Resümee

Ein Jahr nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuchverbot

Vor einem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht bekanntgegeben, dass der pauschale Kopftuchverbot für Lehrerinnen verfassungswidrig ist. Was hat sich seit dem geändert? Rückblick und Bewertung von Gabriele Boos-Niazy

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stellte fest, dass sowohl ein pauschales Kopftuchverbot aufgrund der Annahme einer abstrakten Gefahr als auch die Privilegierung anderer „Bekundungen“, sprich christlicher und jüdischer Zeichen, verfassungswidrig ist. Die Grundrechte Dritter werden durch das bloße Tragen eines Kopftuches durch eine Lehrerin aus unterschiedlichen Gründen nicht beeinträchtigt und die staatliche Neutralität wird nicht gefährdet, da der Staat Bezüge zu allen mit dem Grundgesetz zu vereinbarenden Religionen und Weltanschauungen bei der Gestaltung der öffentlichen Schule zulässt und eine religiös motivierte Bekleidung der Lehrperson und nicht dem Staat zugerechnet wird. Ein Kopftuchverbot, das auf eine einzelne Lehrerin zielt, ist nur bei einem belegten Fehlverhalten möglich. Das war schon immer in den Schulgesetzen vorgesehen und konnte Disziplinarmaßnahmen bis hin zur Entlassung nach sich ziehen.

Ein allgemeineres Kopftuchverbot für bestimmte Schulen oder Schulbezirke für eine begrenzte Zeit ist möglich, wenn dort nachweislich besondere „substanzielle Konfliktlagen in einer beachtlichen Zahl von Fällen“ vorliegen. Das Gericht nennt als Beispiel eine Situation, „[…] in der – insbesondere von älteren Schülern oder Eltern – über die Frage des richtigen religiösen Verhaltens sehr kontroverse Positionen mit Nachdruck vertreten und […] in die Schule hineingetragen […]“ werden, diese Situation länger anhält und die Erteilung des Unterrichts extrem beeinträchtigt oder gar verhindert.

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Wenn in einem solchen Fall die Schulleitung alle pädagogischen Maßnahmen, die üblicherweise bei der Lösung von Schulkonflikten zum Einsatz kommen, erfolglos ergriffen hat und zu dem Schluss kommt, dass der Schulfrieden – zu dessen Störung die Lehrerin mit Kopftuch nicht selbst etwas beigetragen hat – nur durch Einschränkung der Grundrechte der Lehrerin oder ihre Versetzung zu retten ist, dann – und nur dann – ist ihr das aus Sicht des BVerfG zumutbar. In einem solchen Fall wird also das Grundrecht der Lehrerin auf Glaubensfreiheit dem konkurrierenden Grundrecht des Erziehungs- und Bildungsauftrages des Staates untergeordnet.

Tipp: Eine Langfassung dieses Textes finden Sie auf den Internet-Seiten des „Aktionsbünsnis muslimischer Frauen e.V.“ Eine Kurzanalyse des BVerfG-Beschlusses zum Kopftuchverbot gibt es hier.

Die Klägerinnen stammten in diesem Fall zwar aus Nordrhein-Westfalen, aber der Beschluss des BVerfG wirkt auch auf andere Bundesländer, in denen es ein gesetzliches Kopftuchverbot gibt, denn laut Bundesverfassungsgerichtsgesetz sind die Landesgesetzgeber daran gebunden, ihre jeweiligen Gesetze nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auszulegen. Der BVerfG-Beschluss bindet gleichermaßen auch die Gerichte. Im Streitfall müssen sie das Landesgesetz nach den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts auslegen.

Soweit die Rechtslage und damit die Theorie.

In Goethes Faust ist zwar zu lesen: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und Grün des Lebens goldner Baum“, doch im Falle der Kopftuchverbote kann es auch umgekehrt kommen: die Rechtslage erscheint golden im Vergleich zur oft grauen(haften) Praxis.

