Manuel Schumann: Frau Dr. Strack-Zimmermann, wie kann die Politik Verteilungskämpfe zwischen Flüchtlingen und Einheimischen vermeiden?
Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Mit der klaren Botschaft: Niemand wird seinen Job verlieren, weil jetzt Flüchtlinge hier sind. Das Leben der Bundesbürger wird dadurch nicht eingeschränkt. Diejenigen, die das Gegenteil behaupten, sollten eine Unterkunft besuchen und sich anschauen, unter welchen Bedingungen die Menschen dort leben. Leider gibt es Parteien, die die Angst vor dem Fremden forcieren.
Sie meinen die AfD?
Strack-Zimmermann: Ja, Angst zu verstärken und Neid zu schüren, ist deren Kerngeschäft. Das ist erbärmlich. Wir Freie Demokraten sind überzeugt davon, dass viele der anerkannten Flüchtlinge unser Land bereichern. Sie werden unsere Sprache lernen, eine Ausbildung absolvieren, Steuern zahlen, ja unser Rentensystem stabilisieren. Wir werden voneinander profitieren. Sofortige Integrationsmaßnahmen, Sprachvermittlung und schnellstmögliche Arbeitserlaubnis sind allerdings die Voraussetzung dafür, dass Flüchtlinge, die hier bleiben dürfen, auch gesellschaftlich integriert werden können. Die AfD betreibt Ausländerhetze. Dumm und blöd. Mehr nicht!
Ihre Partei liegt in den Umfragen derzeit bei 5%, im Osten des Landes bei 3%. Die AfD kommt auf 9 Prozent, im Osten ist sie sogar zweistellig. Bereitet Ihnen das Sorge?
Strack-Zimmermann: Gesamtgesellschaftlich bereitet mir das in der Tat Sorge. Mit dem Wahlverhalten uns Freien Demokraten gegenüber, hat das allerdings nichts zu tun. All jene Bürger, die ihr Kreuz bei der AfD machen, sind unverdächtig, Liberale zu sein. Jetzt und in Zukunft.
Welche Schlüsse ziehen aus den hohen Umfragewerten der AfD?
Strack-Zimmermann: Dass durch das chaotische und ungeordnete Vorgehen der Bundesregierung manche Bürger verunsichert sind. Eine Regierung muss führen und Verantwortung übernehmen. Sie muss vor allem in besonders schwierigen Zeiten klare Entscheidungen treffen. Offensichtlich haben einige Menschen in Deutschland das Vertrauen verloren. Das ist nicht ungefährlich, denn es nährt die Antidemokraten.
Sind Sie eigentlich noch immer der Meinung, Angela Merkel verwalte Deutschland im Dämmerschlaf?
Strack-Zimmermann: Bis vor Kurzen, absolut. Es war verheerend, dass der Hilfeschrei der Kommunen ein ganzes Jahr lang ungehört blieb. Erst jetzt hat die Realität im Kanzleramt Einzug gehalten – und zwar mit einem Donnerschlag.
Sie haben der Kanzlerin damals den Rücktritt nahegelegt. Waren diese harten Aussagen auch eine Reaktion auf die Erfolge der AfD? Nach dem Motto: Wir sind auch noch da …
Strack-Zimmermann: Wir Freie Demokraten, die in den Kommunen Verantwortung übernommen haben, haben lauthals und immer wieder darauf hingewiesen, dass zu jener Zeit weder die CDU noch die SPD das Thema Flucht wirklich ernst nahm. In Berlin wurde das Thema herunter gespielt und komplett unterschätzt. Ich habe im April jedem Abgeordneten im Deutschen Bundestag persönlich geschrieben und ihn aufgefordert, endlich seinem Wahlkreis zur Hilfe zu eilen. Die Herrschaften taten so, als kämen da mal eben ein paar tausend Menschen zu uns, die kurze Zeit später wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Deshalb das Wort – und das ist noch untertrieben – Dämmerschlaf.
Und jetzt im Winter sehen Sie das alles anders?
Strack-Zimmermann: Frau Merkel sagte, sie wolle sich nicht an einem Wettbewerb in Europa beteiligen, wer am unfreundlichsten zu Flüchtlingen ist. Da bin ich ganz bei der Kanzlerin Ich hatte allerdings geglaubt, sie übernimmt dann das Ruder und legt los. Falsch gedacht!
