Meinung

„Törichter Pessimismus“ oder was will der Lissabon-Kläger Gauweiler wirklich?

Der Bürger, MdB Dr. P. Gauweiler, erhebt Verfassungsbeschwerde ((2 BvR 1010/08)) wegen Verletzung seiner persönlichen Grundrechte bzw. grundrechtsgleichen Rechte (Art. 20 Abs. IV GG) und Organklage (Art. 93 I Nr. 1 GG) ((2 BvE 2/08)), weil seine Statusrechte als Abgeordneter (Art. 38 GG) durch Ergänzung des Artikel 45 GG verletzt würden und weil Abhilfe nach Artikel 20 Abs. IV GG wegen Verletzung der mit Artikel 79 III GG gesetzten Grenzen jetzt durch das Gericht erforderlich sei. Dies sei letztlich im Recht auf „Widerstand nach Artikel 20 GG“ begründet.

Nur vollständigkeitshalber sei angemerkt, dass eine hier nicht zu erörternde Klageumstellung im Herbst 2008 erfolgte. Im Übrigen hafte dem gesamten procedere der „Begleitgesetzgebung“ (nebst Änderungen der GOen von Bundestag und Bundesrat) des Deutschen Bundestages der Mangel an, dass diese nicht ausreichend und angemessen im Deutschen Bundestag beraten und der exakte Vertragstext nicht vorgelegt worden sei. Im Wesentlichen werden dabei nahezu identische Begründungen sowohl für die Verfassungsbeschwerde als auch für die Organklage verwendet.

Ziel ist, um es kurz zu formulieren, den gesamten Vertrag von Lissabon (nachfolgend „Lissabon“ genannt) für Deutschland abzulehnen. Damit würde der umfangreiche „Reformvertrag Lissabon“ in der Europäischen Union nicht rechtskräftig, solange nicht alle Mitgliedsstaaten vorbehaltlos zustimmen. Nach Auffassung der Kläger sind das vom Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates, beschlossene Zustimmungsgesetz zu „Lissabon“ nebst Begleitgesetze, nicht verfassungskonform bzw. grundgesetzwidrig. Die eintretenden Änderungen in deutschen Rechtsverhältnissen „zugunsten“ der Europäischen Union überschreiten die im Artikel 79 Abschnitt III gesetzten Grenzen, wenn originäre Zuständigkeiten bzw. Kompetenzen nicht mehr beim gesetzgebenden Bundestag und Bundesrat nebst anderen Verfassungsorganen liegen, sondern auf die Europäische Union übertragen würden. Künftig sei deshalb auch nicht mehr das Bundesverfassungsgericht, sondern der Europäische Gerichtshof entscheidende Instanz. Deshalb fordern die Kläger, die vom Bundestag beschlossenen Gesetze nach Artikel 23 Abs. I S. 3 GG, aufzuheben. Fundamentalkritiker bezeichnen „Lissabon“, unter vieldeutiger Anspielung auf historische Vorgänge vor 1945, als “Ermächtigungsgesetz“, das schon deshalb ungeachtet der Details abzulehnen sei.

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Zum beklagten Beratungs- und Abstimmungsprocedere gibt es das „Eingeständnis“ des Klägers in „Der Spiegel“, dass im Bundestag zu viel Zurückhaltung der Abgeordneten 1 bestehe. Diese Zurückhaltung ist vielleicht Ursache für die jetzt beklagte auf mangelhaften Unterlagen beruhende reduzierte Erörterung, was weder Protokolle 2 noch die zu Protokoll gegebene persönliche Erklärung 3 im Bundestag erkennen lassen. Erstaunlich auch, nachdem nicht zuletzt Bayerns Positionen („überzeugte Verfechter … und aufmerksame Wächter“) 4 im Bundesrat Gehör und in Gesetz und verbindlichen Absprachen zwischen Bundesrat und Bund immerhin Widerhall fanden. Waren bisher 1/3 der Stimmen des Bundestages für Minderheitenrechte notwendig, so sind jetzt dafür in allen Fällen nur 1/4 aller Stimmen notwendig, was gegen die beklagte Verschlechterung des Abgeordnetenstatus im Bundestag im Zusammenhang mit „Lissabon“ spricht. Die Einwände mehrerer Kläger, das Vertragswerk sei „fast unlesbar“ (24.04.2008), nur mit dem Vorvertrag verständlich jedoch nicht konsolidiert vorgelegt worden, verwundern, denn die Beratungen im Bundestag fallen bekanntlich nicht plötzlich ins Plenum.

