Dank des Referendums in der Türkei bekommt die türkische Politik so viel Medienaufmerksamkeit, wie schon lange nicht mehr. Wer hat wie gestimmt, und welche Konsequenzen hat das für uns?
Betrachtet man die neuere Geschichte der Türkei, fallen zuerst einmal die Militärputsche ins Auge. In den Jahren 1960, 1971 und 1980. Und zuletzt im Jahr 1997 in Form eines sogenannten „weichen“ Putsches. Wen wundert es da, wenn aufrechte Demokraten die Nase voll haben vom Militär, das demokratisch gewählte Regierungen wegputscht, Regierungsparteien verbietet und die Medien in Beschlag nimmt? Wen wundert es, dass die türkischen Wähler während des Putschversuchs im letzten Jahr auf die Straße gingen und sich den Panzern in den Weg stellten, um ihre Demokratie zu schützen? Denn Demokratie hat mit Wahlen zu tun, mit dem Willen des Volkes.
Gewählt ist Recep Tayyip Erdoğan. Dass sein Regierungsstil offensichtlich weder den türkischen Generälen passt, noch der EU, ist da eher noch ein Gütezeichen. Denn die EU will die Türkei nicht. Als Erdoğan 1954 in Istanbul geboren wird, ist die Türkei bereits seit fünf Jahren Mitglied im Europarat. Weitere fünf Jahre später bewirbt sie sich erstmals um eine Mitgliedschaft in der damaligen europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Das ist jetzt 58 Jahre her. Davon ist die Türkei bereits seit 18 Jahren offizieller Beitrittskandidat der EU. Ich denke, angesichts dieses Zeitrahmens ist jedem türkischen Wähler klar: die EU will die Türkei nicht. Warum sollte die EU also in der türkischen Politik mitreden dürfen?
Aber in der EU leben Türken. Und da Deutschland einerseits beliebtes Ziel türkischer Migranten war, andererseits aber lange mit der Vergabe seiner Staatsbürgerschaft knauserte, haben wir nun tatsächlich 1,4 Millionen wahlberechtigter Türken in Deutschland.
Dass die mehrheitlich gar nicht wählen gegangen sind, ist keine Überraschung. Wir können bei uns ja nicht einmal die deutschen Wähler mobilisieren. Politikverdrossenheit ist offensichtlich ansteckend. Wählen gehen vor allem diejenigen, die sich davon Veränderung versprechen. Also im Falle der Abstimmung in der Türkei eben diejenigen, die das neue Präsidialsystem befürworten.
Erdoğan präsentiert sich als der starke Mann. Die Zahlen aus der Wirtschaft geben ihm Recht. Dank ihm ist die Wirtschaft der Türkei so stark geworden, dass nun zahlenmäßig mehr Menschen aus Deutschland in die Türkei ziehen als umgekehrt. Das ist gerade hier in Deutschland wichtig. Wirtschaftlicher Erfolg ist politischer Erfolg.
Dass ein Politiker fünfzehn Jahre lang die Politik bestimmt, kennen wir aus Deutschland auch. Helmut Kohl war sechzehn Jahre lang Bundeskanzler, und Angela Merkel kandidiert nach zwölf Jahren im Amt in diesem Jahr noch einmal für eine weitere Amtsperiode.
Und auch mit knappen Mehrheiten kennen wir uns aus. Frau Merkels CDU regiert derzeit mit gerade mal 41,5 Prozent der Wählerstimmen. Der Brexit wurde mit knappen 51,9 Prozent entschieden, und Donald Trump gewann gar die letzten Präsidentschaftswahlen der Vereinigten Staaten dank des dortigen Wahlsystems mit mehr als zwei Millionen Wählerstimmen Rückstand auf seine Gegnerin Hillary Clinton. Sieg ist Sieg.
Was das mit der Türkei zu tun hat? Nun, Trump regiert in einem Präsidialsystem. Mit Todesstrafe. Er baut eine Mauer an der Grenze nach Mexiko und verhängt religiös und ethnisch motivierte Einreiseverbote. Und Trump führt Krieg, wirft Bomben ab, tötet Menschen.
Ich frage mich, wie viele Amerikaner in Deutschland für Trump gestimmt haben? Das wissen Sie nicht? Warum eigentlich? Warum interessiert uns das Abstimmungsverhalten der Türken in Deutschland? Und nicht das der US Amerikaner in Deutschland?
Und was soll das Abstimmungsverhalten bitte mit der Integration zu tun haben? Oder mal andersherum gefragt, was wäre, wenn ein Deutschtürke bei der nächsten Bundestagswahl seine Stimme für die NPD abgibt? Ist er dann besonders schlecht integriert? Oder besonders gut? Oder bedeutet gute Integration nur, überhaupt zur Wahl zu gehen, unabhängig davon, wo das Kreuzchen gesetzt wird?
Demokratie lebt von Wählern. Wählern, die auch zur Wahl gehen. Während bei uns nur knapp 49 Prozent der wahlberechtigten Türken ihre Stimme beim Referendum abgaben, lag die Wahlbeteiligung in der Türkei selbst bei 86 Prozent. Das sind dieselben Demokraten, die sich im letzen Jahr den Panzern entgegengestellt haben. Und die werden sich auch in einem Präsidialsystem ihre Demokratie nicht wegnehmen lassen. Vielleicht wäre etwas mehr Vertrauen angebracht.