Eine bewegende Rede

„Mölln fühlt sich unschuldig“ und wir?

Heute vor 24 Jahen wurde in Mölln das Haus der Familie Arslan von Neonazis angezündet. Die 10-jährige Yeliz Arslan, die 14-jährige Ayşe Yilmaz und die 51-jährige Bahide Arslan starben in den Flammen. Doğan Akhanlı hat eine bewegende Rede anlässlich dieses Verbrechens gehalten. MiGAZIN veröffentlicht ihn in voller Länge.

Ohne den Brandanschlag im November 1992, bei dem die 10-jährige Yeliz Arslan, die 14-jährige Ayse Yilmaz und die 51-jährige Bahide Arslan ermordet wurden, wäre mir Mölln als Stadt und als Begriff wahrscheinlich gleichgültig geblieben. Als ich davon hörte, dass in einem kleinen Ort im Norden von Deutschland drei Menschen verbrannten, weil sie als Ausländer betrachtet wurden, hatte ich gerade mit meiner Familie eine lange Verfolgung in der Türkei hinter mich gebracht und wir wollten in Deutschland ein neues Leben beginnen. Auch deshalb kann ich dieses Wort, diesen Ort, diesen Tatort, nicht neutral aussprechen.

„Mölln fühlt sich unschuldig“, so schrieb „Die Zeit“ im Dezember 1992. Obwohl während der Landtagswahlen vor den Möllner Brandanschlägen vom 23. November 1992 11,4 Prozent der Möllner Wähler und Wählerinnen ihre Stimme den rechtsradikalen Parteien „Deutsche Volksunion“ (DVU) und „Republikaner“ gegeben hatten, fühlte Mölln sich unschuldig.

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Zwei Jahre nach dem Brandanschlag sagte ein Einwohner Möllns während einer Wahlkampfveranstaltung: „Ich habe mich damals aufgerafft, in einer Diskussion die Türken zu fragen: ‚Warum schließt Ihr Eure Frauen immer ein, wenn Ihr weggeht?‘ Da wurde mir gesagt“, so hatte es jedenfalls der Möllner Bürger gehört: „’Das ist Kultur, das geht Sie gar nichts an.‘ Wenn die Frauen“, so meinte der Möllner Bürger daraufhin weiter, „nicht eingeschlossen gewesen wären, dann wären sie auch nicht verbrannt.“

„Mölln fühlt sich unschuldig.“

Nach der Renovierung des ausgebrannten Hauses stellte die Stadt die Überlebenden vor die Wahl: entweder in einen Wohncontainer oder zurück in die Mühlenstraße 9. Die Arslans entschieden sich für ihr altes Zuhause.

Info: Diese Rede hat Doğan Akhanlı am 20.11.2016 in Köln gehalten im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Die Möllner Rede„, die in diesem Jahr zum sechsten Mal veranstaltet wurde.

„Die Jahre dort“, sagte Ibrahim Arslan, „waren die Hölle. Immerzu musste ich über die Stelle laufen, wo meine Oma lag, im Zimmer schlafen, wo Yeliz und Ayse gestorben sind, aus dem Fenster schauen, aus dem meine Mutter sprang.“ Und sein Vater Faruk Arslan hielt anfangs jede Nacht bis morgens um sechs, sieben Uhr Wache, bis die Kinder aufgewacht sind, aus Angst vor einem erneuten Anschlag. (Spiegel, 20. November 2012)

Aber: „Mölln fühlt sich unschuldig.“

Ich kenne dieses Gefühl, aus Angst vor einem Anschlag in der Nacht wach zu bleiben, bis die Sonne aufgegangen ist. Während des Brandanschlags in Mölln lebte ich nämlich mit meiner Familie in einem Asylbewerberheim. Zusammen mit einer kurdischen Familie. Wir teilten uns einen Klassenraum der heutigen VHS in Bergisch Gladbach. Nachts hielten wir ständig Wache. Meine Exilgeschichte in Deutschland ist mit dem Brandanschlag in Mölln sehr stark verbunden.