Wie meinen Sie das?
Strack-Zimmermann: Sie soll regieren. Dieses Durcheinander, diese öffentlichen Angriffe aus den eigenen Reihen tragen nicht dazu bei, den Bürgern das Gefühl zu geben, die Bundesregierung habe die Lage im Griff. Noch einmal: Deutschland braucht ein Einwanderungsgesetz. Der Zeitpunkt könnte nicht besser sein, ohne wenn und ohne aber!
Erinnern Sie diese öffentlichen Streitereien an die schwarz-gelbe Regierungszeit?
Strack-Zimmermann: Eine öffentlich geführte Diskussion innerhalb einer Koalition ist immer unschön. Die Betonung liegt auf öffentlich. Dass zwischen Koalitionären inhaltlich diskutiert wird, gehört zu Natur der Sache, schließlich handelt es sich um unterschiedliche Parteien, mit unterschiedlichen Programmen. Und jeder ist natürlich bemüht, davon so viel wie möglich durchzusetzen. Ich will aber auch nichts beschönigen. Das Verhältnis zwischen der Union und den Freie Demokraten war äußerst schwierig.
Das heißt?
Strack-Zimmermann: Wir hätten als Freie Demokraten aus der Koalition aussteigen sollen. Das hat auch etwas mit Würde zu tun. Aber das ist Schnee von gestern. Wir schauen in die Zukunft. Die Flüchtlingsfrage ist aus meiner Sicht – nach der Wiedervereinigung – die größte Aufgabe des Jahrhunderts. Sie ist verbunden mit vielen Chancen für unser Land. Aber auch mit Gefahren, wenn man es falsch macht. Und was sehen wir in diesen Wochen? Einen Innenminister de Maizière, der offensichtlich anders agiert als seine Kanzlerin, einen Vizekanzler Gabriel, der in Deckung geht, wenn es ernst wird, und einen Markus Söder, der nicht davor zurückschreckt, nach den entsetzlichen Morden in Paris, Flüchtlinge zu Mittätern zu degradieren.
Frau Dr. Strack-Zimmermann, was würde die FDP, wenn sie dürfte, in der Flüchtlingspolitik als erstes ändern?
Wir hätten bereits Anfang des Jahres reagiert – und nicht gewartet, bis der Druck ins Unermessliche steigt. Schon vor einem Jahr zeichnete sich ab, dass die Zahl der Flüchtlinge deutlich steigen wird. Ich selbst sah dann im Sommer in Griechenland, was es bedeutet, wenn geschwächte Flüchtlinge schnell versorgt werden müssen. Das waren teils dramatische Bilder. Mir war sofort klar: Auch wir in Deutschland werden die Folgen der Flüchtlingsbewegungen bald stärker zu spüren bekommen.
Was folgte daraus?
Strack-Zimmermann: Gemeinsam mit Parteifreunden hatten wir im April beim Finanzminister darum gebettelt, die 500 Millionen Euro, die den Kommunen für die Flüchtlingshilfe zugesagt wurden, mindestens zu verdreifachen. Schließlich sind es die Kommunen, die die Hauptlast tragen. Viele von ihnen sind zurzeit nicht mehr in der Lage, das zu tun, was sie für dringend nötig halten. Da passt es leider ins Bild, dass die meisten Bundesländer die Mittel zur Flüchtlingshilfe nicht zu hundert Prozent an die Kommunen weitergeben. In Nordrhein-Westfalen, um nur ein Beispiel zu nennen, kamen zuletzt nur knapp 20 Prozent der Bundesmittel bei den Kommunen an. Das ist ein Riesenproblem! Kein Wunder, dass unter den vielen ehrenamtlichen Helfern und städtischen Mitarbeitern Frust entsteht.
Ist es aus Ihrer Sicht also vor allem ein finanzielles Problem?
