Interview mit Josef Winkler 1
In den letzten Jahren ist die Anzahl der Einbürgerungen erheblich gesunken. Woran liegt das?
Die Hürden sind von der großen Koalition höher gelegt worden, insbesondere für junge Ausländerinnen und Ausländer – selbst für diejenigen, hier geboren worden sind. Dann gibt es noch die Unart der Bundesregierung, von den Ausländern immer wieder Dinge zu fordern, die die meisten von ihnen längst erbracht haben. Einbürgerungstests müssen sie jetzt ablegen. Sie bekommen durch diese Tests das Gefühl, dass man sie nicht als Teil dieser Gesellschaft haben will und dass man immer wieder neue Hürden erfindet, um sie fernzuhalten. Es gab ja überhaupt nicht das Problem, dass irgendjemand, der eingebürgert wurde, die Gesellschaftsordnung nicht gekannt hätte. Zumindest konnte mir keiner einen Fall nennen. Deswegen brauchen wir auch keine neuen Tests. Warum sollten alle, die eingebürgert werden, eine höhere Allgemeinbildung haben müssen als der Großteil der deutschen Ursprungsbevölkerung? Auch das Festhalten der großen Koalition am staatsangehörigkeitsrechtlichen Optionsmodell – dem Zwang für in Deutschland geborene junge Erwachsene, die ihr ganzes bisheriges Leben den deutschen und einen anderen Pass besessen haben, sich bis zum 23. Lebensjahr zwischen dem deutschen und dem Pass ihrer Eltern entscheiden zu müssen, ist integrationspolitisch unverantwortlich. Denn diese Entscheidung geht einseitig zulasten der Heranwachsenden.
Das sind alles solche Dinge, die dazu führen, dass die Einbürgerungen zurückgehen. Man kann feststellen, dass in den letzten drei Jahren die Politik der großen Koalition eher Abschreckung erzeugt und das zeigt jetzt Wirkung.
Was würde sich hinsichtlich der Integrationspolitik ändern, wenn die Grünen an die Regierung kommen?
Es würde sich im Prinzip fast alles ändern. Die Bundeskanzlerin hat für diesen Politikbereich eine sehr schöne Tarnung entwickelt. Sie hat die Staatsministerin für Integration in das Kanzleramt geholt und bezeichnet das als eine Aufwertung dieses Amtes. In Wirklichkeit ist das natürlich keine Aufwertung, sondern nur eine reine räumliche Umorientierung. Frau Merkel macht den Integrationsgipfel und hat einen nationalen Integrationsplan entwickeln lassen, der sehr viele freiwillige Leistungen von der Seite der aufnehmenden Gesellschaft und sehr viele Verpflichtungen von der Seite der MigrantInnen aufweist. Das ist im Prinzip keine Integrationspolitik, wie wir sie uns vorstellen. Wir wollen eine Integrationspolitik, die partizipativ ist und die aber auch gerne von den MigrantInnen was fordern kann, aber insbesondere auch vorher Angebote unterbreitet. Die Union hat keinen Gesellschaftsvertrag im Rousseau’ischen Sinne mit citoyens im Blick, die sich beteiligen, sondern sie sagt: „Hier sind unsere Forderungen, erfülle sie oder du wirst weiterhin von uns als nicht integriert bezeichnet“. Und das ist Integration nach Gutsherren Art mit erhobenem Zeigefinger. Das geht gar nicht.
Frau Böhmer versteht sich nicht als Anwältin der Migrantinnen und Migranten, sondern als die Anwältin der aufnehmenden Gesellschaft. Sie stellt Forderungskataloge auf, die die Zuwanderer zu erfüllen haben. Das ist bedauerlich. Die Problemlagen von Asylsuchenden und Flüchtlingen in Deutschland interessieren sie überhaupt nicht, obwohl sie auch Beauftragte für Flüchtlinge ist. Im Bereich der Frauenrechte und Zwangsverheiratungen setzt sie sich überhaupt nicht dafür ein, dass die Forderungen umgesetzt werden, die die Frauenverbände aufgestellt haben.
Jetzt haben sie die große Koalition kritisiert. Aber was sind die expliziten Vorschläge der Grünen? Wie könnte man bspw. gegen Zwangsverheiratungen vorgehen?
Da muss man sich im Prinzip nur anschauen, welche Forderungen die misshandelten Frauen, zwangsverheiratete Frauen und in ganz seltenen Fällen auch Männer in den Beratungsstellen aufstellen. Das Wesentlichste ist, dass man schneller als bisher ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bekommt und dass man auch dann behält, wenn man sich scheiden lässt. Eine weitere Forderung ist, dass man bei Scheidung, wenn man ausländische Staatsbürgerin ist, nicht zur Ausreise gezwungen wird. Man muss regeln, dass Menschen, wenn sie ins Ausland zwangsverheiratet werden, ein Rückkehrrecht nach Deutschland haben – auch wenn sie länger als sechs Monate im Ausland waren.