Vater Faruk Arslan fühlte sich – im Gegensatz zu „Mölln“ – schuldig. Er hatte den Abend bei seinem Bruder in Hamburg verbracht. „Ein Freund rief mich an, Euer Haus brennt!“ So erreichte ihn die schreckliche Nachricht. Als er mit seinem Bruder in Mölln ankommt, lodern die Flammen noch immer. Seitdem kann er „niemals aufhören“, sich vorzuwerfen, dass er in jenen Stunden nicht bei seiner Familie war.

Als Hunderte Menschen im Hamburger Flughafen, darunter auch die Überlebenden der Familie Arslan, Abschied nahmen von Ayse Yilmaz, von Yeliz und von Bahide Arslan, die in die Türkei überführt wurden, wurden auch wütende Protestrufe laut. Hamburger Polizisten prügelten auf die Menge ein. Auch sie fühlten sich nicht schuldig. Sie schämten sich nicht einmal dafür, dass sie auf die Überlebenden der Familie Arslan eingeschlagen hatten.

Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl schämte sich genauso wenig, als er es ablehnte, an der Trauerfeier in Mölln teilzunehmen. Er prägte das Wort vom „Beileidstourismus“. Den wolle er nicht unterstützen. Schuldig fühlte er sich ohnehin nicht am Mordanschlag.

Die Familie Arslan lebte bis zum Jahr 2000 trotz allem in Mölln. Die Familienmitglieder nahmen jeden November an der Gedenkfeier teil. Bis Beate Klarsfeld von der Redeliste gestrichen wurde. Die Frau, der wir die Ohrfeige für den damaligen Bundeskanzler Kiesinger zu verdanken haben, die juristische Bestrafung zahlreicher Massenmörder u.a. auch von Klaus Barbie, des Schächters von Lyon, von Kurt Lischka, des früheren Gestapo-Chefs von Paris und des in Syrien lebenden Eichmann-Stellvertreters Alois Brunner. Familie Arslan hatte sich Beate Klarsfeld als Hauptrednerin gewünscht. Diese Vorkämpferin bei der Aufarbeitung der überdimensionalen deutschen Gewaltgeschichte hat die letze Möllner Rede im Rahmen der offiziellen Gedenkfeier in Mölln gehalten.

Dann musste die Möllner Rede ins Exil gehen. Es ist außergewöhnlich, dass eine Rede ins Exil geht.

Eine der Möllner Rede im Exil wurde von Argyris Sfountouris gehalten. Er hatte das SS-Massaker im griechischen Distomo am 10. Juni 1944 überlebt. Er war dreieinhalb Jahre alt, als seine Eltern und dreißig seiner Familienangehörigen ermordet wurden.

Ich wusste weder von Beate Klarsfeld noch von Argyris Sfountouris, als ich Ende 1991 nach Deutschland geflüchtet war. Ich wusste wenig über die deutsche Vergangenheit. Als ich nach Deutschland kam, ereigneten sich die rassistischen Übergriffe in der Stadt Hoyerswerda. Ein Wohnheim für Vertragsarbeiter sowie ein Flüchtlingswohnheim wurden angegriffen. Bis zu 500 Personen standen vor den Heimen und beteiligten sich an den Angriffen. Wenige Monate später, im Sommer 1992, wiederholten sich diese rassistischen Angriffe. Und zwar in Rostock-Lichtenhagen. Mehrere hundert rechtsextreme Randalierer beteiligten sich an den Gewalttätigkeiten und behinderten zusammen mit tausend Zuschauern, die die Täter beklatschten, den Einsatz von Polizei und Feuerwehr.

Wieder einige Monate später, am 9. November 1992, versammelten sich 100.000 Menschen auf dem Chlodwigplatz in Köln. Mitglieder der Kölner Musikszene hatten zu einem Konzert „gegen Rassismus und Neonazis“ aufgerufen. Ich war auch dabei, und diese Kundgebung hatte mich hoffen lassen, die Gesellschaft sei in der Lage, die rassistische Gewalt zu stoppen. Doch zwei Woche später geschah der Brandanschlag in Mölln. Die Täter warfen erst je zwei Brandsätze in ein von sechs türkischen Familien bewohntes Haus in der Ratzeburger Straße 13. Als das Haus schon lichterloh brannte, kletterten und sprangen die Bewohner des Hauses aus den Fenstern, viele verletzten sich schwer – doch alle überlebten. Die Täter fuhren dann weiter zur Mühlenstraße 9, dem Wohnhaus der Arslans, gossen Benzin in den Flur und warfen Brandsätze. Obwohl die Täter, die später namentlich bekannt wurden, nach ihren beiden Taten die Feuerwehr anriefen und „Heil Hitler!“ schrien, hatten die Ermittler kein Problem damit, Faruk Arslan, dessen Familie fast ausgelöscht wurde, als Verdächtigen zu betrachten.

