Buchtipp zum Wochenende

Der Staatsanteil am neonazistischen Terror

Wolf Wetzel befasst sich in seinem neun Buch mit drei zusammenhängenden Strängen untergründiger Staatsaktivitäten. Im MiGAZIN lesen Sie einen Exklusiv-Auszug zum NSU-Komplex: Welchen Anteil hat der Staat am NSU? Welche Verstrickungen gibt es?

„Wenn man die Verhinderung der Aufklärung des Terroranschlages auf das Oktoberfest in München 1980 präsent hält, fällt es leichter, die bis heute aufrechterhaltenen Erklärungen für das „komplette Behördenversagen“ im Kontext der dreizehn Jahre währenden Terror- und Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes/NSU einzuordnen.

Laut Behördenangaben werden dem NSU zwischen 2000 und 2011 neun Morde, ein Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007, mehrere Bombenanschläge und zahlreiche Banküberfälle zugeordnet. Denselben Behörden zufolge hatten diese über elf Jahre keine ‚heiße Spur‘. Genauso lange wollen sie nichts von der Existenz dieser neonazistischen Terrorgruppe gewusst haben. Bis zum Jahr 2011 ‚wussten‘ dieselben Behörden, dass die Morde im ausländischen Milieu begangen wurden. Man bezeichnete sie als ‚Döner-Morde‘ und suchte die Täter im Umfeld der Opfer.

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Rund 35 Jahre nach dem Oktoberfestanschlag ist vieles im NSU-VS-Komplex so, als ob ein Remix der 80er-Jahre-Ermittlungen (mit kleinen Updates) ablaufen würde. Das betrifft nicht nur die mit allen politischen und juristischen Mitteln betriebene Nichtaufklärung, sondern auch den Umstand, dass man Täter schützen wollte, die am jeweiligen Terroranschlag beteiligt gewesen waren. (…) Um dieses Ergebnis über die Ziellinie zu bringen, wird alles getan: Man konstruiert einen NSU aus drei Mitgliedern, obwohl dieser selbst von einem ‚Netzwerk der Kameraden‚ spricht. Man unterschlägt bis heute, dass über 40 V-Leute im Nahbereich des NSU aufgeflogen sind (…). Staatlich geführte Neonazis, die den NSU ideologisch und materiell unterstützt haben – durch Bereitstellung von Ausweisen, Unterkünften, Geld, Waffen etc.

Man vernichtet Hunderte von Akten, die die Tätigkeit dieser V-Leute dokumentiert haben. Man präpariert sie für belanglose ‚Teilaussagen‘, weil alles andere das ‚Staatswohl‘ gefährden würde. Man lässt Beweismittel verschwinden, man erklärt Zeugenaussagen für unglaubwürdig, wenn sie die eigene Beweisführung gefährden bzw. ad absurdum führen würden. (…)

Der Mord an Halit Yozgat in Kassel 2006

„Es geht ja nicht um mich, oder so. Es geht nicht um alle. Es geht um die Kasseler Problematik. Und in der Kasseler Problematik sitzt Du ja ein bisschen drin, ne?“ (Fehling, Chef der Außenstelle des LfV Hessen in Kassel, in einem Telefonat mit Andreas Temme vom 29. Mai 2006)

(…) In Kassel ereignete sich am 6. April 2006 der neunte Mord, der dem NSU zugeordnet wird. Dieses Mal wurde das Opfer, der Besitzer des Internet-Cafés Halit Yozgat, kaltblütig ermordet. Wie bei den vorangegangenen Morden wurde ‚zufällig‘ auch dieser ins ausländische Milieu verortet. (…)

Das Internetcafé ist am 6. April 2006 durchschnittlich besucht, als eine Person das Geschäft gegen 17 Uhr betritt, an die Theke tritt, eine Pistole mit Schalldämpfer zieht und kurz darauf Halit Yozgat mit zwei Schüssen in den Kopf so schwer verletzt, dass dieser noch am Tatort stirbt. (…) Die Mordkommission sichert kurze Zeit später den Tatort. Man hält die Personalien der noch anwesenden Internetbesucher fest, sichert die Spuren, die Internetbenutzerdaten. Dem Aufruf der Polizei, sich als mögliche ZeugInnen des Mordes zu melden, folgen alle bis auf einen Besucher. Die Polizei kann die Identität dieser Person feststellen: Es ist Andreas Temme (…) Andreas Temme wird als Tatverdächtiger unzählige Male vernommen. Dabei zeigt sich seine Erinnerung als äußerst biegsam (…): „Erst kannte er – in dem Glauben, die Anwesenheit sei ihm nicht nachweisbar – das Café angeblich nicht, dann war er zu einem anderen Zeitpunkt, am 5.4.2006, dort und schließlich will er von den maßgeblichen Vorgängen nichts mitbekommen haben.“ (Beweisantrag der Nebenkläger vom 12.11.2013)