MdB P. Gauweiler ist mit Prozessvertreter, Prof. Dietrich Murswiek und Gutachter Prof. Karl A. Schachtschneider, nicht allein in dieser Klagesache. Weitere Kläger sind der Bundesvorsitzende der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP), Prof. Klaus Buchner 5 mit Prozessvertreter RA Langgartner und MdB Dr. Dieter Dehm 6 mit 52 weiteren Abgeordneten mit Prozessvertreter Prof. A. Fisahn (Uni Bielefeld) 7, sowie der frühere Thyssenchef Dieter Spethmann und der Dipl.Ökonom Prof. (em.) Joachim Starbatty („Euro-Gegner“). Zuletzt reichte der Jurist, Prof. Markus Kerber als Prozessvertreter und Schriftsatzersteller der Gruppe um Franz L. Graf von Stauffenberg (ehem. CSU-Europaabgeordneter und Vorsitzender des EP-Rechtsausschuss) 8 Klage ein 9. In anderen europäischen Hauptstädten lösten die Klagen Verwunderung aus, 10 als man dort angesichts der Wirtschaftskrise gerade den „Segen des Euro“ lobte. Die Beteuerungen der Euro-Skeptiker, dass die Kläger im Prinzip für die EU seien, werden dort in Erinnerung an das EU-Engagement deutscher Bundesregierungen zumindest teilweise bezweifelt.
Ob die Klage der Fraktion Die Linke (52 Abgeordnete) formalen Anforderungen für das Bundesverfassungsgericht standhalten kann, weckt Zweifel („Gruppenbeschwerde“ weil die Anzahl fürs „abstrakte Normenkontrollverfahren“ fehlt?).

Für den Bundestag sind als Prozessbevollmächtigte und Gutachter Prof. Franz C. Mayer (Uni Bielefeld / Berlin) und Prof. Ingolf Pernice (HU Berlin), Prof.(em.) Christian Tomuschat (HU Berlin) sowie der Vorsitzende des Europaausschuss des Bundestages, MdB Gunther Krichbaum (CDU), Jurist, sowie für die Bundesregierung ergänzend dazu Bundesinnenminister Dr. W. Schäuble (CDU) und Außenminister Frank W. Steinmeier (SPD), zu erwähnen.

Die nachfolgenden Bemerkungen sind weder systematisch noch können die Verfahren formal und inhaltlich im pro und contra vollständig wiedergegeben oder gar alle involvierten Personen genannt werden. Das juristische Scharmützel hat eine sehr hohe politische Dimension, gleichwohl die Richter ausschließlich juristische Sachverhalte prüfen. Prozessvertreter und Gutachter sind ausnahmslos dem Kreis, der die sog. herrschenden Meinungen abbildet, zuzurechnen und außerdem Autoren und Kommentatoren des EU- und Verfassungsrechts. Eine handelsübliche Warnung hierzu sei erlaubt: Deren spannenden Materialien können süchtig machen …

Die Organklage des Bundestagsabgeordneten P. Gauweiler wegen des Zustimmungsgesetzes zu „Lissabon“, erhebt den Vorwurf, dass mit dem „Integrationsprozess die Grenze überschritten“ sei, die „das Grundgesetz der Übertragung von Hoheitsrechten setzt“. Die Integration der Bundesrepublik in die EU höhle damit z. B. die Hoheitsrechte der Staatsorgane entgegen dem Schutz des GG (Art. 79 Abs. III) bis zur „Entstaatlichung“ oder „Entleerung“ aus. Vereinfacht formuliert bedeutet der Vorwurf, durch den sog. ‚Lissaboner Reformvertrag’ würden originäre verfassungsmäßige Rechte der Mitgliedsstaaten weitgehend ausgehebelt. Letztlich verlören dadurch nicht nur gesetzgebende Organe der Mitgliedsstaaten ihre Funktion. Selbst deren letztinstanzliche Gerichtshöfe würden quasi zu Erfüllungsgehilfen des EuGH, was am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts beschrieben wird. Dem ist vorweg entgegenzuhalten, dass die Sicherung des Art. 79 Abs. III GG aus der unheilvollen Geschichte 1933-1945 folgt, wie vom Bundesverfassungsgericht bereits anderweitig festgestellt wurde und dieses Klagevorbringen gegen die „tiefere“ europäische Integration als kaum als tauglich gesehen wird.