Strack-Zimmermann: Um Flüchtlinge angemessen unterzubringen, brauchen die Kommunen mehr Geld, das ist ein Fakt. Wer das Gegenteil behauptet, ist ein Traumtänzer. Überdies weisen wir Freie Demokraten bereits seit Langem auf haarsträubende Fälle von Bürokratie hin. Beinahe täglich lesen wir von Richtlinien, die Bauprojekte verhindern. Oder auch Regelungen, die es Flüchtlingen unmöglich machen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. In solchen Fällen sind vielen Bürgermeistern die Hände gebunden. In der derzeitigen Lage kann unser Land sich so etwas aber nicht erlauben. Entbürokratisierung lautet daher das Stichwort.
Welche zwei Richtlinien sollten sofort gestrichen werden?
Strack-Zimmermann: Die Dauer der Verfahren, ob jemand im Land bleiben oder abgeschoben werden muss, ist nach wie vor viel zu lang. Die Registrierung ist ja leider Ländersache. An der Stelle ist der Föderalismus fehl am Platz. Der Bund müsste das zentral regeln. Und erst dann die Flüchtlinge auf die Kommunen verteilen. Punkt zwei: Die neue Regel, dass in den Kommunen Flüchtlinge auch in Gewerbe- und Außengebieten untergebracht werden dürfen, gilt nur für drei Jahre. Dieser Zeitraum ist für die Planung in Städten und Gemeinden viel zu knapp bemessen. Wer glaubt, selbst wenn wir zusätzlich neuen Wohnungen bauen, die vorübergehende provisorische Unterbringung sei in drei Jahren vom Tisch, der hat den Knall immer noch nicht gehört.
Mehr Geld für die Kommunen, Entbürokratisierung – was würde die FDP noch angehen?
Strack-Zimmermann: Die Verteilung der Flüchtlinge ist ein großes Thema. Ich halte es für ungeheuerlich, dass der Königssteiner Schlüssel de facto außer Kraft gesetzt ist. Die Bundesregierung kann nicht einmal die Frage beantworten, wie viele Flüchtlinge derzeit in den Erstaufnahme-Einrichtungen untergebracht sind. Ein Armutszeugnis. Wir wären ohnehin einen großen Schritt weiter, würden Bund und Länder diejenigen Aufgaben erledigen, die der Gesetzgeber vorgesehen hat.
Zum Beispiel?
Strack-Zimmermann: Jeder Mensch hat das Recht, Asyl zu beantragen; aber nicht jedem wird Asyl gewährt. Die Bundesregierung stellt die gültigen Regelungen seit Monaten auf den Kopf. Der Bund ist für die Gesetzgebung zuständig – und die Länder müssen die Erstaufnahme organisieren. Erst dann, wenn klar ist, ob derjenige Flüchtling hier bleiben darf, dürfte er in eine Kommune geschickt werden. Derzeit werden dort allerdings beinahe alle Flüchtlinge untergebracht. Die Kapazitäten vielerorts sind weitgehend ausgeschöpft. Der Bund lässt die Kommunen hängen.
Die Große Koalition einigte sich vor Kurzem auf Registrierzentren für Flüchtlinge mit geringen Bleibechancen – vorgesehen sind drei bis fünf Standorte in ganz Deutschland…
Strack-Zimmermann: Das ist ein Nebenschauplatz! Damit werden die Probleme nicht gelöst. Das betrifft – Stand jetzt – lediglich drei Prozent der Flüchtlinge. Ein mageres Ergebnis, wenn man bedenkt, dass die Große Koalition darüber wochenlang diskutierte. In Deutschland halten sich zurzeit mehr als 200 000 Menschen auf, die den Status „geduldet“ innehaben. Es kommt immer wieder vor, dass Duldungen verlängert werden, sogenannte Kettenduldungen. Angesichts des gegenwärtigen Drucks, dem auch unser Land ausgesetzt ist, muss dieses Thema endlich nachhaltig angegangen werden. Die Zahlen müssen sinken.
Wie lautet Ihr Vorschlag?
Strack-Zimmermann: Wir müssen unterscheiden zwischen den Menschen, die aus Kriegsregionen fliehen und jenen, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen. Es ist nicht verwerflich, wenn jemand zu uns kommt, weil er oder sie ein besseres Leben führen will. Schauen wir uns die Geschichte der Vereinigten Staaten an, erkennen wir, wie viele Europäer früher aus genau diesem Grund dorthin immigriert sind.
Aber?
