Exklusiv-Buchauszug (2/5)

Wie groß war der NSU wirklich?

Am Mittwoch wird das Oberlandesgericht München das Urteil im NSU-Verfahren verkünden. Viele Fragen werden unbeantwortet bleiben. MiGAZIN veröffentlicht in einem Fünfteiler Exklusiv-Auszüge aus dem Buch von Opferanwalt der Nebenklage, Mehmet Daimagüler.

Um die Frage nach der Größe und Struktur des NSU zu beantworten, habe ich mir fast alle Tatorte angeschaut. Viele Anschläge wurden in kleinen Seitenstraßen oder Sackgassen fern der Innenstädte verübt. Wie kamen die Täter auf diese Orte? Wie wählten sie ihre Opfer? Am 25. Februar 2004 starb der 24-jährige Mehmet Turgut gegen 10:20 Uhr in einem Imbissstand. Seit weniger als zwei Wochen arbeitete er erst dort. Der oder die Täter schossen ihm in den Nacken, in die rechte Halsseite und in die Schläfe. Der Imbisswagen stand auf einer Brachfläche zwischen Einfamilienhäusern und trostlosen Plattenbauten in Rostock-Toitenwinkel. Der Imbisswagen hatte weder einen Telefonanschluss noch eine Webseite. Es gab nichts, was man hätte googeln können. Da drängt sich doch die Frage auf, wie die Mörder auf dieses Ziel kamen!? Sind sie kreuz und quer durch Deutschland gefahren, um über diesen Dönerstand zu stolpern? Möglich wäre das, theoretisch.

Allerdings: Die Täter besaßen keinen eigenen PKW. Die von ihnen genutzten Autos waren Mietwagen. Aus den Mietunterlagen wissen wir in etwa, wie viele Kilometer sie gefahren sind. Die gefahrenen Strecken lassen sich in den meisten Fällen gut rekonstruieren. Wenn das Trio Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe Urlaub auf Fehmarn machte, mietete es ein Wohnmobil. Die einfache Strecke von Zwickau nach Fehmarn beträgt etwa 620 Kilometer. Anhand der Mietunterlagen können wir heute nachvollziehen, dass sie mit dem Wohnmobil etwa 1.400 Kilometer zurückgelegt haben. Viel Raum für Umwege bleibt da nicht.

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Zudem ist es auch aus einem anderen Grund unwahrscheinlich, dass das Trio zur Erkundung von Tatorten viel unterwegs war: Es agierte sehr vorsichtig und vermied alles, was Aufmerksamkeit erzeugt hätte. Es ist nicht plausibel anzunehmen, Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe hätten Tausende Kilometer auf Straßen quer durch Deutschland zurückgelegt, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Je mehr Zeit man im Straßenverkehr zubringt, desto größer ist die Gefahr, in eine Routinekontrolle zu geraten. Man riskiert, von Anwohnern beobachtet zu werden, wenn man als Ortsfremder durch Straßen der Nachbarschaft fährt und Anwohner ausspioniert.

Warum ist diese Frage, wie Opfer und Tatorte ausgesucht wurden, so wichtig? Weil ihre richtige Beantwortung die Prämisse der Bundesanwaltschaft, wonach es sich beim NSU um eine „isolierte Zelle“ gehandelt habe und der NSU-Komplex „ausermittelt“ sei, in ihren Grundfesten erschüttern würde. Aus diesem Grund misst die Bundesanwaltschaft auch den beiden Zeugenaussagen im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag in der Kölner Probsteigasse so geringe Bedeutung zu. Dort wurde ein Lebensmittelgeschäft mit einer Bombe zerstört, das von einer iranischstämmigen Familie betrieben wurde. Würde man den Zeugenaussagen Glauben schenken, so müsste man eingestehen, dass es sich um mehr als drei Personen gehandelt haben muss, die unter den Augen des Rechtsstaates eine beispielslose Mordserie begangen haben.

Paragraph 129 StGB besagt, dass für die Bildung einer terroristischen Vereinigung mindestens drei Personen notwendig sind. Wenn aber der NSU aus dem Trio Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt bestanden hätte, dann wäre das auch rein rechtlich aus der Sicht der Bundesanwaltschaft sehr praktisch: Eine Terrororganisation, gegründet von und bestehend aus drei Personen, hörte in dem Augenblick auf zu existieren, als Mundlos beziehungsweise Böhnhardt ihren letzten Atemzug in dem Wohnwagen in Eisenach taten, der dann ausbrannte. Problem gelöst, so scheinen manche Polizeibehörden zu denken. Es hat etwas Autosuggestives, wenn Vertreter von Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt immer wieder öffentlich ihr Mantra von der „isolierten Zelle“, die „ausermittelt“ sei, wiederholen. Aber auch ein ständiges Wiederholen einer Unwahrheit schafft die offenkundigen Ungereimtheiten nicht aus der Welt.

In Heilbronn, wo Michèle Kiesewetter starb, berichteten Zeugen von verdächtigen Personen am Tatort, bei denen zum Teil blutverschmierte Hände beobachtet worden seien. Natürlich, Zeugen können sich irren. Wenn aber eine Zeugenaussage auch im Übrigen plausibel ist, wenn das Geschilderte zu anderen Hinweisen passt, dann muss man diesen Hinweisen nachgehen. Gerade dies aber hat die Bundesanwaltschaft immer wieder nicht mit der gebotenen Sorgfalt getan. Diese Hinweise wurden, so scheint es, oft nur oberflächlich geprüft, um dann schnell abgetan zu werden als lediglich „vermeintliche“ Erinnerung.

