir alle zusammen Deutschland gestalten. Das richtet sich natürlich besonders an die Leute, die hier aufgewachsen sind und deren Eltern und Großeltern schon immer in Deutschland gelebt haben. Damit einhergehen müsste ein neues Verständnis von Deutschland als einem gemeinsamen Land von Einheimischen und Einwanderern. Wer hier in der dritten oder vierten Generation lebt und zum Beispiel türkische Wurzeln hat, der ist eben auch ein Deutscher und muss selbstverständlich voll und ganz akzeptiert werden.

Aktuelle Studien, wie die der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, verweisen auch darauf, dass Diskriminierung von Migranten in Deutschland weiterhin alltäglich ist. Warum ist im offenen Brief an keiner Stelle von Diskriminierung oder Rassismus die Rede?

Thränhardt: Wir sind uns der Problematik von Rassismus natürlich sehr bewusst, aber wir wollten hier zunächst die positiv gestalterischen Elemente in den Vordergrund stellen. Es muss Antidiskriminierungspolitik geben, Rassismus muss bekämpft werden, aber er wird sicher am besten bekämpft, wenn man positiv gestaltet und die gemeinsamen Interessen aller Menschen in der Bundesrepublik hervorhebt.

Die Intersektionalitätsforschung weist darauf hin, dass sich verschiedene Differenzkategorien wie Gender, sexuelle Orientierung, soziale Stellung, Migrationserfahrung oder Hautfarbe, nicht unabhängig voneinander betrachten lassen, da sie sich je nach sozialem Kontext überlagern und gemeinsam wirken. Lässt sich vor diesem Hintergrund eine ministerielle Konzentration auf das Thema Migration und Integration überhaupt rechtfertigen?

Thränhardt: Aufgrund der Intersektionalität haben wir uns gegen ein reines Migrationsministerium ausgesprochen. So muss zum Beispiel die arbeitsrechtliche Gleichstellung von Frauen mit der Gleichberechtigung und der Nicht-Diskriminierung von Einwanderinnen einhergehen. Wir befürworten deswegen die Zusammenführung von Kompetenzbereichen, um Aspekten der Ungleichbehandlung und Diskriminierung auf unterschiedlichen Ebenen begegnen zu können, wie dies in einem Querschnittsministerium möglich wäre.