Wenn die Kläger indirekt bereits den Beitritt zur EWG/EG/EU insoweit infrage stellen, als sie der EU letztlich durch „Lissabon“ den Status eines föderalen Bundesstaat unterstellen und darin die Auflösung des Rechtsstatus der Bundesrepublik und seiner Bundesländer 11 gesehen wird, ist das, für sich allein genommen, als formaljuristisches Scharmützel dank Grundfreiheiten legitimerweise hinzunehmen. Prozesstaktik für ein Referendum? Ein Weg, um evtl. anderweitig postulierte „Volksabstimmung“ zu forcieren? Um die indirekt beklagte Ratifizierung des EU-Beitritts und seiner ausschließlich durch repräsentativ handelnde Verfassungsorgane anerkannten Rechtsfolgen letztlich zu Fall zu bringen? Es ist schon die Frage bedenkenswert, ob die heutigen Anti-EU-Reformer in Wahrheit die EU-Gegner von morgen sind.

Wer das Ende „existenzieller Staatlichkeit“ insinuiert, im Stillen vielleicht sogar erhofft, verbindet vielleicht damit Vorstellungen, das im Sinne von Artikel 146 „vorläufige“ Grundgesetz durch eine neu formulierte Verfassung anderen Inhalts per Referendum ersetzen zu können. Das ginge sicher leichter, wenn Lissabon zuerst als grundgesetzwidrig abgelehnt und damit für Deutschland auch die EU stark relativiert würde. Denkbar ist allerdings auch als Spruch des Bundesverfassungsgerichts ein Referendum zu Lissabon, begründet durch Artikel 146. Das würde anderen Überlegungen einen Riegel vorschieben, möglicherweise auch die Urteilskraft der Wähler, wie im von EU-Vorteilen gesegneten Irland, strapazieren.

Zur vorgeworfenen Entstaatlichung selbst ist anzumerken, dass die EU nur „geteilte“ neue Kompetenzen erhält. Wobei zu erwähnen ist, dass aus bisherigen Verträgen nicht von allen solchen bereits bestehenden Möglichkeiten Gebrauch gemacht wurde. Außerdem bestehen mit demokratisch legitimierten Vertretern der Mitgliedsstaaten besetzte Koordinierungsausschüsse zu einzelnen Themen, an deren Absprachen bzw. Zielvorgaben sich die EU-Kommission zu orientieren hat, was nicht zuletzt durch das mit „Lissabon“ gestärkte Parlament kontrolliert werden kann. Wer in der Öffentlichkeit verschweigt, dass die Kommission vielfach mit demokratisch legitimierten Vertretern der Mitgliedsstaaten eng verflochten ist, möchte offenbar nicht die Demokratie „retten“, sondern ureigenste Interessen unter diesem Deckmantel favorisieren. Im Bereich der Bekämpfung schwerer grenzüberschreitender Kriminalität haftet einigem Klagevorbringen eine Doppelzüngigkeit an. Innenpolitisch sei z. B. vom Bundesinnenminister „schärferes Vorgehen“ erforderlich und gleichzeitig wird ihm das dazu notwendige staatenübergreifende Instrumentarium verweigert. Außerdem hat die EU in keinem Bereich eigenständige Vollzugsorgane. Dafür bleiben immer die jeweils involvierten Mitgliedsstaaten originär zuständig. Insofern stellt sich hierzu auch nicht die Frage der Gewaltenteilung.

Vielleicht liese sich beim ersatzlosen Fall von „Lissabon“ das völkerrechtliche Subjekt „Deutsches Reich“ mit seinen spezifischen völkerrechtlichen, auf dem Totenbett der Geschichte noch nicht abgestorbenen Fragmenten beim Aushebeln von „Lissabon“ und Ablösung des Grundgesetzes revitalisieren. Eine andere, wenn auch absolut abzulehnende Art, aus den Wirrungen der Geschichte zu lernen.

Vielleicht verfolgt manchen Kläger bei alledem die Sorge, dass sich die Bevölkerung einzelner Staaten zugunsten eines europäischen Volkes auflöse. Jedenfalls ist beim Migrationsdiskurs nicht das Gegenteil erkennbar. Wenn der Kläger als ehemaliger bayer. Umweltminister im September 1991 die kopf- und schlagzeilenträchtige Metapher „Das Boot ist voll“ instrumentalisierte und heute die EU zurückdrängen will, ist darin durchaus ein fernab der Globalisierung auf die Nation des alten Europas reduziertes, vielleicht sogar nur ethnisch begrenztes Strickmuster zu erkennen.

