MiGAZIN: Herr Bartsch, die hohe Zahl der ehrenamtlichen Helfer in Deutschland ist überaus erfreulich. Vielenorts stoßen die Freiwilligen aber an ihre Belastungsgrenze. Wo sehen Sie die Bundesregierung in der Pflicht?
Dietmar Bartsch: Die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer haben vielerorts eine humanitäre Katastrophe verhindert. Ihr Einsatz ist gar nicht hoch genug zu würdigen. Oftmals haben sie Kernaufgaben des Staates übernommen, der schlicht versagt hat. Das darf so nicht sein. Auch in den meisten Verwaltungen wird engagiert gearbeitet. Den gewaltigen Personalabbau im Öffentlichen Dienst haben nicht die dort Beschäftigten zu verantworten, die die Folgen nun zu tragen haben.
Derzeit ist es so, dass vor allem die Kommunen völlig unzureichend unterstützt werden. Wir fordern seit langem, dass der Bund die Unterbringungs- und Versorgungskosten für die Dauer des Asylverfahrens und für eine Übergangszeit nach einer Anerkennung komplett übernimmt. Der Bund muss sich darüber hinaus um die notwendigen Investitionen in die Infrastruktur und in die Integration kümmern – beim Bau von Wohnungen, bei der Einstellung von Erzieherinnen und Erziehern sowie Lehrerinnen und Lehrern, bei der sozialen Infrastruktur und bei der Integration in den Arbeitsmarkt etwa. Länder und Kommunen können die Aufnahme und die Integration der Schutzsuchenden nicht allein stemmen.
Der Bund ist aber in noch ganz anderer Größenordnung gefordert. Schließlich ist Deutschland für Fluchtursachen in mehrfacher Hinsicht mit verantwortlich. Die müssen beseitigt werden.
MiGAZIN: Apropos Fluchtursachen: Ihre Partei schlägt bei diesem Thema ganz andere Töne an als Schwarz-Rot. In einem Positionspapier zeichnen Sie die USA und ihre „westlichen Verbündeten“ als verantwortlich für die aktuelle Fluchtsituation im Nahen Osten. Sie fordern Kriegsstopp oder ein Stopp von Waffenlieferungen. Ist Ihre Außenpolitik machbar ohne einen offenen Bruch mit den Verbündeten oder mit der Waffenindustrie? Frankreich etwa befindet sich eigener Aussage zufolge derzeit sogar „im Krieg“.
Bartsch: Wir haben ja kein Bündnis mit der Waffenindustrie, also gibt es auch keinen Bruch (lacht). Ein Stopp von Waffenexporten in Krisenregionen wäre sofort notwendig und machbar, ohne große wirtschaftliche Verwerfungen. Wenn das ein paar Vertragsstrafen kostet, dann ist es eben so. Das sollten uns der Frieden und die Bekämpfung von Fluchtursachen schon wert sein! Schnell sollten jedoch alle Waffenexporte verboten und die Konversion dieser Arbeitsplätze vorangetrieben werden.
Meine grundsätzliche Position und Erfahrung ist: Terror lässt sich nicht mit Krieg bekämpfen. Konflikte in Krisenregionen werden entweder politisch gelöst – oder gar nicht. Die Ressourcen des IS muss man austrocknen. Er darf kein Geld bekommen, er darf keinen Nachwuchs rekrutieren können. Wir brauchen einen Friedensplan der internationalen Gemeinschaft für Syrien und keine Stellvertreterkriege.
Nach den Anschlägen von Paris müssen wir uns natürlich weiter die Frage stellen, wie Terror bekämpft werden kann. Wir als LINKE meinen: mit zivilen Mitteln, mit guter, europäisch koordinierter Ermittlungsarbeit der Polizei, mit Prävention. Freiheitsbeschränkungen sind keine Lösung, unsere Antwort kann letztlich nur lauten: Mehr Offenheit, mehr Demokratie. Mich ermutigt es sehr, wenn gerade jetzt junge Leute sagen und zeigen, dass sie sich ihren Alltag, zu dem Sport, Musik, Reisen und Geselligkeit zählen, nicht kaputt machen lassen.
MiGAZIN: Bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen scheint der Staat an seine Grenzen zu stoßen. Und der Winter steht vor der Tür. Sind wir tatsächlich überfordert oder einfach nur nicht gut genug vorbereitet?
Bartsch: Die Bundesregierung hat eine rechtzeitige und gute Vorbereitung versäumt. Die Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die Hilferufe des UNHCR, aber auch die Katastrophen im Mittelmeer wiesen schon vor einem Jahr darauf hin, dass sich sehr viele Menschen auf den Weg machen werden oder schon auf der Flucht sind. Auch aus den Ländern und Kommunen kamen frühzeitig Hinweise, dass die Asylprognosen des Bundes viel zu niedrig sind. Hierzulande setzten Verantwortliche lange darauf, die Türkei, Griechenland und Italien würden die Flüchtenden aufhalten und das Dublin-System funktionieren. Dieses Denken war und ist menschenverachtend, es war und ist grundfalsch.
