Flüchtlinge vor 75 Jahren

Als über Nacht eine halbe Million Menschen nach Deutschland kamen

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, herrschten überall in Deutschland Hunger, Chaos und Verzweiflung. Millionen Flüchtlinge irrten über die Straßen. Vor 75 Jahren nahm das Grenzdurchgangslager Friedland den Betrieb auf. Über Nacht wurde das Lager zum Anlaufpunkt für Hunderttausende.

Als vor 75 Jahren der von den Nationalsozialisten losgetretene Zweite Weltkrieg endlich vorbei war, herrschten überall in Deutschland Hunger, Chaos und Verzweiflung. Millionen Flüchtlinge und Vertriebene irrten über die Straßen, die Versorgung der Menschen mit Kleidung und Nahrungsmitteln sowie der öffentliche Verkehr waren zusammengebrochen. In Friedland bei Göttingen, wo drei Besatzungszonen aneinanderstießen und es einen Bahnhof gab, ordnete die britische Militärverwaltung die Einrichtung eines Auffanglagers an. Am 20. September 1945 nahm das Grenzdurchgangslager Friedland den Betrieb auf.

Quasi über Nacht wurde das Lager zum Anlaufpunkt für Hunderttausende. Schon bis Ende 1945 kamen eine halbe Million Menschen – vor allem Vertriebene aus den ehemaligen Reichsgebieten östlich von Oder und Neiße sowie entlassene Kriegsgefangene.

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Frauen und Kinder in eisiger Kälte

Als erste Behelfsunterkünfte dienten ihnen Schweine- und Pferdeställe auf dem nahen Versuchsgut der Universität Göttingen. Dann stellte man Armeezelte auf, errichtete Holzbauten, Baracken und Wellblechhütten. Die Versorgung der Neuankömmlinge war in den ersten Nachkriegswintern schwierig. Frauen und Kinder drängten sich bei eisiger Kälte in den Hütten und Baracken zusammen. Teilweise nur mit Fetzen bekleidet, liefen die Männer bei Temperaturen bis 20 Grad unter null im Freien herum, um nicht zu erfrieren. 66 Menschen, unter ihnen zehn Kinder, starben.

Besserung brachte der Einsatz der Hilfswerke. Das Deutsche Rote Kreuz und die Arbeiterwohlfahrt (AWO), die evangelische Innere Mission und der katholische Caritas-Verband richteten bis 1948 Büros und Kleiderkammern im Lager ein. „Die Zusammenarbeit war von Anfang an gut“, erinnerte sich der langjährige evangelische Lagerpfarrer Hans-Gerhard Isermeyer. Die Innere Mission kleidete die Frauen ein, die Caritas die Männer, das Rote Kreuz die Kinder, die Arbeiterwohlfahrt die Säuglinge.

Rückkehr zu den Familien

1955 handelte Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) in Moskau die Freilassung der letzten rund 10.000 deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion aus. Diese Reise, bei der auch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vereinbart wurde, war das erste Treffen zwischen den politischen Spitzen der gerade souverän gewordenen Bundesrepublik und der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die meisten Gefangenen kehrten im Oktober 1955 über Friedland zu ihren Familien zurück. Im 2016 gleich neben dem Lager eröffneten Museum Friedland zeigen alte Fotos die ausgemergelten Gesichter und Körper der Entlassenen. In Vitrinen sind in sowjetischen Gefangenenlagern gebastelte Gebrauchsgegenstände ausgestellt – Zigarettendosen aus Blech oder aus Holz geschnitzte Schachspiele.

Grenzdurchgangslager Friedland

Später fanden auch Flüchtlinge aus zahlreichen Ländern vorübergehend Aufnahme in Friedland. Rund 3.000 Ungarn, die nach dem gescheiterten Aufstand ihr Land verlassen hatten, erreichten das Lager 1956. In den 1960er Jahren kamen verfolgte Pinochet-Gegner aus Chile, später „Boat People“ aus Vietnam und Geflüchtete aus Albanien.

Heute ist das Grenzdurchgangslager Friedland die einzige Anlaufstelle für Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. 2011 wurde Friedland eine der Erstaufnahme-Einrichtungen des Landes Niedersachsen für Asylsuchende. 2015 und 2016, als Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland kamen, war das für 700 Personen ausgelegte Lager teilweise dreifach überbelegt.

Flüchtlinge aus Syrien

Flüchtlinge aus sogenannten humanitären Aufnahmeprogrammen wie etwa aus Syrien sowie jüdische Kontingent-Flüchtlinge werden ebenfalls in Friedland registriert. Alle Ankommenden bleiben nur einige Tage im Lager, dann werden sie auf andere Gemeinden verteilt. Bis heute passierten insgesamt rund 4,5 Millionen das von vielen Politikern sogenannte „Tor zur Freiheit“.

„Das Grenzdurchgangslager Friedland symbolisiert wie kaum eine andere Institution Freiheit und Humanität“, sagte die niedersächsische Landtagspräsidentin Gabriele Andretta (SPD): „Es ist ein Hoffnungsort, eine stete Mahnung gegen Krieg und Gewalt.“ (epd/mig)