Insofern ist es ausgerechnet der Weitsicht aller zuvor am rechtlichen Integrationsprozess beteiligten Bundeskanzler, primär durch Altbundeskanzler und Europa-Visionär Dr. H. Kohl, zu danken, dass sie für Deutschland die europäische Integration “u n u m k e h r b a r“ institutionalisierten. H. Kohl war zugleich CDU-Vorsitzender, also jener dem CSU-Mitglied, MdB Gauweiler, sehr nahestehende Schwesterpartei.

Dabei tritt das Kuriosum auf, dass ausgerechnet erst mit „Lissabon“ die Austrittsmöglichkeit vertragsgegenständlich und damit der Beitritt Deutschlands vielleicht wieder „umkehrbar“ würde. Ist es dann nicht die falsche Taktik, mit der Verhinderung der Rechtskraft von „Lissabon“ sich der EU prinzipiell zu erwehren?

Räsoniert ein Kläger innerhalb der eigenen Partei über Demokratiemangel, mag er vielfältige Zustimmung auf Parteibühnen ernten. Das Klageargument Demokratieverlust dient prozesstaktisch als variables Füllhorn. Tatsächlich aber bewirkt „Lissabon“ das Gegenteil der Vorwürfe. Erst durch diesen Vertrag statuiert sich das europäische Parlament zum nicht mehr zu umgehenden „Mit-Gesetzgeber“ der EU, ausgestattet mit Klagerechten vor dem EuGH. Eigentlich bestanden schon bisher „mehrere“ Gesetzgeber gemäß den Verträgen, wobei meistens erst die mitgliedsstaatliche Umsetzung die erwünschte Gestaltungskraft entfaltet. Wahlberechtigte Bürger der Mitgliedsstaaten, die Unionsbürger also, wählen die Abgeordneten des nunmehr gestärkten europäischen Parlaments.

„Lissabon“ leistet Abhilfe gegen den beklagten Vorwurf mangelnder Demokratie. „Lissabon“-Instrumente, wie z. B. die „doppelte Mehrheit“ (ab 2014), Prüfungs- und Einspruchfristen, Klagerechte vor dem EuGH usw., schützen im Rahmen zielführender demokratischer Grundvorstellungen vor inakzeptablen, eher zufällig ausgerichteten Konstellationen. Das durch „Lissabon“ mögliche Bürgerbegehren ( mehr als 1 Mio Unionsbürgerstimmen) ist ein weiteres deutliches Indiz gegen mangelnde Demokratie.

Ist das Klagevorbringen nicht ein von Logik befreites Konglomerat an Widersprüchen? Einerseits wird im Grundgesetz an mehreren Stellen die Verbindung zur EU statuiert, aber gleichzeitig fehle die demokratische Legitimation grundsätzlich? Sowohl das deutsche Grundgesetz wie auch die EU stehen weltweit als Katalogvorlage für demokratische Gestaltung von Gemeinwesen, die Fundamentalkritiker aber faseln in Bausch und Bogen von Defiziten und Demokratieverlust. Eine dezidierte Prüfung entlarvt einige Kritiker als untätige und insoweit eben „törichte“ Pessimisten, die ihre Gestaltungschancen kaum bis gar nicht wahrnehmen, während andere das eigene politische Schicksal mit dem Willen der Gestaltung der EU verbinden.

Erstmals wird auch die als „Frühwarnmechanismus“ kommunizierte 8-Wochen-Widerspruchs- und Prüfungsfrist durch nationale Parlamente (Subsidiaritäts-Rüge) und bei Nichtbeachtung des Widerspruchs als Subsidiaritäts-Klage vor dem EuGH statuiert. Und genau dies, so die Kläger, hebele die im Grundgesetz garantierten Rechte, nicht zuletzt durch zu kurze Fristen, aus. In frühen Vorbereitungsphasen und im Gesetzgebungsverfahren waren Wortmeldungen gegen die Fristbemessung bzw. für andere Fristen nicht auf der Tagesordnung. Teil demokratischer Orientierung bleibt die Mehrheitsentscheidung, in der Voten auch untergehen, bei 27 Mitgliedsstaaten kaum verwunderlich.

