105 Minuten hat SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück am Sonntag in Hannover beim SPD-Parteitag gebraucht, um seine 34 Manuskriptseiten an die Genossen zu bringen. An seine Kampfrede folgten elf Minuten Applaus und 93,5 Prozent Zustimmung.
Genug Zeit für Steinbrück, um die für ihn wichtigsten Themen anzusprechen. Und das tat er auch: Mindestlohn, Solidarrente, Frauenquote, Gleichstellung von Frauen und Männern bei der Bezahlung, Vermögensteuer, Wohnraum, EU-Politik, Marktwirtschaft, Gemeinwohl, soziale Gerechtigkeit, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften und viele andere. „Und wir wollen dafür sorgen, dass in Deutschland geborene Kinder auch die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen“, so Steinbrück zu Beginn seiner Rede.
Das war es dann auch. Mehr Integration gab es in Steinbrücks Manuskript nicht. „Es gibt weitere Themen, die der Rede wert sind, aber es wird viele Gelegenheiten geben, mehr und weiter zu reden, insbesondere über Integrationspolitik“, so Steinbrück gegen Ende seiner Rede.
Da war Bundeskanzlerin Angela Merkel wenige Tage zuvor auf dem CDU-Bundesparteitag quantitativ spendabler: „Wir haben die Pflicht, alles zu tun, damit jedes Kind seine Begabungen und Talente entfalten kann. Dazu ist frühkindliche Bildung unverzichtbar. Das gilt für alle Kinder, für jedes einzelne Kind, egal woher es stammt, ob aus einer Familie, die lange in Deutschland lebt oder aus einer ausländischen Familie – für jedes Kind. Jedes Kind muss Deutsch lernen. Ohne uns hätten wir diese scheinbar banale Weisheit noch nicht in Deutschland durchgesetzt. Bildung ist der alles entscheidende Schlüssel zur Teilhabe und Teilhabe ist die entscheidende Grundlage von Integration.“
Eine insgesamt ernüchternde Ausbeute – hüben wie drüben – aus den Mündern der zwei aussichtsreichsten Kanzlerkandidaten bei den bevorstehenden Bundestagswahlen für das Integrationsland Deutschland. Angesichts der Zusammensetzung der Delegierten auf den beiden Parteitagen nicht verwunderlich.
Während in manchen Großstädten mehr als jedes zweite Kind einen Migrationshintergrund aufweist, ist die Zahl derer mit diesem Hintergrund und damit auch die Zahl dieser Wähler auf den Parteitagen immer noch verschwindend gering. Und die Wenigen, die anwesend sind, werden gleich in den Parteivorstand gewählt. So etwa beim Bundesparteitag der CDU, wo dem neuen Parteivorstand mit Emine Demirbüken-Wegner, Aygül Özkan, Serap Güler und dem jungen Younes Ouaqasse gleich eine Migrantenquote von stolzen 10 Prozent verpasst wurde.
Dass Merkel trotzdem keinen einzigen Satz in Richtung Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit oder NSU verlor, dürfte den Stellenwert dieser Themen zeigen. Steinbrück sagte den Neonazis wenigstens den Kampf an: „Heute kämpfen wir gegen die Neonazis, die Straßen und Plätze in Deutschland unsicher machen, im Osten wie im Westen, die sogar vor Mord nicht zurückschrecken.“ Er kündigte die Abschaffung der von der CDU eingeführten Extremismusklausel an, „wenn wir dran sind!“ Rechtliche Schritte würden „die braune Soße noch nicht eindämmen, aber verzichten dürfen wir auf solche rechtlichen Schritte auch nicht.“
Die Buchstabenfolge „NSU“ kam aber auch Steinbrück – trotz seiner Anspielung – nicht über die Lippen, geschweige denn eine ernsthafte Thematisierung des nach wie vor aktuellen und größten Sicherheitsskandals der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ein Skandal, das das Vertrauen vieler Millionen Menschen in den deutschen Staatsapparat schwer beschädigt hat und seit über zehn Jahren auf Aufklärung wartet.
„Es gibt eine Sehnsucht in unserer Gesellschaft“, sagte Steinbrück zutreffend – nur in einem anderen Zusammenhang, so, als ob er in seine Rede eine versteckte Tragödie einbauen wollte.