Und Mölln fühlte sich unschuldig.

In einem Asylbewerberheim zu leben, das war damals nur schwer zu ertragen, weil wir Asylbewerber uns darin auch nach der Flucht nicht in Sicherheit wussten. Flüchtling in Deutschland zu sein, das war damals wie heute ein schwieriger Zustand. Ständig sagte man uns, wir sollten besser nirgendwo sagen, dass wir Flüchtlinge seien.

Wir konnten dann in eine Wohngemeinschaft ziehen, weil deren BewohnerInnen sich entschlossen hatten, eine Asylbewerberfamilie bei sich aufzunehmen. Kurze Zeit nach unserem Einzug, ein halbes Jahr nach Mölln, starben fünf Menschen bei einem Brandanschlag in Solingen. Das war schockierend für uns, obwohl wir jetzt in dieser Wohngemeinschaft einen Schutzraum hatten.

Wenn sich Mölln unschuldig fühlen durfte, dann durften sich auch Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Solingen unschuldig fühlen. Können sich ganze Städte unschuldig fühlen? Oder schuldig?

Nicht lange nach Solingen wurden unsere Asylanträge anerkannt. Mit dem nun erreichten gesichertem Bleiberecht, mit politischer und persönlicher, auch mit kollegialer Unterstützung wurde es mir möglich, ein unabhängiges Leben aufzubauen, meine Projekte durchzuführen und meine schriftstellerische Tätigkeit aufzunehmen. Obwohl mir bewusst war, dass meine Familie und ich jederzeit Opfer rassistischer Gewalttaten werden konnten, hat nicht mehr die Angst, sondern die Solidarität, die wir als Familie erlebten, meine Beziehung zu unserem Zufluchtsland Deutschland geprägt, positiv geprägt.

Deutschland wurde unser „Zufluchtsland“ oder besser gesagt, unser „Rettungsland“. Es fällt mir schwer, dieses Wort heute angesichts des Schicksals der Familie Arslan auszusprechen. Sollte ich nicht besser über meine guten Erfahrungen schweigen? Ist es nicht geradezu eine Verpflichtung darüber zu schweigen, angesichts der Geschichte der Familie Arslan und all der anderen in Deutschland Ermordeten Migranten und Flüchtlinge?

Ich weiß, wie die Gewalterfahrung die Beziehungen zu einem Land ändert. Meine Foltererlebnisse und meine fortsetzende Verfolgung in der Türkei änderten meine Beziehung zu meinem Herkunftsland grundlegend. Dieses Land, wo ich geboren und groß geworden war, wurde mir Jahr für Jahr fremder.

Wegen dieser Erfahrungen und wegen meines dazu so gegensätzlichen, nämlich gesicherten Flüchtlingsstatus in Deutschland und schließlich auch wegen meiner Rettung Ende 2010 aus dem türkischen Gefängnis habe ich zu meinem Zufluchts- bzw. Rettungsland eine positive emotionale Beziehung entwickelt. Ich habe mein Zufluchtsland ganz anderes wahrgenommen als die Familie Arslan.