Wenn ausgerechnet im „Raum Sicherheit und Verteidigung“ gefährlich wirkende Instrumente der EU beklagt werden, irritiert das ganz außerordentlich.
„Sicherheit und Verteidigung“ als friedensstabilisierende Domäne der EU verdrängt die sog. „Kleinstaaterei“ schon im Vorfeld, die bereits bei Strategien gegen Kriminalität und Terrorismus absolut untauglich war. Apropos Kleinstaaterei, statt des aufwendigen EU-Konzepts vielleicht lieber die kleine Verteidigungs-Lösung, wenn der Kläger am 7. Januar 2008 meinte „Deutschland wird in der Münchner U-Bahn verteidigt, am Bahnhof Zoo in Berlin und in der Frankfurter Innenstadt“ ? ….

Dieser EU-Domäne, auch als EU-NATO bezeichnet, von Klägern zugeschriebene Militarisierung und diffuse Kriegsaspekte werden vom faktischen Beispiel „Zypern, Türkei und Griechenland“ widerlegt und neutralisiert beklagte Vorwürfe schon im Keim. Die EU bewirkt, dass Verhältnisse endlich und ausschließlich am Verhandlungstisch geklärt werden und insoweit, wie sich in anderen Konfliktfragen (z. B. Kroatien / Slowenien) erweist, wirkt die EU zwar langsam, dafür jedoch eindeutig präventiv für Frieden.

Nicht erst 2003 wurde die multilaterale Sicherheitsstrategie als unverzichtbar postuliert. Kein Land kann heute komplexe Situationen (siehe EU-Mission gg. Piraterie) im Alleingang lösen. (ESS 12.12.2003; GASP). Nur am Rande sei erinnert, wie nutzlos Alleingänge bei Regelungen des internationalen Kapitalverkehrs von Anfang an sind, wie wenig Einfluss einzelne Staaten im globalen Wirtschaftsverkehrs oder jüngst im „Gas-Streit“, geltend machen können. Überdeutlich wird die Notwendigkeit beim Thema „Klima und Umwelt“ oder in Sachen Raumfahrt u.ä.
Frieden im umfassendsten Sinne demokratischer Staaten, wie dies 27 Mitgliedsstaaten organisieren, wirkt eben nicht freiheitsgefährdend. Nichts anderes als der erwähnte Frieden konkretisiert jedem einzelnen Bürger die Freiheit im dann tatsächlich auch individuell gestaltbaren Alltag seines Gemeinwesens. Das ist die Kausalität der Europäischen Union!

Außenminister F. W. Steinmeier warnt vor gestriger „nationaler Schneckenhaus“-Mentalität der Kritiker, statt sich an der Zukunftsfähigkeit zu orientieren. Innenminister Dr. W. Schäuble fordert als ultima ratio „andere Form der polizeilichen Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg“ und gab zu bedenken, nicht „jede Aufgabenwahrnehmung auf supranationaler Ebene als Verlust an nationaler Souveränität“ zu konstatieren. Im Übrigen ist zu bemerken, z. B. bei „Schengen“ ohne „Lissabon“, fehlt im Kontext das Gelbe vom Ei, auch wenn es sich hierbei nicht nur um Gemeinschaftsrecht handelt. Beide Minister-Statements sind nur zu berechtigt und sehr wohl bedeutend. Nur im erweiterten Raum wächst die notwendige gemeinsame Stabilität und Sicherheit nach innen und außen.

Der Wert des scheinbar ewigen „EU-Debattierclub“, wenn es um Sicherheit und Verteidigung geht, sollte allen EU-Kritikern gerade in diesen Tagen bewusst werden, wenn desaströse Verhältnisse wie im Iran machtlos zu ertragen sind. Dieser „Vorgang“ beweist übrigens auch, wie wichtig und hilfreich die Integration der Türkei ist, denn dadurch erhält die EU ein zuverlässiges Mitglied für den Frieden und die Türkei einen Sicherheitsgewinn für sich selbst. Es bleibt einigen Beobachtern auch nicht verborgen, dass Fundamental-Kritiker der EU zugleich Fundamental-Kritiker des Türkeibeitritts zur EU sind.

