Bleiberecht statt Ausgrenzung

Diese Flüchtlingspolitik ist nicht hinnehmbar

In Zeiten kriminalisierter Seenotrettung und verschärfter Abschiebegesetze ist es ungemein tröstlich und ermutigend, dass es Menschen wie Carola Rackete und Pia Klemp gibt, die als Kapitäninnen ziviler Rettungsschiffe viel riskieren. Von Ramona Lenz und Britta Rabe

Mit Leib und Seele stellen sich Menschen wie Carola Rackete oder Pia Klemp der Verantwortung, die wir als Menschen für einander haben und der sich doch die meisten von uns entziehen, indem wir diese Art der Hilfe an sich in Frage stellen oder zumindest für uns selbst Gründe finden, warum wir uns nicht ins Handgemenge begeben. Die Kapitäninnen und ihre Crew retten Menschenleben und nehmen dafür Strafprozesse in Kauf, aber – was vielleicht noch schwerer wiegt – sie riskieren zugleich, in Situationen zu kommen, in denen sie nicht retten können. Sich stellvertretend für uns alle mit Haut und Haaren dieser existenziellen Gefahr auszusetzen, beruht auf einer freien Entscheidung und verdient genau deswegen unser aller Hochachtung.

Daneben gibt es aber tausende von Menschen, deren Entscheidungsspielräume viel geringer sind und die sich trotzdem in ähnlichen Extremsituationen wiederfinden, in denen sie mit ihrer ganzen Person anderen helfen und für sie einstehen. Viele Geflüchtete haben solche Situationen erlebt. Sie riskieren ihr Leben und stehen zugleich anderen auf der Flucht bei. In den in Europa kursierenden Bildern und Geschichten von weißen Retterinnen und schwarzen Geretteten kommen sie jedoch nur einseitig als in Seenot geratene Opfer oder als Täter des illegalen Grenzübertritts vor. Dieses massive Ungleichgewicht wird an dem Schicksal der drei afrikanischen Teenager besonders deutlich, die Ende März das Frachtschiff „El Hiblu 1“ dazu brachten, die 108 Geretteten an Bord nicht nach Libyen zurück zu schaffen, sondern seinen Kurs zu ändern und nach Malta zu fahren. Ihnen droht dafür lebenslange Haft, aber kaum jemand erinnert sich noch an sie oder setzt sich gar für sie ein.

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Pass und Hautfarbe sind nicht nur entscheidend dafür, wie frei wir uns über den Globus bewegen können. Sie sind auch maßgeblich dafür, welche Zugänge wir in Europa zu Rechten und Rechtsstaat haben und wieviel Unterstützung wir erfahren. Das gilt nicht nur für die unterschiedliche öffentliche Wahrnehmung von weißen und schwarzen Seenotretterinnen und -rettern an den EU-Außengrenzen. Es gilt auch für Menschen, die zwar in Deutschland leben und arbeiten, jedoch nicht die erforderliche behördliche Erlaubnis für ihren Aufenthalt besitzen oder deren Existenz aufenthaltsrechtlich so eingeschnürt ist, dass sie sich nicht frei entfalten können. „Menschen ohne Bleiberecht müssen unser Land verlassen“, erklärte Bundesinnenminister Horst Seehofer jüngst, als der Bundestag das „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ beschloss. Es beinhaltet unter anderem einen neu geschaffenen Status, der noch prekärer ist als eine Duldung, Leistungskürzungen unter das Existenzminimum und die nahezu unbegrenzte Erweiterung von Gründen für Abschiebungshaft. Bei der Innenministerkonferenz in Kiel bekräftigte Seehofer wenig später seine Einschätzung, dass – ungeachtet aller Warnungen vor der sich weiter verschlechternden Sicherheitslage im Land – Abschiebungen nach Afghanistan generell und nicht nur für Straftäter vertretbar seien.