Nachdem er nicht mehr leugnen konnte, zur Tatzeit am Tatort gewesen zu sein, erinnerte er sich wieder ganz genau: Er habe dort als Privatperson in einem Erotik-Portal gesurft. (…) Auf seinem Handy werden Verkehrsdaten sichergestellt, die belegen, dass er sowohl vor als auch nach seinem Internetbesuch Telefonkontakt zu einem Neonazi hatte. Damit konfrontiert, erklärt Temme, dass er V-Mann-Führer dieses Neonazis sei. Um aufzuklären, welche Rolle seine Anwesenheit am Tatort und die Telefonate mit einem Neonazi spielen, beantragt die Polizei u.a. eine Aussagegenehmigung für den vom VS-Mitarbeiter Temme geführten Neonazi. Diese Amtshilfe wird zuerst vom Chef des hessischen Verfassungsschutzes, wenig später vom hessischen Innenminister Volker Bouffier (CDU) abgelehnt: Ich bitte um Verständnis dafür, dass die geplanten Fragen … zu einer Erschwerung der Arbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz führen würden.“ (…) In der Folge wurde die ermittelnde Polizei mit unvollständigen, also manipulierten Aktenbeständen versorgt. Die Akten zum Neonazi und V-Mann Benjamin Gärtner waren geschwärzt. Klarakten bekamen die Ermittler nie zu Gesicht. (…) Dermaßen mit Verschleierungen der Umstände konfrontiert, liefen alle Bemühungen um Aufklärung ins Leere. (…)

Über vier Jahre lang hielten alle an dem Mordfall beteiligten Behörden dicht – von dem ansonsten so viel beschworenen Behördenwirrwarr keine Spur.

Das änderte sich erst, als Beate Zschäpe als Folge der tödlichen Ereignisse am 4. November 2011 – mit der Versendung der Video-Kassetten – dafür sorgte, dass die Existenz des NSU nicht mehr geleugnet werden konnte. Seitdem wissen wir noch lange nicht alles, aber genug (…) Dabei ist ein Beweismittel von erheblicher Bedeutung, das nun in Auszügen vorliegt: Die Polizei hatte den Verfassungsschutz abgehört – eine Maßnahme, die durchaus Sinn ergibt. Über Wochen wurden die Telefonanschlüsse überwacht und protokolliert, die Andreas Temme benutzte. Es waren über 200 Telefonate.

Andreas Temme – ein verbeamteter Neonazi mit der Aufgabe, Neonazismus zu bekämpfen

Andreas Temme war – dem Wortsinn nach – kein Verfassungsschützer, sondern ein verbeamteter Verfassungsfeind. In seiner Jugend gab man ihm den Namen ‚Kleiner Adolf‘, dem er auch als V-Mann-Führer von Neonazis gerecht wurde. In seiner Wohnung fand man Auszüge aus Hitlers ‚Mein Kampf‘ und weitere neonazistische Propaganda. „In T.s Büro fanden sich Bücher wie ‚Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung der SS‘, ein Lehrplan des SS-Hauptamts oder ‚Judas Schuldbuch‘.“

(…) Und was das hessische Innenministerium über fünf Jahre erfolgreich zu schützen versuchte, ist mittlerweile auch bekannt: Andreas Temme hat am Tattag nicht mit irgendjemandem telefoniert, sondern mit dem Neonazi und V-Mann Benjamin Gärtner, einmal um 13:06 Uhr und ein weiteres Mal um 16:10 Uhr, eine Stunde vor der Mordtat. Benjamin Gärtner wurde als Gewährsperson ‚GP 389‘, also als Spitzel geführt. (…)

Und als wäre all das nicht genug, (…) zertrümmert nun ein noch größerer Stein Temmes Erinnerungsgebäude. Ein Stein, über den weder die Polizei noch die Medien acht Jahre berichtet haben: Bereits 2006 hatte man in der Wohnung seiner Eltern Handschuhe von Andreas Temme sichergestellt, die „Schmauchspuren“ aufwiesen. Was in jedem Dorfkrimi als die ‚heiße Spur‘ ausgewertet wird, wurde hier professionell, als mit Vorsatz unterlassen: „Während die hessische Polizei die Spur als wichtig erachtete, wurden sie nach Rücksprache mit dem Bundeskriminalamt nicht weiterverfolgt. Das Argument lautete, Andreas T. sei Sportschütze, Schmauch an seiner Kleidung habe geringen Beweiswert.“ (freiepresse.de vom 6.6.2015)

(…) Man mag es kaum glauben, aber genauso ist es passiert: Man verfolgte die wichtigste Spur in diesem Mordfall nicht! (…): Man „ließ außer Acht, dass besagte Schmauchspur eine unübliche chemische Zusammensetzung aufwies. Sie entsprach exakt der Treibladung der bei den Morden verwandten Munition eines tschechischen Herstellers. In T.’s Sportschützenverein gehörte diese Munition nach ‚Freie Presse‘-Recherchen nicht zu den üblichen Munitionstypen.“ (ebd.)

