"Ein Unding"

Seehofers Erlass zur Schleierfahndung ist ein offener Verstoß gegen EU-Recht

Per Erlass hat Bundesinnenminister Horst Seehofer eine verstärkte Kontrolle an deutschen Binnengrenzen angeordnet. Ulla Jelpke schreibt in ihrem MiGAZIN-Gastbeitrag, warum er gegen EU-Recht verstößt.

Der jüngste Erlass von Bundesinnenminister Seehofer an die Bundespolizei zu verstärkten Kontrollen an allen deutschen Binnengrenzen ist ein Verstoß gegen EU-Recht. Verdachtsunabhängige polizeiliche Kontrollen im grenznahen Raum – die so genannte Schleierfahndung – dürfen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollen haben, das räumt auch die Bundesregierung auf meine Anfrage ein (19/126). Wenn es aber nunmehr „wahrnehmbare“, „regelmäßig wiederkehrende Schwerpunktaktionen“ „in unmittelbarer Grenznähe“ geben soll, dann ist das mit EU-Recht offenkundig nicht vereinbar.

Womöglich weiß man das auch im Bundesinnenministerium, und womöglich ist das der Grund dafür, warum die Erlasse an die Bundespolizei vom 30. September und 6. November 2019 den Abgeordneten des Bundestages bislang trotz mehrfacher Anfrage nicht übermittelt wurden: Der Bruch des EU-Rechts könnte in Kenntnis des Wortlauts der Anweisungen allzu offenbar werden. Es bestehe kein Anspruch auf Aktenvorlage oder Dokumentenherausgabe, hieß es zur Begründung aus dem Ministerium lapidar. Auf mein erneutes Drängen hin sicherte jedoch Bundesinnenminister Seehofer im Innenausschuss des Bundestages am vergangenen Mittwoch die Übersendung der Erlasse zu und entschuldigte sich, eine solche Information der Abgeordneten solle auch für die Zukunft sichergestellt werden. Das wäre zu hoffen, denn es ist generell ein Unding, dass die Presse oftmals besser informiert ist als die zur Kontrolle der Regierung berufenen Abgeordneten. Nicht selten stechen Behörden- oder Ministeriumsbeschäftigte interne Papiere gezielt an bestimmte Medien durch – gerne etwa der „Bild“-Zeitung –, um auf diese Weise eine politisch genehme Berichterstattung zu erzielen. Die Offenlegung der Erlasse an die Bundespolizei ist aber nicht nur politisch, sondern auch rechtlich geboten: Denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (hier, hier und hier) und auch deutscher Gerichte müssen die Vorgaben zur Begrenzung der Schleierfahndung rechtlich klar geregelt, transparent und offen sein – interne Anweisungen an die Behörden werden diesen rechtlichen Anforderungen nicht gerecht.

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Die neue EU-Kommission muss die Erlasslage in Deutschland zur Schleierfahndung hinsichtlich ihrer (Un-)Vereinbarkeit mit EU-Recht zügig überprüfen, um den Verstoß gegen das zentrale Prinzip der unkontrollierten Reisefreiheit innerhalb der EU schnellstmöglich zu beenden. Meine Erwartungen diesbezüglich sind allerdings gering, denn schon bei der Fortführung systematischer Binnengrenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze hat sich die Kommission in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt. Vermutlich aus strategischen Gründen (man will es sich mit der Bundesregierung nicht verderben) wurde deshalb bislang kein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland (und andere Mitgliedstaaten) eingeleitet, obwohl die mehrmals verlängerten Kontrollen vom EU-Recht längst nicht mehr gedeckt sind und die EU-Kommission ursprünglich die Beendigung aller Binnengrenzkontrollen bis Ende 2016 (!) angestrebt hatte. Grenzkontrollen innerhalb der EU sind nur im absoluten Ausnahmefall, zeitlich befristet und nur bei erheblichen Bedrohungen für die Sicherheit und Ordnung zulässig – diese Voraussetzungen liegen offenkundig nicht vor.

Auch die vom Bundesinnenministerium angeordnete direkte Zurückweisung von Schutzsuchenden, gegen die ein Wiedereinreiseverbot ausgesprochen wurde, ist meines Erachtens ein klarer Verstoß gegen EU- und internationales Recht: Das Zurückweisungsverbot nach Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention gilt absolut, selbst für schwere Straftäter. Und hierin liegt der eigentliche ‚Lackmustest für die wehrhafte Demokratie‘, von dem Seehofer sprach: Werden die Menschenrechte und rechtsstaatliche Verfahren auch dann eingehalten, wenn „Volkes Stimme“ (oder die BILD-Zeitung) nach einem kurzen Prozess ruft – wie im Fall Miri?

Zur Erinnerung: Wegen der rechtlich unzureichend geregelten Schleierfahndung hatte die EU-Kommission bereits in der Vergangenheit ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet – im Oktober 2014, unter anderem infolge entsprechender Hinweise der Linksfraktion. In der Folge wurde nach längeren Verhandlungen im März 2016 ein Erlass des Bundesinnenministeriums zur Anwendung von § 23 Absatz 1 Nummer 3 des Bundespolizeigesetzes veröffentlicht, der den rechtlichen Bedenken der EU-Kommission Rechnung tragen sollte und im Februar 2017 zur Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens führte – auch wenn nach Auffassung der Linksfraktion dieser Schritt den Anforderungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht genügte. Nach dem Erlass vom 7. März 2016 aber sollen Kontrollmaßnahmen der Bundespolizei im Rahmen der Schleierfahndung unregelmäßig und „stichprobenartig“ erfolgen und „nicht allein aus Anlass des Grenzübertritts“ stattfinden. Die Kontrollen müssten zudem „so ausgestaltet werden, dass sie sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheiden und nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben“. Sie sollen auf konkreten polizeilichen Informationen über grenzüberschreitende Kriminalität beruhen.

Die aktuellen Anweisungen Seehofers zu „wahrnehmbaren“, „regelmäßig wiederkehrenden“ Kontrollen „in unmittelbarer Grenznähe“ , um Personen mit einem Wiedereinreiseverbot ausfindig zu machen, widersprechen damit sogar den eigenen Vorgaben des Erlasses vom 7. März 2016. Es ist erschreckend zu beobachten, wie sehr sich das politische Klima – maßgeblich auch infolge des verhetzenden Wirkens der AfD – inzwischen verändert hat, dass selbst offenkundig rechtswidrige Anweisungen zu grenzkontrollartigen Identitätsfeststellungen ohne wahrnehmbaren Widerspruch bleiben. Im Gegenteil, es gab sogar viel Applaus für den Innenminister aus den Reihen mehrerer Parteien, in den Medien und aus Polizeikreisen. Die Grenzen seien „offen wie Scheunentore“ beklagte sich Polizeigewerkschafts-Chef Rainer Wendt in AfD-Manier, obwohl offene Grenzen innerhalb der Europäischen Union jedenfalls bis gestern noch grundlegend positiv konnotiert waren.