Ein kurzer Rückblick

Zwischen 2004 und 2006 wurden in acht westlichen Bundesländern gesetzliche Kopftuchverbote unterschiedlicher Reichweite und mit oder ohne eine Privilegierung christlich-abendländischer Zeichen eingeführt: In zeitlicher Reihenfolge und Regierungskonstellation: Baden-Württemberg CDU/FDP, Niedersachsen CDU/FDP, Saarland CDU, Hessen CDU/FDP, Bayern CSU, Berlin 2005, SPD/PDS, Bremen SPD/Grüne, Nordrhein-Westfalen CDU/FDP.

Diverse Regierungswechsel (vor allem in NRW und Baden-Württemberg) änderten die Situation nicht. Zudem wurde das Verbot vereinzelt auch in Bundesländern angewandt (z.B. Hamburg und Rheinland-Pfalz), in denen es kein gesetzliches Verbot gab.

Als der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts am 13. März 2015 bekannt wurde, hegten die betroffenen Frauen die Hoffnung, dass sich die Situation rasch grundlegend ändern würde. Doch die Bundesländer reagierten unterschiedlich. Während in NRW der Beschluss begrüßt wurde und Bremen und Niedersachsen umgehende Prüfungen ihres Schulgesetzes ankündigten, zeigten sich in anderen Bundesländern Widerstände, die zum Teil bis heute andauern.

Nordrhein-Westfalen

Die Schulministerin, Frau Löhrmann, kündigte eine schnellstmögliche Änderung des Schulgesetzes an. Die CDU wurde – als zweitstärkste Kraft im Landtag und Urheberin des Verbots – mit ins Boot geholt und am 25. Juni 2015 trat das neue Schulgesetz in Kraft:

Die vom BVerfG als verfassungswidrig definierte Privilegierung christlicher und abendländischer Kulturwerte wurde gestrichen. Der Absatz, der das Kopftuchverbot begründet hatte, wurde entfernt, Teile davon entsprechend den Vorgaben des BVerfG-Beschlusses modifiziert und an anderer Stelle eingefügt. Nach der Modifikation ist jetzt die belegte Existenz einer konkreten Gefahr die Voraussetzung eines Verbots von „Bekundungen“ und das tatsächliche Verhalten (nicht nur ein äußeres Verhalten, also ein Kleidungsstück) einer Lehrperson wird einer Betrachtung zugrunde gelegt und nicht wie bisher der sogenannte Empfängerhorizont (d.h. das, was ein Betrachter heute oder in Zukunft in eine „Bekundung“ hineininterpretieren könnte).

Erfreulich ist, dass das Schulgesetz durch einen wichtigen Text ergänzt wurde, der erstmals ausdrücklich auch die Schulleitung mit in die Verantwortung nimmt. Darin wird die Schule als Raum religiöser und weltanschaulicher Freiheit definiert, Offenheit und Toleranz gegenüber unterschiedlichen Überzeugungen und Wertvorstellungen sowie die Rücksichtnahme auf Empfindungen anders Denkender wird garantiert. Unterschiedliche Auffassungen sind zu ermöglichen und zu respektieren und das Lehrpersonal ist bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben zur Unparteilichkeit verpflichtet.

Potentielle Beschwerden im Zusammenhang mit einer kopftuchtragenden Lehrerin werden wie alle anderen Konflikte, die Lehrkräfte betreffen, behandelt.

Bremen

Die Bremer Bildungssenatorin Eva Quante-Brandt erklärte bereits am 24. März 2015, sie habe alle Schulleitungen darüber informiert, dass ab sofort Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten dürften.

Eine Veränderung des Gesetzestextes wurde bedauerlicherweise nicht für notwendig befunden, weil – so das Argument – er keine Privilegierung anderer Religions- oder Kulturwerte enthielt.

Niedersachsen

Am Tag der Bekanntgabe des BVerfG-Beschlusses kündigte Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) die Prüfung des Schulgesetzes auf Änderungsbedarf an.

