Plädoyer

Die Macht des Gesichtsschleiers

Erneut wird in Deutschland über ein Burkaverbot debattiert. Dabei sind die Argumente längst ausgetauscht. Über ein argumentatives Patt kommt man nicht hinaus. Migrationsforscherin Sandra Kostner zeigt Wege aus dieser Sackgasse.

In den letzten Jahren mehren sich in Deutschland Forderungen nach einem Verbot der Vollverschleierung, also von Burka und Niqab. Die Argumente für und wider ein solches Verbot werden inzwischen routiniert ausgetauscht: Die Verbotsgegner beziehen sich auf die verfassungsrechtlich garantierte Religionsfreiheit, die Verbotsbefürworter bringen das Gleichheitsgebot der Geschlechter in Stellung und betonen die Unvereinbarkeit der offenen Bürgergesellschaft mit dem Gesichtsschleier.

Unstrittig ist dabei nur, dass die Zahl der vollverschleierten Frauen in Deutschland äußerst überschaubar ist. Daran hat auch die Aufnahme vieler arabischer Fluchtmigrantinnen nichts geändert. Wenn es nicht die Zahlen sind, wo liegt dann die Herausforderung für unsere Gesellschaft? Oder anders gefragt: Welche Macht übt die Vollverschleierung über uns aus?

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Die Frage mag zunächst seltsam anmuten, werden Burka und Niqab doch als Zeichen der ultimativen Unterdrückung und damit als Zeichen der Ohnmacht von Frauen wahrgenommen. Ihre Macht besteht aber genau darin, dass sie die Ungleichheit von Frauen und Männern sichtbar macht – eine Ungleichheit, die in unserer Gesellschaft durchaus noch vorhanden ist, normalerweise aber unsichtbar bleibt (Stichwort „Lohngerechtigkeit“).

Diese Sichtbarmachung aktiviert bei nicht-muslimischen und muslimischen Frauen reflexartig ein Schmerzgefühl darüber, dass das eigene Geschlecht jahrhundertelang Ungleichbehandlungen ertragen musste. Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler John Lie hat dieses Phänomen des nachgelagerten Schmerzreflexes treffend als „Paradox der Unterdrückung“ bezeichnet. Das Paradox besteht darin, dass Schmerz und Wut über Unterdrückungen in früheren Zeiten in besonders starkem Maße bei den Nachfahren der unterdrückten Gruppe beobachtbar sind.

Wenn wir über vollverschleierte Frauen reden, geht es also vielmehr um uns, um das, was wir im Kampf um Gleichberechtigung in unserer Gesellschaft erreicht haben und um das Gesellschaftsbild, das dem Erreichten zugrunde liegt. Was die Debatte über das „Burkaverbot“ zeigt, ist, dass dieses Gesellschaftsbild, wenn es um Frauen geht, mehr auf Gleichheit als auf Freiheit setzt. Einen Teil ihres Irritationspotenzials bezieht die Vollverschleierung aus ebenjenem Konflikt zwischen den beiden Grundpfeilern liberal- demokratischer Gesellschaften, für den der französische Philosoph Etienne Balibar den Begriff der „Gleichfreiheit“ geprägt hat.

Allzu unverständlich erscheint vielen, dass Frauen als Zeichen ihrer Religionsfreiheit das ultimative Symbol der Ungleichheit aus freien Stücken tragen. Aber genau das ist bei fast allen vollverschleierten Frauen der Fall. Die meisten Frauen entscheiden sich im Alter zwischen 18 und 30 für die Verschleierung und sehen diesen Schritt als eine Form der religiösen und sozialen Selbstfindung.

Viele begründen ihre Entscheidung für die „vormoderne, arabische“ Tradition der Vollverschleierung mit dem „modernen, westlichen“ Argument der persönlichen Freiheit. Auf diese Weise stellen sie die „westliche“ Sichtweise auf den Kopf: aus einem Unterdrückungs- und Ungleichheitssymbol wird ein Symbol der weiblichen Selbstbestimmung.

Unterdrückt und ungleich behandelt fühlen sich vollverschleierte Frauen dementsprechend von der Mehrheitsgesellschaft, die ihre Interpretation von Freiheit und Gleichheit infrage stellt. Dass sich beide Seiten auf „westliche“ Grundwerte berufen, ist kein Zufall, finden sich doch unter den vollverschleierten Frauen viele Konvertitinnen und in Deutschland aufgewachsene Muslima. Damit handelt es sich beim Thema Vollverschleierung also nicht, wie häufig unterstellt, in erster Linie um ein Integrationsproblem, sondern um einen Konflikt zwischen unterschiedlichen Interpretationen von Freiheit und Gleichheit. Man könnte auch sagen: Dieser Konflikt gehört zu Deutschland, da er sich zuvorderst an unterschiedlichen Interpretationen „unserer“ Grundwerte entzündet.

Ganz sicherlich wird die Auseinandersetzung mit dem Vollschleier dadurch nicht leichter, dass es sich bei ihm auch um ein Symbol des politisch-fundamentalistischen Islam handelt. Schnell denkt man an Länder wie Saudi-Arabien, wo die Ganzkörperverhüllung von Frauen mit Ungleichheit und Unfreiheit Hand in Hand geht. Zudem fordert der Vollschleier unser Religionsverständnis heraus.

Eine säkularisierte Gesellschaft wie die unsere, in der Religion weitgehend privatisiert ist, tut sich schwer mit der Sichtbarmachung von Religion im öffentlichen Raum. Dies ist umso mehr der Fall, wenn es sich um „zugewanderte“ Religionen handelt. Der Gesichtsschleier macht Religiosität und die Durchsetzung des Anspruchs, religiöse Differenz zu leben, auf maximale Weise sichtbar. In Verbindung mit der maximal anderen Definition von weiblicher Selbstbestimmung, die im Vollschleier ihren Ausdruck findet, kommt es zu Irritationen unseres Verständnisses von Freiheit und Gleichheit.

Die Vollverschleierung macht also etwas mit uns. Einige wollen ihr mit Macht begegnen und fordern daher ein Verbot. Bei anderen löst der Anblick einer vollverschleierten Frau Ohnmachtsgefühle aus, da sie in Burka und Niqab ausschließlich ein Unterdrückungssymbol sehen. Macht und Ohnmacht gehen mit religiösen Abwehrmechanismen und Schmerzreflexen einher und sind somit denkbar ungeeignet, um einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess über unterschiedliche Interpretationen von Freiheit und Gleichheit zu rahmen, der diesen beiden gesellschaftlichen Grundprinzipien gerecht wird.

Was bedeutet all dies nun für den Umgang mit der Vollverschleierung? Das argumentative Patt in den Debatten der vergangenen Jahre zeigt, dass bei diesem emotional besetzten Thema sowohl der Verweis auf die verfassungsrechtlich garantierte Religionsfreiheit als auch der Ruf nach einem Verbot im Namen der Gleichberechtigung bzw. der offenen Bürgergesellschaft zu kurz greifen.

Ein erster Schritt zur Überwindung dieses Patts wäre, wenn wir die Vollverschleierung nicht mehr als Angriff auf „unsere“ Gesellschaft sehen würden. Eine solche emotionale Selbstbefreiung würde uns in die Lage versetzen, in einen einer liberal-demokratischen Gesellschaft würdigen und ergebnisoffenen Dialog mit den sich verschleiernden Frauen zu treten. Wollen wir unsere oft formulierten Ansprüche an unsere gesellschaftlichen Grundprinzipien einlösen, führt an einem solchen Dialog kein Weg vorbei.