Die Probsteigasse findet sich nicht im touristischen Zentrum Kölns. Sie ist keine Straße, durch die man zufällig kommt. Auch das von dem Bombenanschlag betroffene Geschäft selbst ist nicht auffällig. Bemerkenswert ist die Beschriftung draußen im Schaufenster: „Getränke Simon“ heißt es dort. Simon hieß der Vorbesitzer. Wie kommt man aber auf die unscheinbare Probsteigasse? Und wie kann ein Trio, das im weit entfernten Zwickau lebt, wissen, dass nicht ein Deutscher namens Simon dieses Geschäft führt, sondern eine Familie aus dem Iran? Müssen unter diesen Umständen den Aussagen der Zeugen nicht viel mehr Plausibilität unterstellt werden?

Mit der Frage nach Größe und Struktur des NSU und seines Netzwerkes ist eine weitere Frage untrennbar verbunden: Die Frage nach dem Warum. Dieses Warum ist das, was meine Mandanten beschäftigt, was sie bewegt und ihnen in der Nacht den Schlaf raubt. Warum musste unser Bruder streben? Warum durfte mein Ehemann nicht leben? Warum wurde ausgerechnet er als Opfer ausgesucht? Meine Mandanten sinnen nicht nach Rache oder möglichst harten Strafen für die Angeklagten. Diese Dinge spielten nur am Rande unserer Gespräche eine Rolle. Sie wollen verstehen.

Meine Mandanten, das sind die Tochter von İsmail Yaşar und die Geschwister von Abdurrahim Özüdoğru. Abdurrahim Özüdoğru war 49 Jahre alt, als er am 13. Juni 2001 mit zwei Schüssen in den Kopf in seiner Schneiderei in Nürnberg ermordet wurde. İsmail Yaşar war der Inhaber eines Döner-Kebap-Imbisses, als er am 9. Juni 2005 in seinem Stand in der Nürnberger Scharrerstraße mit fünf Schüssen in den Kopf und in den Oberkörper erschossen wurde. Er wurde fünfzig Jahre alt.

Tipp: Lesen Sie auch die anderen Teile dieser Reihe:

1. Vom Terror Einzelner zum Versagen aller im NSU-Komplex
2. Wie groß war der NSU wirklich?
3. Der NSU-Prozess: ein Überblick
4. Wer vom NSU sprechen will, darf zum Rassismus nicht schweigen
5. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jetzt erst recht!

Die Frage nach dem Warum beherrscht seit über einem Jahrzehnt unerbittlich Denken, Fühlen und Handeln der Angehörigen. Manchmal spricht man von ihnen als die „Opferangehörigen“. Aber dieser Begriff kann nicht ansatzweise die Situation beschreiben, in der sie sich befinden. Diese Menschen sind nicht lediglich „Opferangehörige“. Sie sind Überlebende des NSU. Aus dem Nichts, so scheint es, kam der Tod zu ihnen. Der geliebte Mensch – Ehemann, Lebensgefährte, Vater, Bruder, Tochter, Sohn, Freund – wurde ihnen genommen. Dann sagte ihnen der Staat auch noch, dass dieser Mensch es nicht verdient habe, wirklich betrauert zu werden, weil er selbst ein Verbrecher sei, der seinen Tod – einer obszönen polizeilichen Logik nach – selbst verursacht habe. Im nächsten Schritt waren es dann diese Überlebenden selbst, die in das Fadenkreuz staatlicher Verdächtigung gerieten. Weder die Toten noch die Lebenden durften Opfer sein. Sie hatten keinen Anspruch auf Mitleid, Mitgefühl oder Hilfe. Freunde, Nachbarn, ja die eigenen Familien wandten sich von ihnen ab und verurteilten sie zu einem Jahrzehnt sozialer Isolation. Diese Strafe wurde vollstreckt, von Deutschen wie von Türken. Meinen Mandanten war schon zu Beginn des Prozesses klar, dass dieses Verfahren nicht die Antwort auf alle Fragen bringen würde. Dazu war schon zu viel Zeit vergangenen, so mancher Zeuge verstorben und viele Akten verschwunden worden, so muss man es wohl formulieren. Aber die Antwort auf die Frage nach dem Warum, darauf haben sie bis zuletzt vergebens gehofft.

Beate Zschäpe könnte die Antwort auf diese Frage sicher geben. Sie hat sich aber entschieden, dazu zu schweigen, so wie sie sich überhaupt jede Frage von den Nebenklägern und deren Anwälten verbeten hat. Es ist ihr gutes Recht zu schweigen. Niemand kann, niemand will sie zum Reden zwingen. Aber zugleich bat Frau Zschäpe um Verzeihung. Dafür, dass sie nicht gehandelt habe, als die Männer, ihre Männer, mordend durch das Land zogen. Was aber ist ihre Entschuldigung wert, wenn sie zugleich jenen Menschen, die wie niemand sonst unter den Morden zu leiden haben, jedes Wort, jede Frage und jede Antwort verweigert? Sie muss nicht reden. Meine Mandanten müssen jedoch auch keine Entschuldigung annehmen, nicht von ihr. Gerade aber weil Frau Zschäpe aus ihrem Herzen eine Mördergrube gemacht hat, hätte der Staat entschlossener Hinweisen auf ein größeres Nazi-Netzwerk nachgehen müssen.