Letztendlich jedoch wurde auch in Niedersachsen der Gesetzestext, der keine ausdrückliche Privilegierung christlicher oder anderer Zeichen vorgesehen hatte, unverändert beibehalten. Am 26.08.2015 gab das Ministerium einen Runderlass heraus, in dem die Schulen auf die veränderte Rechtslage hingewiesen wurden. Die Definition „substanzieller Konfliktlagen“ wurde entsprechend den Vorgaben des BVerfG-Beschlusses definiert. Im Konfliktfall wird das Kulturministerium auf dem üblichen Dienstweg über den Sachverhalt und die beabsichtigten Lösungsmöglichkeiten unterrichtet. Entscheidungen müssen zuvor mit der Niedersächsischen Landesschulbehörde abgestimmt werden. Wenn eine einvernehmliche Lösung nicht möglich ist, wird das Kultusministerium über die Entscheidung und das weitere Vorgehen informiert.

Bayern

Die bayerische Staatsregierung ließ kurz nach dem Beschluss des BVerfG verlauten, sie halte an ihrer gesetzlichen Regelung, die nicht nur ein Kopftuchverbot, sondern auch die Privilegierung „christlich-abendländischen Bildungs- und Kulturwerte“ vorsah, fest. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof habe die rechtliche Regelung bestätigt und in der Praxis gebe es keine Probleme, da es bisher noch keinen Fall gegeben habe, in der eine Lehrerin das Recht in Anspruch genommen habe, mit Kopftuch zu unterrichten. Allerdings werde der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Vollzug des Gesetzes Rechnung getragen, aber dabei werde man sich am Schulfrieden und der besonderen Schutzbedürftigkeit des Kindes orientieren.

Die Grünen legte am 9. April 2015 einen Gesetzentwurf vor, der die Streichung des Kopftuchverbots sowie der Privilegierungsklausel vorsah. Dies wurde von der CSU abgelehnt. Der Gesetzentwurf wurde an den Ausschuss für Bildung und Kultus überwiesen, der eine Ablehnung empfahl. Am 20. Oktober 2015 erfolgte die Zweite Lesung des Gesetzentwurfs, der mit den Stimmen der CSU, der SPD und der FREIEN WÄHLER abgelehnt wurde. Seitdem herrscht Stille. Es ist abzusehen, dass erst die Existenz einer Lehrerin mit Kopftuch – sei es eine Bewerberin oder eine Lehrerin, die schon im Schuldienst ist und das Kopftuch anlegt – die tatsächliche bayerische Rechtspraxis offenlegen wird.

Saarland

Das saarländische Schulgesetz sieht neben dem Kopftuchverbot auch die Privilegierung christlicher Bildungs- und Kulturwerte vor.

Die Ministerpräsidentin, Frau Kramp-Karrenbauer (CDU), erklärte noch im November 2015 gegenüber der Huffington Post: „Für mich ist das Kopftuch nach wie vor zuallererst ein Zeichen der Unterdrückung der Frau.“ Daher sei im Saarland auch bei Lehrern das Tragen eines Kopftuches im Unterricht nicht erlaubt.

Der zuständige Minister für Bildung und Kultur, Ulrich Commerçon (SPD) schweigt dazu, obwohl es zwischenzeitlich anderweitige Änderungen im Saarländischen Schulordnungsgesetz gegeben hat. Die Strategie scheint zu lauten: Kopf in den Sand stecken und die Sache aussitzen. Ändern wird sich diese Situation wohl auch hier erst, wenn ein Rechtsstreit droht.

Hessen

Das hessische Kopftuchverbot erstreckt sich über den Schuldienst hinaus auch auf die Beamten des öffentlichen Dienstes. Eine Privilegierung der „christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition“ ist gesetzlich verankert. Auf den Weg gebracht hatte das Verbot die CDU-Regierung unter Ronald Koch. Die 2015 amtierende Schwarz/Grüne Regierung kündigte an zu analysieren, inwieweit der BVerfG-Beschluss für Hessen Konsequenzen habe.

