Drehkreuz in der Wüste

Niger Ausgangs- und Wendepunkt der Flucht nach Europa

In der Flüchtlingspolitik sucht die EU die Kooperation mit Westafrika. Es sollen Kooperationen mit Nigeria, Senegal, Mali, Äthiopien und Niger geben. Der Deal: Die EU will sich dort stärker engagieren, verlangt dafür aber Hilfe beim Stopp der Bewegung nach Europa.

Lehmhütten, Hitze, Wüste: In Agadez im Norden des Niger führen die Menschen ein entbehrungsreiches Leben. Seit einiger Zeit erlebt die Stadt aber eine Art Boom. Agadez liegt für 90 Prozent der Flüchtlinge und Migranten, die über Libyen nach Europa wollen, auf dem Weg. Weil Libyen derzeit im Chaos versinkt, wird die Sahararegion um Agadez für die EU interessant. Sie will den westafrikanischen Staat als Kooperationspartner gewinnen, um die Massenbewegung zu verhindern – ausgerechnet das ärmste und am wenigsten entwickelte Land der Welt. „Niger ist ein Schlüsselland“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kürzlich. Doch noch wird gerätselt, wie die Menschen aufgehalten werden sollen.

Die Zahl derer, die nach Italien wollen, wird von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) für das bisherige Jahr auf 120.000 bis 150.000 geschätzt. Sie begeben sich auf eine gefährliche Reise, nicht wenige kommen inzwischen enttäuscht und gebrochen zurück. Diese Menschen finden Hilfe in den Ankunftszentren, von denen die IOM vier in Niger unterhält. Agadez hat mit 1.000 Plätzen das größte. 9.000 Migranten registrierten die Zentren in diesem Jahr bis Ende Juli. Im gesamten Jahr 2015 waren es 7.000.

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In dieser Woche besuchte Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) das Zentrum in Agadez. 600 Rückkehrer waren zu diesem Zeitpunkt dort. „Man sieht in den Gesichtern, was Hoffnungslosigkeit bedeutet“, sagte er bei seinem Besuch. Spärliche Lehmgebäude dienen als Schlafsäle, Beratungsräume, Gesundheitsstation. Müller unterhält sich kurz mit jungen Männern aus Nigeria, Mali, Senegal. Sie alle wollten ihr Glück in Europa versuchen. „Sie suchen nichts anderes als eine Zukunft“, sagt Müller. Nun warten sie in Agadez auf ihre Rückreise.

Was auf dem Rückweg funktioniert, so denkt offenbar die EU-Kommission, sollte auch auf dem Hinweg gehen. Anfang Juni stellten die Kommissions-Vizepräsidenten Frans Timmermanns und Federica Mogherini ihre Pläne für sogenannte EU-Migrationspartnerschaften vor.

Langfristig soll es Kooperationen mit Nigeria, Senegal, Mali, Äthiopien und Niger geben. Der Deal: Die EU will sich dort stärker engagieren, verlangt dafür aber Hilfe beim Stopp der Bewegung nach Europa. Ein Schwerpunkt soll die Bekämpfung von Schleppern werden. Bei einem Besuch des nigrischen Staatspräsidenten Mahamadou Issoufou Mitte Juni sprach Merkel von drei Zentren, die in Niger Rückkehrmöglichkeiten eröffnen sollen – neben denen von der IOM. Noch gibt es keines davon.

Marina Schramm, Programmkoordinatorin der IOM in Niger, ist skeptisch, was diese Pläne angeht. Hinter dem Begriff Schlepper stünden letztlich Transportunternehmen, die nichts Illegales machten. Die Migranten selbst bewegten sich als Bürger eines Landes der Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas ebenfalls völlig legal durch Niger, erklärt sie.

Zudem seien die Flüchtlinge auch für Agadez zum Wirtschaftsfaktor geworden. Nicht nur die Transporteure, auch Geldtransfer-Büros und Lebensmittelversorger profitierten von den Bedürfnissen der Migranten. Und selbst wenn man die Bewegung gen Norden verbieten wolle: „Wer soll das kontrollieren?“, fragt Schramm. Die Region Agadez sei so groß wie Frankreich. Beliebig viele Routen führten nach Libyen – zur Not abseits der Straßen durch die Wüste.

Schramm setzt auf Aufklärung. Die Migranten – in der Mehrzahl junge Männer – sollen nach ihren Worten wissen, worauf sie sich einlassen. „Jeder Migrant ist in Libyen mindestens Opfer von Ausbeutung geworden“, sagt sie. Viele würden misshandelt, gefoltert, als Geiseln genommen. Auch Mordopfer gebe es. Schramm berichtet von Rückkehrern, deren Knöchel mit einem Hammer absichtlich zertrümmert wurden.

Wenn sie Migranten davon erzählt, entscheiden sich viele um. Schramm schätzt, dass etwa die Hälfte der Migranten umkehrt, wenn sie aufgeklärt werden. Viele erreicht sie aber nicht. Ihrer Einschätzung nach seien bislang erst rund 300 Migranten vor der Weiterfahrt nach Libyen von IOM-Mitarbeitern beraten worden. Ihr Zentrum ist zwar für Rückkehrer eine Anlaufstelle, aber noch nicht für die Entschlossenen, die nach Europa wollen.

Entwicklungsminister Müller schlägt bei seinem Besuch spontan vor, die Menschen automatisch übers Handy zu informieren. Schramm zuckt die Schultern. Ob und wie das funktionieren kann im bitterarmen Niger, in dessen Hauptstadt Niamey weniger als die Hälfte überhaupt Strom hat, bleibt offen. (epd/mig)