Die Bundesrepublik folgt dem Beispiel Finnlands, Norwegens und Schwedens, wenn sie hierzulande ab 2013 das Betreuungsgeld einführt – eine monatliche Zuwendung für Eltern, die ihr Kleinkind zuhause betreuen. Wer für den Nachwuchs im zweiten Lebensjahr keinen Platz in einer Kindertagesstätte (Kita) beansprucht, erhält ab 2013 monatlich 100 Euro als so genannte Herdprämie, ab 2014 gilt die Regelung für Kinder bis zu drei Jahren und die Leistung erhöht sich auf 150 Euro. In Finnland gibt es das Betreuungsgeld schon seit 1985, Norwegen führte es 1998 ein, und Schweden zog vor vier Jahren nach.
Die skandinavischen Länder gelten hinsichtlich ihrer sozial-, bildungs-, arbeitsmarkt-, umwelt- und familienpolitischen Maßnahmen als Spitzenreiter und werden als die sozial gerechtesten Staaten innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eingestuft. Damit bieten sie jedem Einzelnen die zurzeit bestmöglichen Optionen, gleichberechtigt an Bildung, Arbeitsmarkt und Wohlstand teilzuhaben. Doch auch wenn sie in der Gesamtbewertung glänzen, ist noch lange nicht jede politische Initiative im nordischen Raum nachahmenswert.
Denn die Bewertung des Betreuungsgelds in Finnland, Norwegen und Schweden fällt insgesamt negativ aus. Obwohl zwischen den Ländern große Unterschiede hinsichtlich der Inanspruchnahme bestehen, gilt für alle, dass die Mehrheit der Empfänger Frauen sind. Das verstärkt nicht nur traditionelle Rollenmodelle, sondern führt dazu, dass Frauen ökonomisch von ihren Partnern abhängig werden. Vor allem, weil die Bezieherinnen von Betreuungsgeld größtenteils über ein geringes Einkommen und einen niedrigen Bildungsstand verfügen. Häufig haben sie zudem einen Migrationshintergrund. Deshalb steht die OECD dem Betreuungsgeld skeptisch gegenüber: Für zugewanderte Frauen biete das Betreuungsgeld Anreize, zu Hause zu bleiben und reduziere ihre Teilnahme am Arbeitsmarkt um bis zu 15 Prozent. Seit Einführung des Betreuungsgelds nehmen in Norwegen Kinder aus Einwandererfamilien zudem seltener an frühkindlicher Bildung teil. Doch gerade der frühe Besuch von Bildungseinrichtungen, so die OECD, erhöhe die Bildungsleistungen speziell von Migrantenkindern. In Deutschland etwa entwickeln sich Kinder mit Migrationshintergrund und niedrigem sozio-ökonomischem Status hinsichtlich ihrer Sprachfähigkeit häufig nicht altersgemäß. Ein Grund dafür ist, dass sie seltener frühkindliche Bildungsangebote wahrnehmen. Kinder von Eltern mit niedrigem Bildungsniveau und geringem Einkommen besuchen die Kita im Schnitt später. Dadurch sind sie oft sehr kurz – nicht einmal zwei Jahre – in öffentlichen Einrichtungen. Das geplante Betreuungsgeld droht nun, diese sozialen Ungleichheiten noch zu verstärken.
Betreuungsgeld in Thüringen
Nicht nur Kinder im Betreuungsgeldalter selbst sind von schlechterem Bildungszugang betroffen, sondern auch ihre älteren Geschwister. Das ergab jüngst eine Untersuchung in Thüringen, wo es bereits seit 2006 eine Form des Betreuungsgeldes gibt, die dem gesamtdeutschen Konzept sehr ähnlich ist: Der Leistungsbetrag liegt bei 150 Euro, wird jedoch nur für zweijährige Kinder ausgezahlt. Wenn Drei- bis Fünfjährige einen Bruder oder eine Schwester im Betreuungsgeldalter haben, geht ihre Teilnahme an öffentlichen Bildungsangeboten um 30 Prozent zurück. Mütter, die ohnehin zuhause bleiben, um sich um ihr Kleinkind zu kümmern, entscheiden sich also oft, ihre älteren Kinder gleich mit zu betreuen. Die großen Brüder und Schwestern können dann ebenfalls nicht von den Betreuungs- und Bildungsangeboten in der Kita profitieren, obwohl sie bereits heute einen Rechtsanspruch auf einen Platz haben.
Dieser Anspruch weitet sich in Deutschland ab 2013 auf alle Ein- bis Dreijährigen aus. Bei einem derzeit deutschlandweiten Mangel von 160.000 Krippenplätzen, 14.000 Erziehern und 16.000 Tagesmüttern dürfte es jedoch schwierig werden, den Rechtsanspruch auch tatsächlich zu gewährleisten. Die zur Verfügung stehenden Betreuungsplätze werden somit auch weiterhin darüber mitbestimmen, ob Eltern ihre Kinder zuhause erziehen. Auch in Norwegen gab es Mitte der 1990er Jahre, als das Betreuungsgeld eingeführt wurde, zu wenige öffentliche Betreuungseinrichtungen. 75 Prozent aller Eltern bezogen damals Betreuungsgeld. Heute gibt es dort genügend Plätze und die Gebühren für die Kitas sind gesunken. Die Folge: Nur noch ein Viertel der Eltern bezieht Betreuungsgeld. Auch in Schweden, wo es schon zu Beginn der Reform genügend Betreuungsplätze gab, entscheiden sich nur knapp fünf Prozent der Eltern, denen das Geld zur Verfügung stünde, für die Betreuung zuhause. In Finnland hingegen wird das Betreuungsgeld vor allem eingesetzt, um den Bedarf an staatlichen Einrichtungen zu verringern. Zudem sind die Voraussetzungen für Frauen, in Teilzeit zu arbeiten, dort sehr schlecht. Deshalb nehmen mehr als die Hälfte der Eltern von Kindern unter drei Jahren das Betreuungsgeld in Anspruch.
Solange in Deutschland Betreuungsplätze fehlen, dürfte auch die Zahl derjenigen, die eine „Herdprämie“ beziehen wollen, hoch liegen. Nach den Erfahrungen der nordischen Länder werden dies häufig Familien sein, die von frühkindlichen Bildungsangeboten besonders profitieren würden. Norwegen und Schweden konnten diesen Missstand zumindest teilweise auflösen, indem sie ausreichend Plätze zur Verfügung stellten. Zumindest in dieser Hinsicht können die nordischen Staaten doch als Vorbilder gelten – unabhängig davon, ob die „Herdprämie“ nun kommt oder nicht.
Links/Literatur
- Bertelsmann Stiftung (2011). Soziale Gerechtigkeit in der OECD – Wo steht Deutschland?
- Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (2012). Taxing Childcare. Effects on Family Labor Supply and Children.
- Friedrich-Ebert-Stiftung (2012). Betreuungsgeld. Erfahrungen aus Finnland, Norwegen und Schweden.
- Deutschlandradio (11.06.2012). Studie: OECD kritisiert Betreuungsgeld als Integrationshemmnis.
- Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2012). Dem Nachwuchs eine Sprache geben. Diskussionspapier Nr. 6. Berlin.