Strack-Zimmermann: Wir müssen jetzt Prioritäten setzen. Deutschland braucht Zuwanderung, Aber bitte geordnet und mit einer klaren Strategie. Nur so kann Integration gelingen. Wir kommen nicht drumherum, diejenigen Menschen, die aus sicheren Herkunftsländern kommen, schnell wieder in jene zurückzuführen.
Derzeit wird über einen Referenten-Entwurf des Bundesinnenministeriums diskutiert. Danach sollen bestimmte Asylverfahren künftig im Schnellverfahren bearbeitet werden. Neben Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten seien auch diejenigen Flüchtlinge betroffen, die ihren Pass zurückhalten, vernichten oder falsche Angaben machen. Wäre die FDP dafür?
Strack-Zimmermann: Wir kümmern uns um Menschen, die unserer Hilfe bedürfen. Was Deutschland zurzeit auch und besonders durch den Einsatz Tausender von Ehrenamtlichen leistet, ist großartig. Natürlich müssen Flüchtlinge wissen, dass Gastfreundschaft keine Einbahnstraße ist. Wer seine Identität verschleiert oder falsche Angaben macht, dem muss klar sein, dass er nicht hier bleiben kann.
Wie würden Sie einer Albanerin und deren Kindern, die Angst vor der Abschiebung haben, erklären, dass sie keine zu Angst haben brauchten, da sie in Albanien sicher seien?
Strack-Zimmermann: Das ist menschlich ganz schwierig Es gehört allerdings zur Ehrlichkeit dazu, dieser Frau zu sagen, dass sie hier keine Zukunft hat. Denn je länger dieser Moment der Heimkehr aufgeschoben wird, desto schwieriger ist es für solche Familien. Wenn Flüchtlingskinder jahrelang hier zur Schule gehen, die Sprache lernen, Wurzeln schlagen – und dann plötzlich mit ihrer Familie zurückgeführt würden? Das geht wirklich nicht.
Wie kann ein Land als sicher gelten, wenn dort Selbstjustiz, Blutrache und Zwangsehen keine Seltenheit sind?
Strack-Zimmermann: Wir nehmen Flüchtlinge auf, die unmittelbar vor den Folgen des Krieges fliehen und die von Terror und religiösen Fundamentalisten akut bedroht werden. Wir können aber nicht allen Menschen in Deutschland eine Zukunft bieten. All das zeigt uns: Wir brauchen dringend ein Einwanderungsgesetz. Ich habe mich in sehr vielen Flüchtlingsunterkünften umgeschaut. Die Menschen dort haben mir von ihren Qualifikationen und Zielen erzählt – übrigens auch Menschen aus Albanien und dem Kosovo. Viele von denen haben in ihrer Heimat als Handwerker gearbeitet. Die sagten mir: „Wir wollen hier nicht faul herumsitzen, wir wollen arbeiten!“
Worauf wollen Sie hinaus?
Strack-Zimmermann: Jenen Flüchtlingen, die in unserem Land eine Perspektive hätten, weil sie bestimmte berufliche Qualifikationen mitbringen, sollten wir nicht grundsätzlich die Tür zuschlagen. In vielen Branchen werden Mitarbeiter gesucht. Ulrich Grillo (Präsident des Bundesverbands der Industrie, d. Red.) hat kürzlich erneut betont, welch großer Bedarf gerade in der Industrie bestehe. Das Handwerk klagt, nicht genug Nachwuchs zu haben. Ich bin überzeugt: Von einem Einwanderungsgesetz würde Deutschland grundsätzlich profitieren.
Wo sehen Sie derzeit die größten Schwierigkeiten?
Strack-Zimmermann: Viele der benannten Berufsabschlüsse entsprechen nicht den deutschen Anforderungen. Also muss die Bundesregierung schnellstmöglich entsprechende Rahmenbedingungen schaffen. Es wäre sinnvoll, würden die Qualifikationen bereits in den Erstaufnahmeeinrichtungen schnell geprüft werden. Wenn man sich als Einwanderungsland versteht und sich geordnete Zuwanderung wünscht, dann ergibt es durchaus Sinn, genau hinzuschauen, welche Fähigkeiten diejenigen mitbringen, die hierherkommen.