Am 08. September 2015 kündigte das Hessischen Schulministerium einen Erlass zum Schuljahresbeginn an, in dem es hieß, das hessische Schulgesetz werde künftig entsprechend dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts verfassungskonform ausgelegt. Eine Änderung des Gesetzestextes sowohl was das Schul- als auch das Beamtenrecht betrifft, wurde von Seiten der Landesregierung als nicht notwendig erachtet, denn die Privilegierung christlich-abendländischer Traditionswerte sei schon im Dezember 2007 vom Hessischen Staatsgerichtshof aufgehoben worden. Allerdings wurde keine generelle Erlaubnis zum Unterrichten mit Kopftuch ausgesprochen, sondern eine Prüfung jedes Einzelfalls im Hinblick darauf, ob eine konkrete Gefahr vorliegt. Diese soll anhand verschiedener Kriterien festgestellt werden.

Nun zeichnen sich konkrete Gefahren dadurch aus, dass sie erst dann konkret sind, wenn sie tatsächlich entstanden sind und auch über einen gewissen Zeitraum in einem gewissen Umfang fortdauern. Wird eine Gefahr nur befürchtet oder erwartet, so ist sie im Sinne des Gesetzes abstrakt und damit keine Grundlage für ein Kopftuchverbot.

Das vom Schulministerium beschriebene Verfahren, das einsetzt, wenn eine Bewerberin/Lehrerin im Dienst ein islamisches Kopftuch tragen will bzw. trägt, sieht folgendes vor: die Schulleitung informiert das zuständige Staatliche Schulamt und gibt möglichst eine erste Einschätzung der Anwesenheit der kopftuchtragenden Lehrerin auf den Schulfrieden ab; das Staatliche Schulamt wiederum informiert das Kultusministerium. Ist eine (negative) Entscheidung im Einzelfall erforderlich, trifft diese das jeweilige Staatliche Schulamt in enger Abstimmung mit der Schulleitung; das Kultusministerium wird über beabsichtigte Maßnahmen informiert.

Das bedeutet in der Praxis, dass kopftuchtragende Bewerberinnen/Lehrerinnen – und nur sie – einer besonderen Betrachtung und Beurteilung unterliegen. Die Einschätzung einer potenziellen Auswirkung auf den Schulfrieden zeigt, dass es sich hier um die Benennung einer abstrakten Gefahr handelt, die jedoch nach dem BVerfG-Beschluss nicht zu einem Kopftuchverbot führen darf. Nicht geklärt ist, ob diese Einschätzungen widerholt werden, ob die Betroffenen davon Kenntnis erhält und wo die Ergebnisse der Einschätzung gespeichert werden.

Es ist zu bezweifeln, dass dieses Vorgehen rechtlich zulässig ist. Es stellt eine Diskriminierung aufgrund der religiösen Zugehörigkeit dar (betroffen sind neben kopftuchtragenden Lehrerinnen auch kippatragende Lehrer). Von einer Gleichbehandlung aller Lehrkräfte kann also keine Rede sein.

Zudem bestärkt dieses Verfahren den – wie unsere Beratungen zeigen – schon existierenden falschen Eindruck einiger Schulleitungen, die Schulen selbst könnten über die Einstellung einer Lehrerin mit Kopftuch (z.B. per Lehrerkonferenz) entscheiden.

Baden-Württemberg

Das Kopftuchverbot in Baden-Württemberg (verabschiedet von einer CDU-Regierung) gilt sowohl im Schuldienst als auch für den Bereich der Kindertagesbetreuung (KiTa) und enthält eine Privilegierung christlich-abendländischer Kulturwerte.

Der amtierende Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Kultusminister Andreas Stoch (SPD) waren sich darin einig, den Beschluss baldmöglichst umzusetzen.