Der „EU-Debattierclub“ mit 27 Staatschefs funktioniert im Bereich Sicherheit und Verteidigung problemadäquat, auch wenn manchmal mehr Entscheidungssfreude wünschenswert erscheint. Wieso aber hierzu Demokratiedefizit beklagt bzw. Legitimationskritik geübt wird, entzieht sich jedoch der Logik. Es sind die in der EU beschließenden, demokratisch legitimierten Vertreter des jeweiligen Landes. Auch wenn der erweiterte Europarat debattiert, beweist sich, dass die zunehmende EU-Integration tendenziell freiheitsstabilisierend auf alle involvierten Länder wirkt. Angesichts dieser Fakten bleibt zu hoffen, dass auch das Bundesverfassungsgericht die immense Bedeutung vertiefter europäischer Integration gerade im Bereich „Sicherheit und Verteidigung“ anerkennen kann.

Warum also klägerseitig ausgerechnet den Vertrag von Lissabon ablehnen?
Vielleicht weil nach der „Maastricht-Niederlage“ Öffentlichkeit suchende Kläger darin das „letzte Gefecht“ 12 erkennen, der sich entwickelnden europäischen Ordnung entgegenzutreten?
Im europäischen Haus des Friedens soll es eben nicht mehr zu Niederlagen und letzten Gefechten, sondern zu modifizierten Einigungen einer großen Staaten- als völkerrechtlich anerkannten Rechtsgemeinschaft kommen, deren Mitglieder souverän genug sind, Aufgaben und Funktionen zur Verwirklichung gemeinsamer Ziele, zu delegieren.

Prof. Schachtschneider aber schreibt identisch mit anderen Klägern, den „neuen“ Lissabon-Instrumenten die Wirkung zu, dass damit Grundrechte des Bürgers verletzt, Bundestagsabgeordnete und der Bundestag als Gesetzgeber eingeschränkt, die Möglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts bei der Abhilfe und damit grundgesetzlich garantierte demokratische Prinzipien zumindest zu sehr relativiert, in einigen Fällen sogar drastisch verletzt würden. Dabei postulieren Kläger, wie eingangs bereits erwähnt, das Demokratie und Verfassung schützende Widerstandsrecht aus Artikel 20 Abs. 3 GG, gegen den durch „Lissabon“ eintretenden Zustand, der nun Abhilfe durch das Bundesverfassungsgericht erfordere.

Welche Juristen wüssten nicht zu komplexen Vertragswerken ‚kreative’ und prozesstaktische Bedenken zu formulieren, besonders wenn Grundskepsis oder gar Ablehnung vorherrscht?
Vorweg sei darauf verwiesen, dass die europäische Grundrechtecharta (Art. 1 enthält „Menschenwürde unantastbar“) zwar in Nizza (2000) formuliert und beschlossen wurde, jedoch erst mit „Lissabon“ vertragsgegenständlich wird. Im Übrigen ist auf Entscheidungen des EGMR zu verweisen. Insofern ist der Vorwurf, mit „Lissabon“ würden die Grundrechte der Unionsbürger relativiert, nicht nachvollziehbar. Selbst der Diskurs zu einem früheren EuGH-Urteil wird mit „Lissabon“ zur Vergangenheit.

Skeptiker illustrieren die EU gerne als verantwortlich für eine Bürokratiekosten-verursachende Gesetzesflut, wobei gerne Prof. Roman Herzog (Altbundespräsident und ehem. Präsident des BVerfG) zitiert wird. Für die durch andere Interessenten mit Diskreditierungsabsicht zitierte Auffassung, „60-70% EU-Einfluss auf deutsche Gesetze“, fehlen objektive Daten. Deutsche hohe Dichte gesetzlicher Regelungen verstrickt sich entsprechend hoch mit EU-Regelungen. Prof. Karpen 13, untersuchte 698 Gesetze im Zeitraum 2005-2007, die im statistischen Durchschnitt mit 26% vom EU-Recht betroffen seien. Der EU-Anteil z. B. im Lebensmittelbereich grenze dabei im 90%-Bereich. Andere Untersuchungen liegen bei 30-40% im Durchschnitt, andere europäische Länder zeigen erheblich geringere Anteile (Österreich 14%). Belastbare europäische Vergleiche sind nicht bekannt. Im Diskurs zur europäischen Integration den erweiterungsbedingten Verrechtlichungsprozess quantitativ gegen die EU zu verwenden, fehlt die Logik und er eignet sich qualitativ kaum zur verfassungsrechtlichen Diskussion. Ähnlich fragwürdig wird anderweitig in Sachen „Straßburg oder Brüssel“ von Gegnern agiert, die anfangs von 250 Mio € allein für Straßburg sprachen. Auf beide Arbeitsorte zusammen entfallen ca. 40 Mio €, der geringste Anteil davon auf Straßburg.