Was für ein Gegensatz: Ihr seid in meinem Rettungsland angegriffen worden! Eure Liebsten wurden getötet! Wenn ich die Aussage von Nazim Arslan, Großvater von Ibrahim, am 23. Juni 1993 vor dem II. Strafsenat, Oberlandesgericht Schleswig lese, kann ich meine Tränen nur schwer unterdrücken:

„Ich kann es immer noch nicht fassen“, sagte er, „was am 23. November 1992 mit meiner Familie geschehen ist. Es ist so schrecklich und grausam. Meine Frau Bahide ist tot, Enkelin Yeliz und Ayse Yilmaz sind tot. Meine Schwiegertöchter sind … behindert und haben Schmerzen, die Familie ist überhaupt nicht mehr, was sie war. Meine Frau Bahide war der Mittelpunkt meiner Familie – meines Lebens. … Man hat uns hergebeten, wir sind gekommen, weil in Deutschland Arbeitskräfte gesucht wurden – und wir haben gearbeitet. Beide haben wir gearbeitet. … Das Grauen und der Schrecken sind für mich noch immerzu da. Jedes Mal, wenn ich in die Mühlenstraße gehe und das ausgebrannte Haus sehe, denke ich an diese grausame Nacht. … Ich höre die Schreie, sehe das Flackern vom Feuer und das blaue Licht der Feuerwehr, höre das laute Getöse von dem Feuer und sehe immer wieder das Bild, wie meine Frau im Rauch und Feuer verschwindet. … Es ist mir auch so unverständlich, wofür, warum meine Frau und die zwei Mädchen sterben mussten. Weil sie Türkinnen waren?! Weil diese Männer unmenschliche politische Ideen ausführen wollten? Man hat uns doch hergebeten, wir kamen als Gastarbeiter. Wir waren hier Gäste! Wissen Sie, was Gastfreundschaft in der Türkei bedeutet? … So ein bösartiges Verbrechen kann ich nicht verstehen.“

Auch ich kann so ein bösartiges Verbrechen nicht verstehen und weiß, was mich mit der Familie Arslan verbindet: Der Schmerz und das Leid. Der Schmerz macht uns zu Geschwistern, obwohl uns aus ganz unterschiedlichen Gründen und in verschiedenen Ländern Gewalt angetan wurde.

Ich wusste und weiß, warum ich verfolgt und gefoltert wurde. Ich war ein entschlossener Untergrundkämpfer. Ich war ein Kommunist und wusste, wenn sie mich fassen, dann foltern sie mich zu Tode. Trotzdem habe ich weiter im Untergrund gegen die Militärdiktatur agiert. Ich hatte aber die Möglichkeit, einfach aufzuhören. Ich hatte die Möglichkeit, einfach ins Ausland zu fliehen. Anders als Familie Arslan. Familie Arslan war einfach hier. Drei Angehöriger wurden so willkürlich ermordet, dass sie nicht einmal wussten, wie Großvater Nazim es richtig zur Sprache gebracht hat, warum sie sterben mussten.

Es war die Vernichtungsseele der Vergangenheit, die die Familie Arslan auslöschen wollte. So habe ich das 1992 und viele Jahre danach immer empfunden. Ich dachte nach dem Konzert von Köln, dass die Vernichtungsseele niemals mehr Erfolg haben würde, weil die Mehrheitsgesellschaft genug Erfahrung hat, um die Vernichtungsseele in Schach zu halten und weil durch die gesellschaftliche Auflehnung die mörderischen Angriffe der Nazis zurückgedrängt wurden.

Ich dachte, dass Deutschland eines der sicheren Länder für Einwanderer geworden war.

Der Satz „Mölln fühlt sich unschuldig“ bekam deshalb für mich, trotz seiner irritierenden, ja provozierenden Gehalts, etwas Wahres. Es gab so viele andere in diesem Land, die ich nicht schuldig sprechen wollte. In Mölln, in Hoyerswerda, in Rostock-Lichtenhagen, in Solingen.

Bis zur Selbsttarnung des NSU habe ich immer wieder die These vertreten, dass es in Deutschland letzten Endes keinen Platz mehr für Rassisten und Nationalisten geben werde, weil das Land seine eigene Geschichte sehr ernsthaft aufgearbeitet hat. Und dass die Untaten der wenigen grausamen Rassisten nur Überreste der kaum noch wirksamen Vernichtungsseele waren.

Trotz der Hinweise und der Kritik meiner Freundinnen und Freunde habe ich diese These sehr lange vertreten.