Die Fraktionen der Grünen und der SPD legten Ende Juni 2015 einen Gesetzentwurf vor, der nur minimale Änderungen enthielt (Streichung der Privilegierung und die Änderung der Formulierung „äußere Bekundungen“ und „äußeres Verhalten“ in „Bekundungen“ und „Verhalten“) und über den am 8. Juli 2015 zum ersten Mal beraten und der dann an den Ausschuss für Kultus, Jugend und Sport überwiesen wurde. Die CDU hatte zwar einen eigenen Gesetzentwurf angekündigt, hat aber bislang keinen geliefert

Am 14. September 2015 wurde der Gesetzentwurf der SPD/Grünen in einer Anhörung, in der viele Stimmen zu Wort kamen, diskutiert. Insbesondere die Praktiker im Bereich der Kindertagespflege (Gemeinde-, Städte- und Landkreistag) sprachen sich für eine Aufhebung des Kopftuchverbots aus, denn der Blick auf die religiöse und weltanschauliche Vielfalt in den letzten Jahren habe sich verändert und den Städten und Gemeinden falle es schwer, fachlich qualifizierte Bewerberinnen abzulehnen, nur weil sie ein Kopftuch tragen.

Eine größere Gruppe kirchlicher Vertreter hatte eine gemeinschaftliche Position formuliert, die von einer fehlerhaften Auslegung des BVerfG-Beschlusses und von der Angst, dem Laizismus Vorschub zu leisten, geprägt war. Es wurde vorgeschlagen, dass Schul- und Kindergartenleitungen im Falle von zielgerichteten Elternbeschwerden, deren Anliegen daraufhin prüfen sollen, ob es sich um Einwände handelt, die aus ernsthaften und gewichtigen Gründen des Glaubens und der Weltanschauung rühren. Nur diese seien geeignet, das Tragen religiös motivierter Bekleidung zu verhindern.

Nach der Vorstellung der Kirchen dürften Lehrerinnen und Lehrer im Bereich der Schule zwar ihre religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zeigen, hätten sich dabei aber zurückzuhalten und zu mäßigen. Die Entscheidung darüber, ob dies angemessen geschieht, solle bei der oberen Schulaufsichtsbehörde liegen. Erziehungsberechtigte hätten die Möglichkeit, unter Bezug auf ihre negative Religionsfreiheit gegen eine Lehrerin mit Kopftuch vorzugehen.

Dies verkennt, dass das BVerfG die Beeinträchtigung des Grundrechts auf negative Religionsfreiheit der Eltern durch die Zulassung eines Kopftuches im Schuldienst ausdrücklich verneint hat. Zudem ignoriert der Vorschlag der Kirchen die Notwendigkeit einer konkreten Gefahr.

Sollte die politische Konstellation nach der Landtagswahl zur Verabschiedung eines diesen Vorstellungen entsprechenden Gesetzes führen, ist es vorprogrammiert, dass einzelne betroffene kopftuchtragende Lehrerinnen und Erzieherinnen den Rechtsweg beschreiten werden.

Berlin

Das Land Berlin hat das Ende Januar 2005 verabschiedete Kopftuchverbot im Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung sowie im Kindertagesbetreuungsgesetz verankert. Betroffen sind über die Beschäftigten im Schuldienst und in Einrichtungen der Kindertagespflege hinaus auch Beamtinnen und Beamte, die im Bereich der Rechtspflege, des Justizvollzugs oder der Polizei arbeiten. Eine sprachlich formulierte Privilegierung christlich-abendländischer Symbole oder Kulturwerte wurde zwar vermieden, indem alle religiösen Zeichen verboten wurden, doch in der Praxis trifft das Verbot so gut wie ausschließlich kopftuchtragende muslimische Frauen und kippatragende jüdische Männer. Die staatliche Neutralität, die nach gängiger Auslegung des Bundesverfassungsgerichts dadurch definiert ist, dass der Staat allen Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften gleichermaßen fördernd (nicht gleichermaßen distanzierend) gegenüber steht, ist damit nicht gegeben.

Nach internen Quellen sah die Innenverwaltung nach der Veröffentlichung des BVerfG-Beschlusses keinen Änderungsbedarf am sogenannten Neutralitätsgesetz. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung habe ergeben, dass die Formulierung neutral und daher verfassungsgemäß sei.

Die Lage änderte sich nach der Bekanntgabe eines Gutachtens des Wissenschaftlichen Parlamentsdienstes, der das Verbot zumindest im Bereich der Schulen als nicht verfassungsgemäß definierte.