Mögen Verfassungsrichter das eine oder andere Detail von „Lissabon“ erwartungsgemäß konkretisieren und korrigieren, so zeigen sich dem Unbefangenen, vor allem aber dem europaorientierten Beobachter, teilweise schwer fassbare Argumente und eher konsternierender Widerspruchskontext im Klagevorbringen. Die dezidierte Prüfung beklagter Vorwürfe mutierte mit allen Materialien schon zu Jahresbeginn bereits zum weit über Tausend-Seiten-Konvolut. Deshalb soll hier ein erhobener Vorwurf zum „sozialpolitischen Raum der EU“, mit im Detail nicht direkt prozessrelevanten Hintergrund skizziert werden.

Auftrieb zeigt dieser Tage die (wahlkampfbezogene) Mindestlohndebatte. Gerade CDU-/CSU-Kreise (und die FDP im Besonderen), waren stets dagegen, auch wenn dies derzeit wahlkampftaktisch nur schaumgebremst moderiert wird.
Prof. Schachtschneider als Rechtsfreund des Verfassungsklägers, MdB Dr. P. Gauweiler, bemängelte im Zusammenhang damit im Februar 2009, dass die EU nicht erst durch Lissabon, eine „… angemessene und befriedigende Entlohnung … millionenfach missachte …“. Diese Auffassung ist nicht nachvollziehbar angesichts seit Jahren nachhaltiger, innenpolitisch motivierter CDU-/CSU- (und FDP-)Kritik gegen „flächendeckende“ Mindestlöhne. Sie seien kontraproduktiv und führten deshalb zu volkswirtschaftlich nicht verantwortbaren Kollateralschäden. 15-20 andere Mitgliedsstaaten regeln unterschiedliche, zumeist flächendeckend ausgeprägte Mindestlöhne. Mit dem Argument, „… die Unionspolitik hat sich weit von den sozialen Grundrechten entfernt …“ verwechseln Schriftsatzersteller offenbar die EU-„Unionspolitik“ mit der „CDU-/CSU-Unionspolitik“, was an Treppenwitze erinnert, um nicht zu sagen, doppelzüngiger geht’s nimmer. Denn die EU strebte nach ursprünglicher, sozialpolitisch fast abstinenter Wirtschaftsgemeinschaft, bekannt als EWG, faktisch sozialpolitische Zielsetzungen jüngst mehr denn je an. Historisch lässt sich zwar auf Turin 1960 als eine von der BRD angenommene „Europäische Sozialcharta“ (Europarat), verweisen. Aber das spätere Mindestlohn-Übereinkommen 14 wird bis heute als „Germany not ratified“ gelistet. 16 Jahre ununterbrochene CDU-Regierung waren für ein „ratified“ zu kurz. Ein teilweise EuGH-bestätigtes Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen die BRD (RL 96/71) wegen Baumindestlöhnen, ist Ausfluss langjähriger „abstinenter Neutralität“ zum Thema. Seit Jahren werden „Mindestlöhne“ mit verschiedenen Kommissionsvorschlägen von den Mitgliedsstaaten uneinig diskutiert. Deutschland zeigt trotz größter Wirtschaftskraft, um es vorsichtig zu formulieren, dabei keinerlei vorrangige Interessen und verwahrte sich in besonderer Einigkeit nicht nur mit bayerischen CSU-Regierungen, gegen statuarische Eingriffe in die Tarifautonomie. Die EU-Kommission hätte lieber gestern generalisierend Mindestlöhne statuiert, als sich notgedrungen mangels mitgliedsstaatlicher Einigung mit Teilschritten zu begnügen. Der distanzierte Beobachter registriert, dass eigene politische Versäumnisse einiger Kläger, wie gehabt, wenn es um Probleme geht, der Verantwortung der EU zugeschrieben werden. „Sehr mutig“ ist es allerdings, dafür sich des Bundesverfassungsgerichts bedienen zu wollen.