Ich habe mit Begeisterung wahrgenommen, wie Deutschland mit seiner Gewaltgeschichte umgegangen ist. So ganz anders als die Türkei zum Beispiel. Weil ich die deutsche Art der Aufarbeitung kennengelernt hatte, konnte ich endlich die Verbindungen zwischen der historischen und aktuellen Gewaltgeschichte meines Herkunftslandes herstellen und aufarbeiten, was Geschichte und Gegenwart miteinander zu tun haben. Ich konnte langsam verstehen, was meine eigenen Gewalterfahrungen mit der der Armenier*nnen vor 100 Jahren zu tun hatten. Ich spürte einen Zusammenhang, eine Verbindung zwischen mir und den verfolgten ArmenierInnen. Um diese Verbindungen und Gemeinsamkeiten besser zu verstehen, studierte ich die Literatur über den Holocaust und richtete mein Interesse verstärkt auf die gewaltvolle deutsche Geschichte. Bis dahin hatte ich das immer mit der Begründung abgelehnt, dass sei nicht meine Sache, ich hätte damit nichts zu tun.

Angestoßen wurde ich dazu auch durch meine Tochter. Bis wir den Film, „Das Leben ist schön“, zusammen gesehen haben, hatte sie sich als Deutsche betrachtet. Nach dem Film legte sie dieses Bekenntnis mit einem Male ab. Bis dahin hatte sie genauso reagiert wie viele Nachkommen der Nazigeneration: Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die netten Eltern unserer deutschen Mitbewohner*nnen etwas Derartiges verbrochen haben konnten. Nach dem Film sah sie das anders. Und sie wollte mit dieser Gewaltgeschichte nichts zu tun haben.

Die Reaktion meiner Tochter – „Gott sein Dank, dass wir Türken sind“– hat mich motiviert, mich sehr energisch beiden Verbrechen zu stellen, sowohl den Verbrechen in der deutschen als auch denen in der türkischen Geschichte. Ich begann allmählich zu verstehen, dass der Holocaust nicht nur eine deutsche, sondern eine transnationale Geschichte ist, eine Geschichte, die viele Länder, ja, die die ganze Menschheit betrifft. Ich habe an Studienreisen teilgenommen, Gedenkstätten besucht und schließlich kam ich nach Auschwitz. Die Konfrontation und Auseinandersetzung mit diesem Ort, dem Sinnbild der Shoah, ließ mich meine eigenen Erfahrungen von Verfolgung und Folter, die ich in der Türkei erlitten hatte, in einem anderen Licht sehen. Die von mir erlebten Gewalterfahrungen wurden angesichts des Leidens in Auschwitz relativiert.

Nach dieser Auschwitzreise bekam die Auseinandersetzung mit den Gewaltgeschichten für mich einen universalen Charakter. Ich fuhr noch einmal nach Auschwitz, diesmal mit einer gemischten Gruppe. Mit Türkeistämmigen, mit Deutschen, mit Roma und Sinti. Ich beobachtete die Mitreisenden und ihren Umgang mit Auschwitz, der recht unterschiedlich ausfiel. Keiner jedoch sagte, dass dieser Ort mit ihm oder ihr „nichts zu tun“ habe. Die Frage, wie wir sowohl mit unserer eigenen, als auch mit der Geschichte von Auschwitz umgehen, wurde für mich zu einem wesentlichen Antrieb meines Denkens und Handelns. Ich nahm wahr, dass die Aufarbeitung in Deutschland nicht nur von einer kleinen engagierten Gruppe betrieben wird, sondern ein gesellschaftliches Phänomen ist. Ich dachte, mit den Erinnerungslandschaften in Deutschland kann ich mich sehr gut identifizieren. Und ich erzählte meiner Tochter, dass es ein Entrinnen vor der Gewaltgeschichte selbst durch einen Wechsel der Staatsbürgerschaft nicht gibt. Heimisch werden können wir am ehesten dort, wo sich die Gesellschaft dieser Gewaltgeschichte stellt.

Bis die rechtsextreme Terrorzelle NSU 2011 aufflog.