Absurd wurde die Situation, als der Vorsitzende der Berliner SPD, Jan Stöß, seine Partei darüber abstimmen ließ, ob die rechtlichen Konsequenzen, die aufgrund des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes angezeigt sind und die durch das Gutachten bestätigt wurden, auch gezogen werden sollen. Angesichts der Tatsache, dass Herr Stöß seit 2007 als Richter tätig ist, ist seine Vorstellung, dass über die Gewährung grundgesetzlich garantierter Rechte abgestimmt werden kann, befremdlich.

Die Konsequenzen der Kopf-in-den-Sand-Politik waren absehbar: Auch in Berlin wird sich jetzt eine einzelne kopftuchtragende Frau auf den beschwerlichen und unter Umständen sehr langen Rechtsweg machen, um eine Anpassung der Gesetze an die Verfassung zu erreichen. Es ist zu hoffen, dass in der ersten Instanz gemäß den Vorgaben des BVerfG entschieden wird oder das mit der Klage befasste Gericht beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf konkrete Normenkontrolle stellt.

Die Situation von Referendarinnen

In allen Bundesländern enthielten die Kopftuchverbotsgesetze aufgrund des staatlichen Ausbildungsmonopols Ausnahmeregelungen für Referendarinnen, damit sie ihre Ausbildung auch mit Kopftuch abschließen konnten. Dazu mussten sie einen Ausnahmeantrag stellen. Diese Regelung blieb in allen Bundesländern, die ihre Gesetzestexte nicht änderten, erhalten, wurde jedoch auch in NRW nicht gestrichen. Das führt zu der absurden Situation, dass eine ausgebildete Lehrerin zwar den Schuldienst mit Kopftuch antreten kann, eine Referendarin dem Gesetzesbuchstaben nach aber auf Aufforderung einen Ausnahmeantrag stellen muss.

Fazit

Die Reaktionen auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts waren – wie auch die Schaffung des Kopftuchverbots selbst – eindeutig parteipolitisch geprägt. Es ist nicht nur schade, sondern ein Zeichen der Schwäche, dass einige Bundesländer ihre Gesetzestexte unverändert ließen und nur die Auslegung änderten. Eine solche Praxis hat einen schalen Beigeschmack, denn wer garantiert dafür, dass das gleichgebliebene Gesetz nicht unter anderen politischen Vorzeichen wieder restriktiv ausgelegt wird?

Gerade, wenn man sich die Größe der Gruppe derer, die oft nach wie vor so vehement aus bestimmten Berufen ausgeschlossen werden sollen, ansieht, wird die ganze Absurdität deutlich. In NRW, dem Bundesland mit den meisten Lehrerinnen mit Kopftuch, betrug ihre Anzahl an allen Lehrkräften zur Zeit der Verabschiedung des Kopftuchverbots etwa 0,5 Prozent. NRW hat rund 6.000 Schulen – die 30 Lehrkräfte mit Kopftuch muss man also mit der Lupe suchen. Entsprechend weltfremd waren und sind die Befürchtungen, dass diese Gruppe einen Einfluss ausüben kann, die zur Grundrechtseinschränkung von Schülern führt. Es ist bedenklich und sollte uns warnen, dass selbst in einem Bundesland, in dem Lehrerinnen jahrzehntelang mit Kopftuch unterrichtet hatten, ein schlichter Regierungswechsel ausreichte, um sie aus ihrem Beruf zu drängen. Noch bedenklicher ist es, wenn wir in unserer Beratungsarbeit nach wie vor Kopftuchträgerinnen treffen, denen in Bundesländern, in denen es nie ein gesetzliches Kopftuchverbot gab, der Zugang zum Schuldienst verwehrt wird, weil einzelne Schulleiter der Meinung sind, selbst die Entscheidungshoheit über die Gewährung grundgesetzlicher Rechte zu haben.

Politische Gruppen sowie Personen, die innerhalb von Strukturen Machtpositionen besetzen und heute die Grundrechte der einen Minderheit einschränken, beschneiden sie morgen anderen. Wenn wir darauf nicht gemeinsam reagieren, sondern das Sankt-Florians-Prinzip anwenden, verlieren auf lange Sicht alle.