Ekin Deligöz

„Ich kann auf das Beste zweier Kulturen zurückgreifen“

Ekin Deligöz, stellvertretende Vorsitzende des Familienausschusses, über ihre Schulzeit, die Familienpolitik der Grünen, mögliche Koalitionen nach der Bundestagswahl und die Rolle von Migranten in der Politik.

MiGAZIN: Sie sind 1979 mit Ihrer Familie nach Deutschland gekommen. Welche Erinnerung aus Ihrer Schulzeit in Deutschland hat Sie am meisten geprägt?

Ekin Deligöz: Ich kam zunächst in eine türkische Klasse mit einem türkischen Lehrer. Sogar die Pausenhöfe der türkischen und deutschen Schüler waren getrennt. Wir hatten lediglich drei Stunden Deutsch in der Woche. Ich wollte unbedingt Deutsch lernen sollte es aber nicht! Gut, dass ich damals wie heute ein Sturkopf war bzw. bin. Ich habe Deutsch gelernt trotz der damaligen Schulpolitik, die dies nicht vorgesehen hat. Seit dem hat sich viel geändert. Aber nach wie vor gibt es große Defizite bei der Förderung von Migrantenkindern im Bildungssystem. Um dies zu ändern, mache ich grüne Politik.

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MiGAZIN: Sie sind bereits seit 1998 Bundestagsabgeordnete und werden voraussichtlich auch nach den bevorstehenden Bundestagswahlen ihr Mandat weiter ausüben. Woher kommt Ihr Erfolg?

Deligöz: Ich kann auf das Beste zweier Kulturen zurückgreifen: Kommunikationsfähig, freundschaftlich, herzlich und zuvorkommend, einfühlsam, emotional und grün. Das sind meine türkischen Eigenschaften. Fleißig, pünktlich, ehrgeizig, hartnäckig und grün. Das sind meine deutschen Eigenschaften. Suchen Sie sich die Antwort aus.

MiGAZIN: Sie sind stellvertretende Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Vorsitzende der Kinderkommission und türkischstämmig. Mal provokativ gefragt, geht das?

Deligöz: Wenn wir diese Gesellschaft gerechter gestalten wollen, dann müssen wir bei Bildungs- und Teilhabechancen von Kindern anfangen. Wer, wenn nicht ich, die sich im jetzigen System durchsetzen musste, kann eine authentische Politik machen? Ich bringe oft meine Erfahrungen ein und suche nach Lösungen für die gesamte Gesellschaft, für alle Kinder. Ideen habe ich genug. Ich freue mich, dass ich damit auch eine große Anerkennung erfahre.

MiGAZIN: Auf dem „Medienforum Migration“ in Stuttgart sagten Sie, dass viele Menschen überrascht reagieren, wenn sie erfahren, dass Sie keine Integrationspolitik machen. Wie erklären Sie sich diese Verwunderung?

Deligöz: Von uns Migranten wird erwartet, dass persönliche Gründe allein der Beweggrund für den Eintritt in die Politik seien. Damit wird ausgeschlossen, dass wir Kompetenzen auch in anderen Themengebieten entwickeln können. Für mich gilt: Ich mache Politik für eine gerechtere Gesellschaft, die menschlich und sozial ist, die unsere natürlichen Ressourcen erhält und die die Umwelt schützt.

MiGAZIN: Als Canan Bayram in Berlin von der SPD zu den Grünen wechselte, wanderte Bilkay Öney von den Grünen zur SPD ab. Gemunkelt wurde, dass der Posten der integrationspolitischen Sprecherin der Auslöser war. Haben Sie das Gefühl, dass Politiker mit Migrationshintergrund von den Parteien in die Rolle des Integrationspolitikers gedrängt werden?

Deligöz: Es wurde „gemunkelt“, das war aber nicht der Grund! Mehr kann ich dazu nicht sagen. Wenn Sie mich aber fragen, warum Migranten das Thema übernehmen: Migranten sind als Migrationspolitiker authentischer, entsprechen den Erwartungen der Parteikollegen, der Medien und ihrer Herkunftsgesellschaft. Das ist ein Bonus und erleichtert den Einstieg in die Politik. Ich habe den steinigeren Weg gewählt. Aber: Ich liebe Herausforderungen, mit denen ich wachsen kann.

Im September 1979 kam Ekin Deligöz mit ihrer Familie in die Bundesrepublik Deutschland. 1992 bestand sie in Weißenhorn das Abitur und absolvierte anschließend ein Studium der Verwaltungswissenschaften in Konstanz und Wien. Schon als Schülerin wurde sie 1988 Mitglied bei Die Grünen. Sie ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages. Hier war sie von 2002 bis 2005 Parlamentarische Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Seit November 2005 ist sie stellvertretende Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Mitglied der Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder (Kinderkommission) des Deutschen Bundestages.

MiGAZIN: Familienpolitik wird oftmals als Domäne der Unionsparteien wahrgenommen. Was sind die wesentlichen Unterschiede der Grünen Familienpolitik?

Deligöz: Bei allem, was die Unionsparteien in der Familienpolitik machen, haben sie die traditionelle Familie vor Augen und akzeptieren nicht, dass es heute viele verschiedene Formen des familiären Zusammenlebens gibt. Aber nicht nur je nach Familienform werden Familien von den Unionsparteien unterschiedlich behandelt. Auch was verschiedene Einkommensgruppen anbelangt, handeln sie ungerecht. Familien, die über ein hohes Einkommen verfügen, bekommen unterm Strich am meisten und nicht etwa diejenigen, die am meisten bräuchten. Wir Grünen hingegen setzen uns dafür ein, dass endlich Schluss ist, mit den Ungerechtigkeiten im bestehenden Ehe- und Familienfördersystem. Wir stellen das Kind in den Mittelpunkt der Förderung und erkennen an, dass es verschiedene Formen des familiären Zusammenlebens gibt. Wir setzen uns dafür ein, dass jedes Kind unabhängig von seiner Herkunft einen guten Start ins Leben bekommt und gesund aufwachsen kann.