Ich war nicht schockiert, dass die NSU-Täter wie Vernichtungspropheten unterwegs waren und zehn Menschen ermordeten. Vernichtungsfantasien kann man aus den Köpfen nicht tilgen. Vernichtungsseelen kehren wieder, trotz aller Erfahrungen und trotz aller Aufarbeitung. Wie in der Vergangenheit wird es in der Zukunft Menschen geben, die sich als Vernichtungspropheten betrachten. Hier und überall.

Schlimmer war, dass die von mir so geschätzte Erinnerungskultur Deutschlands plötzlich wie ausgelöscht schien. Kein Blick auf die Voraussetzungen dieses Terrors, keine Bereitschaft, Verbindungen zu ziehen, Blindheit, Verweigerung, Projektionen. Von einem schlichten Versagen des Staates bei der Verfolgung der TäterInnen kann man gar nicht reden. Nach fünf Jahren NSU-Prozess müssen wir feststellen: Die Sicherheitsbehörden haben nicht nur versagt. Sie haben es verdient, als Dulder und Mittäter betrachtet zu werden.

Wer fühlt sich jetzt unschuldig? Mölln? Solingen? Köln und seine Verfassungsschutzzentrale?

Ich kann ohne Ohnmachtsgefühle die Gerichtsprotokolle des NSU-Prozesses nicht mehr lesen. Ohne Ohnmachtsgefühl kann ich nicht mehr die Protokolle der parlamentarischen Untersuchungskommissionen lesen. Nicht nur die Angehörigen der Ermordeten, die jahrelang von den Ermittlern verdächtigt wurden, sind enttäuscht, sondern auch ich bin enttäuscht, ich, der ich dem Staat und seiner Aufarbeitungsleistung vertraut hatte.

Wir haben den Nazi-Terror nicht gebrochen. Nicht nach Solingen und nicht nach der Enttarnung des NSU. Der Kreis derer, die sich nicht unschuldig fühlen dürfen, weil sie mitschuldig sind, ist im Gegenteil größer geworden.

„Der NSU ist kein Einzelphänomen“, kündigt das NSU-Tribunal an, „er ist Teil einer Geschichte des Rassismus in Deutschland. Sie besitzt eine Kontinuität in den zahllosen Opfern rassistischer Gewalt der letzten Jahre und Jahrzehnte. Die Geschichte geht auch heute weiter mit brennenden Flüchtlingsunterkünften, mit täglichen Angriffen und Ausgrenzungen von eingesessenen Migrant_innen, Refugees, Schwarzen und Rom_nija.“

„Mölln fühlt sich unschuldig.“ Was für ein Satz. Wie viel Leugnung, wie viel Verweigerung steckt darin. „Die Zeit“ hat dies Unschuldsempfinden damals, 1992, zu Recht nicht gelten lassen. Umso weniger können wir einen solchen Satz heute, 24 Jahre und viele rassistische Gewalttaten später gelten lassen. Und doch ist es ein gesellschaftliches Desaster, wie viele Menschen und Institutionen heute diesen Satz für sich reklamieren: wie viele sich unschuldig fühlen wollen. Unschuldig am rechten Terror, unschuldig an den Morden des NSU, unschuldig an der Tatsache, dass organisiertes Morden zehn Jahre lang unentdeckt blieb.

Wir dürfen uns solchem Leugnen der Verantwortung nicht ohnmächtig ergeben. Wir müssen für die Erinnerungslandschaften in Deutschland kämpfen und für ihre Ausweitung eintreten, wie es die Familie Arslan unermüdlich betreibt. Ibrahim Arslan sagt, dass die Opfer keine Statisten sind. Sie sind die Hauptzeug_innen des Geschehens. Deshalb gedenken wir ihrer.

Deshalb erinnern wir uns nicht nur des Anschlags in Mölln, deshalb gedenken wir der Gewaltgeschichte hier und in anderen Ländern. Deshalb müssen wir einen transnationalen Erinnerungsraum schaffen und ihn größer und unübersehbarer machen, wie das Kutlu Yurtseven mit der Auschwitzüberlebenden Esther Bejarano tut.

Wenn die Vernichtungspropheten und ihre Komplizen ankündigen, dass sie wieder da sind, müssen wir aufstehen, wir, die wir die Mehrheit sind, und sagen: Wir sind auch da!

Fernsehbericht zum ersten Jahrestag 1993