Wenn der Gutachter auf Klägerseite, Prof. Murswiek, in der Verfassungsdiskussion dem EuGH vorwirft, dass er sich als „Motor der (europäischen) Integration“ verstehe, adelt dies den EuGH. Sollte der EuGH etwa als Gegner dieser Integration agieren? Welch eigenartiges Verständnis zeigt sich da? Im Januar 2007 etikettierte Altbundeskanzler Kohl im Kupferbau der Uni Tübingen vor über 1.300 Zuhörern die gängigen EU-Skeptizismen als „törichten Pessimismus gegen die EU“ 15.
Ist damit zu rechnen, dass die Kläger eines Tages dem Bundesverfassungsgericht vorwerfen, es sei „für“ den Bestand des Grundgesetzes? Naja, jedenfalls gilt nach wie vor der Grundsatz „auch die andere Seite muss gehört werden“ (audiatur et altera pars). Aber zu hören sind aus dem größten Land wahrnehmbarer Welten, dem virtuellen EU-Mitglied „Absurdistan“, gewohnte und deshalb nicht mehr verblüffende Töne – aber es erstaunt, wer alles dorthin migriert.

Also bleibt nur die Hoffnung und Zuversicht des Beobachters, dass das Bundesverfassungsgericht die bestehende Ordnung des europäischen Hauses festigen hilft und nicht bisher verborgen gebliebene Hindernisse aufspüren muss oder sich gar grundlegender EU-Skepsis bedient. Kritische Richterfragen in der mündlichen Verhandlung sollten nicht voreilig bewertet werden. Dass das Gericht bisheriger Übung folgend, den Respekt vor dem zweifelsfrei eindeutig zum Ausdruck gebrachten Willen des deutschen Gesetzgebers zum Vertragswerk „Lissabon“ vorbehaltlos zum Maßstab der Entscheidung macht, ist eine weitere Hoffnung. Dieser Respekt dürfte auch gegenüber dem großen Kreis der Mitgliedsstaaten nicht verfehlt sein. Dass sich dabei einzelne Klarstellungen und ggf. Nachjustierungen als notwendig empfehlen, ist zu erwarten. Aber im Grundsatz geht es auch um die Bestätigung aller demokratischen und zugleich positiv zur EU orientierten Kräfte für das Europa von morgen.

  1. „Duckmäusertum“, Der Spiegel, 10.04.2009, SPON
  2. 19 DBT-Protokolle mit Bezug auf „Lissabon“ ohne Wortbeiträge des Klägers
  3. nach GOBT § 31; Protokoll 16/157 24.04.2008 S. 16609-16611
  4. CSU-Fraktionsbericht 2008, S. 76
  5. 2 BvE 5/08
  6. 2 BvR 1259/08
  7. 2 BvE 5/08 und 2 BvR 1259/08
  8. 2 BvR 182/09
  9. Lesenswert: TAZ, 11.02.2009, Linke im Schatten Gauweilers http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/linke-im-schatten-gauweilers/; vgl. auch Handelsblatt, 27.01.2009, „Neue Klage gegen EU-Vertrag von Lissabon“; Euro- (und EU-)kritisch: Wilhelm Hankel / Wilhelm Nölling / Karl Albrecht Schachtschneider / Joachim Starbatty, Die Euro-Klage -Warum die Währungsunion scheitern muss, Reinbek: Rowohlt 1998, S. 303
  10. französisches Magazins „L’Express“, Christophe Barbier im französischen Fernsehen „Segen des Euro’s“; W. Hutton: mangels Euro „Kapitalflucht in Großbritannien“, The Observer, 16.11.2008
  11. = „… existenzielle Staatlichkeit weitgehend … beenden …“, Schriftsatz im Klageantrag des MdB Gauweiler gegen das Zustimmungsgesetz, 23.05.2008, erstellt von Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider
  12. H. Prantl, SZ, 24.05.2008
  13. Prof. Dr. Ulrich Karpen, Staatsrechtler an der Universität Hamburg und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Gesetzgebung; Studie zur Gesetzgebung im Auftrag der „Initiative Neue Marktwirtschaft (INSM)“, 29.11.2007
  14. Übereinkommen 130 der Ilo-/IAO Geneve, 1970, zur Festsetzung von Mindestlöhnen
  15. Helmut Kohl, „Europa woher und wohin?“, 10.12.2007, Forum Uni Tübingen (Studium generale), ca. 1300 Zuhörer, moderiert von em. Prof. (em.) Starbatty (Aktionsgemeinschaft soziale Marktwirtschaft), dem früheren „Euro-“ und heutigem „Lissabon-Kläger“