Es ist überhaupt nicht von Vorteil, dass man schon einen Sprachnachweis über einfache Deutschkenntnisse vor der Einreise beim Ehegattennachzug machen soll. Das verhindert keine einzige Zwangsverheiratung. Davon bin ich fest überzeugt. Das ist eine reine Schikane für alle anderen. Es gibt tatsächlich Fälle – ich bin ja auch Obmann im Petitionsausschuss – aus allen Kontinenten inzwischen, wo Eheleute nicht zusammen kommen können, weil es gar nicht möglich ist, Deutschkurse in der Qualität zu belegen, wie man sie haben muss. Wenn auch zugegebener Maßen das zu erreichende Niveau nicht so hoch ist, ist es ein riesiger Aufwand, z.T. ein Kostenaufwand, wenn man in einem sehr großen Land wie Brasilien z.B. in die Hauptstadt fahren und dort viele Tage bleiben muss, um den Kurs zu belegen und den vorgeschriebenen Test zu bestehen. Ansonsten muss man den Kurs nochmal belegen. Außerdem gibt es keine Kursangebote und Härtefallregelungen für Leute, die z.B. Analphabeten sind. Aber im Grundgesetz habe ich nirgends gefunden, dass der Artikel 6, der Schutz von Ehe, nur für Leute gilt, die lesen, schreiben und fließend Deutsch sprechen können. Deswegen halte ich persönlich diese Regelung für verfassungswidrig. Es ist nur nicht möglich, weil wir nicht selbst betroffen sind, als Fraktion selber zu klagen. Aber ich hoffe, dass das Bundesverfassungsgericht irgendwann eine Klage vorgelegt bekommt.
Was bedeutet für Sie eine „gelungene“ Integration?
Man nimmt an der Gesellschaft vollständig teil und interessiert sich für die Gesellschaft, in der man lebt, in der auch die Kinder in Zukunft leben werden und die Familie auf Dauer verwurzelt ist. Eine „gelungene“ Integration ist, dass man entsprechend die Möglichkeiten, die der Staat und die aufnehmende Gesellschaft bieten, annimmt und vielleicht durch eigene noch anreichert. Man kann sich nicht über mangelnde Integration beklagen, sich aber nicht darum bemühen.
Für mich ist es auch entscheidend, dass die MigrantInnen nicht nur hinnehmen, was um uns herum vorgeht, sondern es auch respektieren. Dazu gehört insbesondere die Beachtung des Wertekanons des Grundgesetzes – so z.B. die deutsche Antidiskriminierungsgesetzgebung z.B. von sexuellen Minderheiten. Das ist, was ich unter einer gelungenen Integration verstehe. Es würde mich zudem freuen, wenn diejenigen, die hier gut integriert sind, die Einbürgerung in Anspruch nehmen, weil sie dann vollgültige Staatsbürger mit Wahlrecht und mit anderen Teilhabemöglichkeiten sind. Aus grüner Sicht gibt es weiterhin wenig stichhaltige Argumente gegen die generelle Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft. Aber das ist wohl noch auf längere Sicht nicht mehrheitsfähig im Deutschen Bundestag.
Ihre Definition von Integration klingt sehr nach einer „Einbahnstraße“. An einer Stelle auf Ihrer Homepage sagen Sie, es gibt einen Integrationsvertrag und beide Seiten haben Pflichten.
Das ist richtig, die Frage aber war nicht, wie eine gelungene Integrationspolitik, sondern wie eine gelungene Integration aussieht. Gelungene Integrationspolitik würde sicherlich wie der Integrationsvertrag aussehen. Dieser Gesellschaftsvertrag zwischen der aufnehmenden Gesellschaft und den Zuwanderern beinhaltet gleichermaßen Rechte und Pflichten. Auch aus grüner Sicht muss es möglich sein, zu formulieren, was wir von Migrantinnen und Migranten erwarten. Gerade weil wir uns als Anwälte der Migrantinnen und Migranten verstehen, können wir auch sagen, was wir erwarten. Dazu gehört zum Beispiel, dass es keine kulturellen oder religiösen Rabatte bei Grundrechten geben kann. Es kann nicht sein, dass Mädchen nicht in den Schwimmunterricht gelassen werden und nicht an allen Unterrichtseinheiten teilnehmen- sei es Biologieunterricht oder sei es Klassenfahrten. Das Angebot muss natürlich auch sein, dass auf bestimmte Belange der MigrantInnen Rücksicht genommen wird. Zum Beispiel muss sichergestellt werden, dass, wenn in Familien aus bestimmten Kulturkreisen Wert darauf gelegt wird, dass Mädchen und Jungen im gewissen Alter nicht unbeaufsichtigt zusammen sein sollen, für eine entsprechende Aufsicht gesorgt wird.