MiGAZIN: Im März 2009 entsandte die Türkei eine Delegation nach Deutschland, die sich ein Lagebild von türkischen Pflegekindern gemacht und die Praxis deutscher Jugendämter angeschaut hat. Aus der Zusammenfassung der Delegation geht hervor, dass massive Probleme sowohl in der Verwaltungspraxis als auch in türkischen Familien bestehen. Wie bewerten Sie die Lage türkischer Familien und Pflegekinder in Deutschland?

Deligöz: Familien, die Probleme haben, dürfen wir nicht alleine lassen – sie müssen begleitet und sinnvoll unterstützt werden. Wichtig ist, dass die gebotenen Hilfen für Familien niedrigschwellig und nachhaltig ansetzen. Für eine gute Zusammenarbeit ist es wichtig, dass Ängste und Vorbehalte abgebaut werden, um zum Wohle der Kinder eng zusammen arbeiten zu können.

MiGAZIN: Gesetzlich sind Jugendämter verpflichtet, bei der Suche nach geeigneten Pflegefamilien auch die Religionszugehörigkeit der Eltern des Pflegekindes mit zu berücksichtigen. Dies erweist sich laut Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter schwierig, weil sich zu wenige muslimische Familien als Pflegeeltern anbieten. Wie beurteilen Sie die Situation?

Deligöz: Soweit mir bekannt ist, setzen Jugendämter immer alles daran, geeignete Pflegeeltern für Pflegekinder zu finden.

MiGAZIN: In der türkischsprachigen Presse in Deutschland beschweren sich türkisch-muslimische Familien zunehmend, dass ihre entzogenen Kinder Seitens der Jugendämter vorsätzlich in nichtmuslimischen Familien zur Pflege gegeben werden und keine Rücksicht auf die Religion der Kinder genommen wird. Wie bewerten Sie diese Praxis – sofern bekannt – aus familien- und integrationspolitischer Sicht?

Deligöz: Mir liegen dazu keine relevanten Hinweise vor. Generell ist aber wichtig, dass in den Jugendämtern auch Personen mit Migrationshintergrund oder interkulturellen Kompetenzen arbeiten.

MiGAZIN: Sind ähnliche Probleme auch bei anderen Migrantengruppen bekannt?

Deligöz: Nein

MiGAZIN: Im Oktober 2006 gab es teilweise heftige und kontroverse Diskussionen, nachdem Sie muslimische Frauen dazu aufgerufen haben, ihre Kopftücher abzulegen. Würden Sie, wenn Sie heute zurückblicken, diesen Aufruf wieder machen?

Deligöz: Ja

MiGAZIN: Wir befinden uns im Superwahljahr. Die Bundestagswahlen stehen bevor. Wieso sollten sich die Wähler für die Grünen entscheiden?

Deligöz: Wir sind die Partei, die innovative, mutige und richtige Antworten auf bestehende Probleme und Herausforderungen gibt – die sich nicht damit abfindet, dass wir in einer blockierten Gesellschaft leben, in der immer mehr von der sozialen Teilhabe ausgeschlossen sind. Dies gilt insbesondere für Kinder. Anders als die anderen Parteien machen wir bestehende Ungerechtigkeiten transparent und fordern mehr soziale Gerechtigkeit im System. Während die anderen Parteien altmodische Klientelpolitik betreiben, machen wir uns für eine direkte Förderung von Kindern stark. Deswegen wollen wir mit der Grünen Kindergrundsicherung das derzeitige ungerechte Ehe- und Familienfördersystem vom Kopf auf die Füße stellen. Wir wollen uns von den Steuerprivilegien der Besserverdienenden verabschieden und Kinder direkt fördern.

MiGAZIN: Mit welcher Partei könnten Sie sich persönlich am ehesten eine Koalition vorstellen und mit welcher überhaupt nicht?

Deligöz: Am ehesten könnte ich mir eine Koalition mit der SPD vorstellen – die ist uns inhaltlich, konzeptionell am nächsten. Undenkbar ist für mich eine Koalition mit der LINKEN. Die spielen bewusst mit den Ängsten der Menschen, versprechen alles, ohne sich Gedanken um die Umsetzbarkeit ihrer Vorschläge zu machen.

MiGAZIN: Welche Maßnahmen der schwarz-roten Regierungskoalition würden Sie sofort ändern, wenn Sie drei Wünsche frei hätten?

Deligöz: Zunächst einmal würde ich den Einbürgerungstest abschaffen – der zeugt allein von Misstrauen und dem Willen zur Abschreckung. Die soziale Ungerechtigkeit im bestehenden Ehe- und Familienfördersystem wurde durch die Große Koalition noch verschärft. Das würde ich mit Hilfe der Grünen Kindergrundsicherung ändern: Die, die mehr brauchen, sollen auch mehr bekommen. Um Kinder wirklich angemessen fördern zu könne, würde ich darüber hinausgehend das Kooperationsverbot aufheben. Bildung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Nur wenn alle Ebenen miteinander kooperieren, schafft Deutschland endlich ein leistungsstarkes Bildungssystem, in dem Kinder und junge Menschen früh und individuell gefördert werden.

Das Interview führte Ekrem Senol, MiGAZIN