"Kinder des Holocausts"

Überlebende geben ihre Erinnerungen weiter

Nur 380.000 von 3,3 Millionen polnischen Juden überlebten nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem den Holocaust. Unter ihnen sind auch Kinder, denen oft jahrelang ihre Identität verschwiegen wurde.

Am 27. Januar, dem „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“, wird Aleksandra Leliwa-Koptynska einen Kranz vor dem Ghetto-Denkmal in Warschau niederlegen. Weltweit wird an diesem Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee gedacht. Leliwa-Koptynska ist Rentnerin und Vorsitzende der Vereinigung „Kinder des Holocausts“, die die Interessen der jüngsten Generation von Überlebenden vertritt. Sie überlebten den Krieg zumeist getarnt als polnisch-katholische Kinder.

„Direkt betrifft uns dieses Datum nicht, es ist ein symbolischer Jahrestag für das Ende der Vernichtung“, sagt Leliwa-Koptynska. Die ehemalige Atomphysikerin wurde 1937 geboren. Lange wusste sie nicht, dass sie jüdische Wurzeln hat – es ist das Schicksal vieler der etwa 600 Vereinsmitglieder und oft der Grund für ihr Überleben. Ihre Familie konnte nach dem Einmarsch der Deutschen rasch gut gefälschte Papiere organisieren und musste so nicht in das isolierte „Ghetto für Juden“, sondern konnte auf der sogenannten „arischen Seite“ Warschaus bleiben.

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Leliwa-Koptynskas Vater war Katholik, er starb 1944 durch eine Straftat. Sowohl der ältere Bruder als auch die jüdische Mutter verheimlichten ihr bis zu deren Tod die jüdische Herkunft. Im kommunistischen Polen war Diversität nicht gefragt. Gewissheit bekam Leliwa-Koptynska erst durch hartnäckiges Nachforschen Mitte der 1990er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt gab es die „Kinder des Holocausts“ bereits: Die Vereinigung wurde 1991 von dem ehemaligen Widerstandskämpfer Jakub Gutenbaum in der polnischen Hauptstadt gegründet.

Identität – ein höllisch kompliziertes Thema

Im Vordergrund standen für den Verein anfangs die Suche nach Juden, die den Holocaust als Kinder überlebt hatten, sowie deren finanzielle Versorgung. Später kam die Betreuung von „Gerechten unter den Völkern“ hinzu, den nichtjüdische Polen, die Juden während des Zweiten Weltkriegs vor dem Tod retteten. Heute kümmert sich der Verein hauptsächlich darum, die Lebensgeschichten seiner Mitglieder zu erzählen. Mitglieder treten in polnischen Schulen auf und erzählen ihre Geschichten. Die ehemalige Vereinsvorsitzende Johanna Sobolewska-Pyz tourt gerade mit einer Ausstellung „Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern“ durch Deutschland. Derzeit ist die Schau in Magdeburg zu sehen.

Die 1939 geborene Sobolewska-Pyz wurde aus dem Ghetto geschmuggelt, sie wuchs bei polnischen Ersatzeltern auf. Ihre jüdische Eltern wussten, dass sie selbst nicht überleben werden. 14 weitere ähnliche Schicksale werden in der Ausstellung gezeigt. Bei ihren internen Treffen beschäftigen sich die Vereinsmitglieder vor allem mit dem Problem der „Identität“ – ein „höllisch kompliziertes Thema“, wie es Leliwa-Koptynska ausdrückt: „Bei den ‚Kindern des Holocausts‘ sind wir unter uns und müssen niemandem etwas erklären.“

Nur einer trägt Kippa

Etwa 40 ältere Menschen kommen zu den monatlichen Sitzungen im Versammlungsraum des „Weißen Hauses“, einem 200 Jahre alten Gebäude, das der jüdischen Gemeinde in Warschau gehört. Auf den Klappstühlen sitzen überwiegend Frauen – Jungen waren aufgrund ihrer Beschneidung leicht als Juden zu identifizieren und hatten so während der deutschen Okkupation weniger Überlebenschancen. Nur einer der Männer trägt eine Kippa. Die Mitglieder erzählen, wie sie ihre jüdische Identität entdeckten: „Unsere Eltern, wenn sie in Jiddisch sprachen, erklärten uns, dies sei Französisch“, sagt eine Teilnehmerin. Doch irgendwann ließ sich diese Lüge nicht mehr halten.

Neuerdings werden auch Politiker zum Gespräch eingeladen. Ansonsten sieht sich die Organisation als unpolitisch. Als die polnische Regierung aber das sogenannte „Holocaust-Gesetz“ erlassen wollen, stieß das bei dem Verein auf Kritik: Das Gesetz sah vor, jegliche Äußerungen über eine kollektive Mitverantwortung von Polen an den Verbrechen der deutschen Besatzer zu verbieten. Noch in diesem Jahr will der Verein eine Website erstellen. Das „Verzeichnis der Erinnerung“ soll die Schicksale der einzelnen Mitglieder sammeln – damit ihre Geschichten von den nächsten Generationen nicht vergessen werden. (epd/mig)