EU-Marathon der Türkei

Die EU liest der Türkei die Leviten

Eine einseitige Sicht. Das Europäische Parlament verabschiedete am Mittwoch den Fortschrittsbericht 2010 zur Türkei. Neben der steigenden Zahl von Ehrenmorden und Zwangsheiraten, stellt der Bericht weiter erhebliche Mängel in der Zypernpolitik der Türkei fest.

„Mit der (…) Abstimmung wurde die Gelegenheit verpasst, in diesem sensiblen Bereich anzusetzen und Verbesserungen zu erreichen. Dieses Verhalten ist bigott“, SPD-Türkeiexperte Ismail Ertug (MdEP).

Nachdem die EU-Kommission bereits am 9. November 2010 ihren jährlichen Fortschrittsbericht veröffentlicht hatte, zog nun das Europäische Parlament am Mittwoch nach und legte der Türkei eine lange Mängelliste vor: angefangen mit dem stetigen Anstieg von Ehrenmorden und Zwangsheiraten – über die Repressionen bei der Presse- und Meinungsfreiheit sowie bei der Minderheitenpolitik – bis zur heiklen Zypernpolitik. Ebenfalls stimmte das Europäische Parlament für die Eröffnung des Energiekapitels, nicht jedoch für das Verhandlungskapitel über Justiz und Grundrechte.

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Der SPD-Türkeiexperte und Abgeordneter des Europäischen Parlaments Ismail Ertug erklärt hierzu, dass es immer wieder Europas Populisten seien, die der Türkei ihre Rückstände in Sachen Menschen- und Minderheitenrechte vorhielten und ihr die Fähigkeit zum Beitritt absprächen. „Mit der (…) Abstimmung wurde die Gelegenheit verpasst, in diesem sensiblen Bereich anzusetzen und Verbesserungen zu erreichen. Dieses Verhalten ist bigott.“

Ein politischer Bericht?
Ferner spiegeln das Votum des Europäischen Parlaments und der Bericht der Autorin Ria Oomen-Ruijten – aus dem konservativ-christlichen Bündnis EVP – die Mehrheitsverhältnisse im Parlament wider. Denn die EVP besitzt dort eine Mehrheit, die ihren einseitigen Niederschlag im Bericht gefunden hat. Während die Fortschrittsberichte der EU-Kommission als objektive Kritik am Beitrittskandidaten verstanden werden, hält das Europäische Parlament lediglich, je nach Mehrheit, seine Fahne nach dem Wind. So erklärt der türkische Minister für Europaangelegenheiten Egemen Bagis – der türkischen Nachrichtenagentur „AA“ – dass bis zum heutigen Zeitpunkt kein Bericht des Europäischen Parlaments ausgewogen und wahrheitsgetreu gewesen sei.

Zypernproblem. Der Türkei sind innenpolitisch die Hände gebunden
Diese Unausgewogenheit stellt sich am Beispiel des Zypernproblems am deutlichsten dar. Es stimmt zwar, dass die Türkei verpflichtet ist, ihre See- und Flughäfen seit 2005 für zypriotische Waren zu öffnen, unterschlagen wird jedoch das Versprechen der EU von 2004 – im Gegenzug – die politische und wirtschaftliche Isolation des von Türken bewohnten Nordens aufzuheben. Folglich befinden sich beide Seiten in einem Dilemma, welches durchaus erst mit der Aufnahme der Republik Zypern (2004) in die EU begonnen hat – die seitdem das Versprechen der EU durch ein Veto unterminiert und die Isolation des türkischen Teils der Insel aufrechterhält.

„Zwischen den Fronten bleiben die türkischen Zyprer, deren Unmut sich zunehmend in den vergangenen Wochen gegen ihr Mutterland die Türkei richtet „

Dabei hatte sich die Türkei – im Zuge des vom ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan und dem nach ihm benannten Annan Plan – für eine Wiedervereinigung der Insel nach dem Schweizer Kantone Modell stark gemacht. In einem Referendum auf beiden Seiten der Insel stimmten die Türken mit großer Mehrheit für diesen Plan und die griechischen Zyprer indes gegen ihn. Eine große Chance war vertan! Kurz vor den Wahlen in der Türkei am 12. Juni 2011, wird es ferner die Regierung unter Erdogan nicht wagen können, Konzessionen einzugehen, ohne große Stimmenverluste bei den Parlamentswahlen zu provozieren.

Denn Zypern stellt in den Augen vieler Türken eine Frage der nationalen Souveränität dar, sodass der Türkei hier weitestgehend die Hände gebunden sind. Unterdessen werden zwischen den beiden Fronten die türkischen Zyprer zerrieben, deren Unmut sich zunehmend in den vergangenen Wochen gegen ihr türkisches Mutterland richtet. Denn ihre wirtschaftliche Situation bleibt wegen der anhaltenden Isolation durch die EU um meilenweit schlechter als die der Südzyprer, obwohl die Türkei den Norden mit ca. 800 Mio. Dollar pro Jahr unterstützt.

Menschen- und Minderheitenrechte, Repressionen, Ehrenmorde, Zwangsheiraten
Die Kritiken des Fortschrittsberichts finden sich auch wieder in denen der EU-Kommission, die jährlich seit 1998 veröffentlicht werden. Sie sind dort jedoch ausgewogener dargestellt und verzerren nicht das Bild der Türkei. Der jüngste Bericht der EU-Kommission beanstandete die Lage – vor allem der christlichen und der alevitischen Minderheit in der Türkei – und die Presse- und Meinungsfreiheit. Sie ließ jedoch nicht außer Acht, dass die Türkei ebenfalls Fortschritte in den genannten Feldern vorwies.

Unterdessen bietet die aktuelle politische Lage in der Türkei tatsächlich Grund zur Besorgnis. Die Inhaftierung von Journalisten – beispielsweise beim Sender ODATV – im Verlauf des zweiten Ergenekonprozesses – scheint ein Angriff auf die Pressefreiheit zu sein, welche den EU-Beitrittsprozess der Türkei erheblich gefährden könnte. Daher täte die Türkei zuallererst für ihre eigene demokratische Entwicklung gut daran, kein weiteres Wasser mehr auf die Mühlen der EU zu gießen. Denn die Türkei braucht eine glaubwürdige EU-Perspektive für die Durchsetzung ihrer eigenen demokratischen Reformen und das ist nur möglich, wenn sie vollends im Einklang mit europäischen Werten steht. Die Türkei darf zudem nicht vergessen, dass sie am Ende der Beitrittsverhandlungen auch das Europäische Parlament auf ihre Seite ziehen muss, welches über die Aufnahme eines Kandidaten – mit der absoluten Mehrheit – mitentscheidet.