Der gewünschte Effekt aller Gesetze und Maßnahmen gegen Flüchtlinge ist, dass immer mehr von ihnen in permanenter Angst leben und keine Chance auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Deutschland haben. Mit dem Entzug ihrer Existenzgrundlagen werden sie in die Illegalität getrieben und mit ihren Wünschen und Bedürfnissen unsichtbar gemacht. Die damit einhergehende Rechtlosigkeit begünstigt Zwangsverhältnisse. Sie sind gezwungen, illegal und ausbeutbar im Niedriglohnsektor zu arbeiten, als Putzkräfte, in der Pflege oder in der Gastronomie. Ihre Rechte als Mieterinnen, Schüler oder Arbeitnehmerinnen können sie nicht wahrnehmen. Auch eine angemessene medizinische Behandlung ist für viele nicht zugänglich. Und wenn sie Opfer eines Verbrechens werden, können sie keine Anzeige erstatten. Geduldete und Illegalisierte (Menschen ohne Papiere) sind faktisch Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse.

Für ein Land, das stolz darauf ist, die Menschenwürde in seiner Verfassung verankert zu haben, ist ein solcher Zustand nicht hinnehmbar. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es in Artikel 1 des Grundgesetzes, dessen 70. Jahrestag Ende Mai gefeiert wurde. Dieser Satz verpflichtet Staat und Politik, allen, die in Deutschland leben, ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Dieses Grundrecht ist unteilbar: Es gilt für alle – nicht nur für deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Zentrale Bedingung dafür ist die „Freiheit von Furcht und Not“, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt. Wer in permanenter Furcht vor Abschiebung lebt, weil er oder sie lediglich über ein prekäres oder über gar kein Aufenthaltsrecht verfügt, ist von einem Leben in Würde ausgeschlossen.

Entgegen der herrschenden Tendenz zu weiterer Demütigung und Entrechtung von Flüchtlingen und Migranten an den EU-Außengrenzen, aber auch mitten in diesem Land fordern das Grundrechtekomitee und Medico International ein Bleiberecht für alle hier lebenden Illegalisierten und Geduldeten. Diese Forderung wird mitgetragen von mehr als hundert Organisationen bundesweit, darunter auch Seawatch und Seebrücke. Denn genauso wenig wie Seenotrettung ein Verbrechen ist, ist es ein Verbrechen, ein Land zu verlassen, in dem die eigenen Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden, und sich anderswo ein neues Leben aufzubauen.

Was es heute braucht, sind nicht weitere Gesetze und Maßnahmen der Entwürdigung und Entrechtung von Schutzsuchenden, sondern ein Bekenntnis zur Menschenwürde – aller Menschen. Das Sterben an Europas Grenzen muss beendet und die Verantwortung für Schutzsuchende unter den Mitgliedsstaaten der EU geteilt werden. Es gilt, endlich die Aufnahmebereitschaft von über fünfzig deutschen Kommunen zur Kenntnis zu nehmen, die sich zu sicheren Häfen für Geflüchtete erklärt haben. Aber damit nicht genug: Allen Schutz- und Rechtlosen, die zum Teil seit Jahrzehnten in diesem Land wohnen und arbeiten, muss ein Bleiberecht gewährt werden, damit sie in Würde leben können. Es wäre eine politische Geste, die es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben hat.

Die Petition anlässlich des 70. Jahrestages des Grundgesetzes kann unter www.petition-bleiberecht.de unterstützt werden.

Info: Dieser Beitrag ist eine Kooperation von MiGAZIN mit dem Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg. Das Netzwerk versteht sich als Forum von Menschen aus den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Bildung/Weiterbildung, Hochschule sowie angrenzenden Professionen, die sich fachlich und (fach-)politisch in den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Weiterbildung – und auch darüber hinaus – einmischen und dort Rassismus selbststärkend, reflexiv-kritisch und wenn nötig auch skandalisierend zum Thema machen. Das Netzwerk informiert Interessierte in regelmäßigen Abständen von circa 1-2 Monaten per E-Mail-Newsletter über aktuelle Entwicklungen, Veranstaltungen und Publikationen im Feld der Migrationspädagogik.