Hinter dem ‚Zufall‘ verbirgt sich nichts anderes als ein anderer, ein viel plausiblerer Geschehensablauf

Landauf, landab werden uns die besonderen Kasseler Umstände, also die Anwesenheit eines Verfassungsschutzmitarbeiters bei einem Mord, als Zufall beschrieben.

Gans besonders haben sich dabei Redakteure (John Goetz, Hans Leyendecker und Tanjev Schultz) der Süddeutschen Zeitung ausgezeichnet, als sie gleich in zwei Formaten einen Beitrag zur Ehrenrettung des hessischen Verfassungsschutzes abgeliefert hatten: Einmal als Zeitungsbeitrag: „Chaostheorie – Gibt es in Deutschland einen ‚Tiefen Staat‘“ (SZ vom 5.7.2012) und einmal als Fernsehversion: „Pleiten, Pech und Pannen“ (Panorama-Beitrag vom 5.7.2012).

In beiden Fällen zielen die Beiträge – entgegen der eigenen Erkenntnisse – darauf ab, Andreas Temme zur tragischen Figur zu stilisieren (…) Wie dünn und fadenscheinig dieser Verweis auf ‚Verschwörungstheorie‘ ist, spürte auch der SZ-Redakteur Hans Leyendecker, als er in der ARD-Sendung Bericht aus Berlin vom 14.4.2013 danach gefragt wurde. Geradezu panisch antwortete er in einer Endlosschleife:

„Das is ausermittelt. Das ist nun wirklich damals ausermittelt, das ist jetzt noch mal ausermittelt. Der saß da, das is auch ne Figur wie eigentlich aus ’nem Roman, hat früher Mein Kampf intensiv gelesen. Es passte scheinbar alles. Aber es ist ausermittelt. Und dann kann ich nicht mit ’ner Verschwörungstheorie noch mal um die Ecke kommen.“

(…) Wer sich mit polizeilichen Ermittlungstätigungen und -methoden beschäftigt, wird schnell erfahren, dass dort ‚der Zufall‘ – also die Lehre vom Unwahrscheinlichen – als Erkenntnismethode nicht vorkommt. Zu Recht. Denn polizeiliche Ermittlungsmethoden gehen vom Gegenteil aus: von der Wahrscheinlichkeit eines Geschehensablaufes. Denn weder die Polizei noch ein Staatsanwalt noch ein Richter kennen die Wahrheit. Sie könnten im besten Fall nur ein Geschehen rekonstruieren – mithilfe von Indizien, Zeugen und Spuren. (…) Am Ende dieses Ermittlungsprozesses bleibt ein Geschehensablauf, der aufgrund der vorhandenen Beweismittel in sich konsistent ist, am plausibelsten rekonstruiert werden kann. Nimmt man alle uns vorliegenden Beweismittel im Fall Kassel zur Grundlage und handelt nach diesen polizeilichen Prämissen, dann kommt man zu einem recht eindeutigen Ergebnis:

Für den Geschehensablauf, den Polizei und Gericht für die Ereignisse in Kassel für plausibel halten, spricht so gut wie nichts: Einzig und allein die Tatwaffe (eine Česká 83), die im Brandschutt des Hauses gefunden wurde, in dem auch die NSU-Mitglieder wohnten, lässt eine Täterschaft des NSU infrage kommen. Mehr nicht.

Das ist ein schwacher, um nicht zu sagen hauchdünner Beweis. Denn damit ist weder geklärt noch bewiesen, dass die beiden NSU-Mitglieder auch die Täter waren – selbst wenn man davon ausgeht, dass sich die Waffe tatsächlich im Besitz der uns bekannten NSU-Mitglieder befand.

Gegen den Geheimdienstmitarbeiter Andreas Temme sprechen zahlreiche Indizien und Sachbeweise:

(…) Geht man – gemäß der vorliegenden Beweismittel – von einer 20-prozentigen Wahrscheinlichkeit einer Täterschaft der uns bekannten NSU-Mitglieder aus, so belasten die restlichen 80 Prozent den hessischen Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme wegen möglicher Mittäterschaft bzw. Beihilfe zu Mord.

Fänden die polizeilichen Ermittlungsgrundsätze tatsächlich Anwendung, würde das Ermittlungsergebnis im Mordfall Kassel geradezu zwingend zu einer Anklage gegen Andreas Temme führen.“