Dazu gehört aber auch, dass wir dafür sorgen, dass Menschen mit Migrationshintergrund auch im öffentlichen Dienst eingestellt werden. Es wird immer von Parallelgesellschaften gesprochen. Die einzige belegbare Parallelgesellschaft ist der öffentliche Dienst in Deutschland. Er spiegelt mit weit über 95 % „Ursprungsdeutschen“ überhaupt nicht die Bevölkerungssituation wider. Das ist etwas, was aufgebrochen werden muss. Das bedeutet, dass alles dafür getan werden muss, dass erstens das Bildungssystem so ausgerichtet wird, dass es MigrantInnen nicht diskriminiert und das es zweitens so ausgerichtet wird, dass man auch in positiven Rollen Vorbilder in Behörden, an Universitäten und an Schulen als LehrerInnen und ProfessorInnen hat. In diesem Bereich müsste es gezielte Fördermaßnahmen geben.
Haben wir es in Deutschland mit einer „schleichenden Islamophobie“ zu tun?
Wir haben zumindest in der konservativen Presse und in christlich geprägter Presse eindeutig eine islamophobe Haltung. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung macht sich da mit der Welt zusammen zu Anführern einer anti-islamischen Stimmungsmache, indem sie solchen neuen Rechtsfeministinnen mit Migrationshintergrund wie Necla Kelek und Seyran Ates viel Raum bieten. Für jede gelungene Integrationsgeschichte stellen sie die Pest dar, weil sie das Weltbild auf den Kopf stellen und behaupten, dass alle Türken automatisch ihre Frauen misshandeln. Ich lese immer wieder, dass Necla Kelek in der Frankfurter Allgemeine Zeitung über alle Politiker mit Migrationshintergrund herzieht und sagt, sie seien Gutmenschen. Als Kronzeugin war Frau Kelek zu einer Anhörung eingeladen und meinte, man sollte es gesetzlich verbieten, dass Türken, die in Deutschland sind, Türkinnen aus der Türkei heiraten dürfen. Ich habe ihr dann in der Anhörung vorgehalten, dass das wohl nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Aber der Union hat es gefallen. Darauf wurde diese Regelung mit den Deutschkenntnissen vor Einreise beim Ehegattennachzug gefunden.
Frau Kelek hat auf einer ganzen Seite in der Frankfurter Allgemeine Zeitung in pseudohistorischer Aufzählung dargelegt und behauptet, dass die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen und die entsprechende Umwidmung der Hagia Sofia in eine Moschee als eine Parallele zum Moschee-Neubau in Köln zu betrachten ist. Dass das offensichtlich Unsinn ist, das liegt auf der Hand. Aber natürlich hat es was zu bedeuten, wenn in so einer Zeitung solche Parolen zugelassen werden. Da steckt natürlich Absicht dahinter. Aber wir arbeiten dagegen und für die „Integration des Islams in die Gesellschaft“.
Im September wählt Deutschland seine Volksvertretung. Warum sollte man die Bündnis 90/Die Grünen wählen? Für welche Themen stehen die Grünen?
Die übergeordneten Themen sind natürlich Umweltschutz und Klimaschutz. Damit verbunden ist ein lebenswertes Umfeld. Die nächsten Themen sind Generationsgerechtigkeit und selbstverständlich Gerechtigkeit im umfassenden Sinne. Zum einen beinhaltet dies die sozialen Teilhabe und eine sozial gerechtere Politik, die gewährleistet, dass man von der Arbeit auch leben kann. Das heißt, dass es Mindestlöhne geben muss. Aber unter Gerechtigkeit fasse ich auch, dass wir einen Staat haben, der sich nicht alle Rechte herausnimmt und der mit den Bürgerrechten vernünftig umgeht – und nicht so wie Herr Schäuble und die Justizministerin, die ja kaum Abstand nehmen von immer neuen Gesetzen in diesem Bereich. Bei Gerechtigkeit denke ich auch an die internationale Gerechtigkeit, d.h. an Entwicklungszusammenarbeit und an Friedenspolitik.
Vielen Dank für das Interview.
Das Interview führte Filiz Keküllüoglu im Mai 2009.
Das Interview wurde zuerst auf www.migration-boell.de veröffentlicht.