Überfordert ist unser Land nicht, aber herausgefordert. Und diese Herausforderung, viele schutzsuchende Menschen bei uns aufzunehmen, müssen wir annehmen und uns nicht mit irrigen Debatten über Obergrenzen oder Abschottungsmethoden aufhalten. In den Kommunen, besonders in denen mit Wohnraumknappheit, wird es schon schwierig. Aber bisher haben findige Verantwortliche vor Ort und auch die unglaublich engagierten Ehrenamtlichen das toll gemeistert.
Ich hatte jetzt viele Gespräche mit Kommunalpolitikerinnen und -politikern. Sie haben kein Blatt vor den Mund genommen bei der Schilderung der großen Probleme, vor die sie jahrelanges Staatsversagen und die gegenwärtige Flüchtlingsbewegung stellen. Aber alle haben zugleich den Willen ausgestrahlt, die Aufgaben zu bewältigen, und sie beweisen das im Alltag. Leider werden viele Potentiale im Land aus ideologischen Gründen der Abschottung nicht genutzt: Warum können Asylsuchende z.B. nicht von Beginn an bei Verwandten, Freunden und privaten Unterstützerinnen und Unterstützern wohnen, wenn dies möglich ist? Die Rechtslage und das starre Verteilungssystem in Deutschland stehen dem entgegen, und trotz großem Unterbringungsbedarf werden diese Regelungen nicht geändert. Stattdessen wurde der verpflichtende Aufenthalt in riesigen Erstaufnahmeeinrichtungen noch verlängert.
Bund, Länder und Kommunen müssen schnell handeln, besonders bei der Schaffung von Wohnraum und von Möglichkeiten zur Integration in Arbeit, Bildung und Gesellschaft. Aber welches Land, wenn nicht das wirtschaftlich starke Deutschland, sollte diese Aufgabe meistern?!
MiGAZIN: Seit Wochen diskutiert Deutschland über etwaige Obergrenzen bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Nun scheint sich in der Regierungskoalition die Idee von Kontingenten durchzusetzen. Was halten Sie davon?
Bartsch: Das sehe ich äußerst skeptisch. Unstrittig ist für mich, dass sichere und legale Fluchtwege geschaffen werden müssen, die Menschen beispielsweise den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer ersparen. Parallel dürfen andere Fluchtwege nicht versperrt werden. Obergrenzen für Flüchtlinge halte ich grundsätzlich für nicht akzeptabel und auch nicht für praktikabel. Denn Obergrenzen bedeuten, dass wir am Ende Menschen an der Grenze abweisen müssten. Das wäre auch ein Verstoß gegen das Asylgrundrecht, gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention. Wollen die Befürworter einer Begrenzung all diese fundamentalen Vereinbarungen aufkündigen? Dann sollen sie das auch so offen sagen! Es wäre eine Aufkündigung der Menschenrechte.
MiGAZIN: Sind Sie für unbegrenzte Einwanderung?
Bartsch: DIE LINKE war und ist gegen Einschränkungen des Asylrechts. Praktisch wird es seit 1993 beschnitten. Wir waren damals gegen den sogenannten Asylkompromiss und stimmen auch heute gegen Verschärfungen wie sie etwa beim Asylbewerberleistungsgesetz erfolgten. Dem haben die Landesregierungen, an denen wir beteiligt sind, auch im Bundesrat nicht zugestimmt. Bei den Grünen sah das anders aus. Grundrechte verlieren ihre Geltung nicht dadurch, dass sie massenhaft in Anspruch genommen werden. Es gibt keine menschliche Alternative zum Schutz der Flüchtlinge, und es gilt immer noch: Nicht die Flüchtlinge, die Fluchtursachen müssen bekämpft werden.
MiGAZIN: Bekanntlich lässt sich aus der Opposition heraus am einfachsten regieren. In einem Zehn-Punkte-Papier zur aktuellen Asylpolitik fordert Ihre Partei Integrations- und Wohnungsprogramme, die Geld kosten. Wie wollen Sie Ihre Asylpolitik finanzieren?
Bartsch: Viele Probleme, die wir ohnehin hatten – fehlende Arbeitskräfte im Bildungs- und Erziehungssystem, eine marode Infrastruktur, unterfinanzierte Kommunen und kaputt gesparte Verwaltungen, um wenige Beispiele zu nennen – verschärfen sich nun noch einmal. Ich meine, wir sollten jetzt das notwendige Geld in die Hand nehmen zugunsten aller hier lebenden und zu uns kommenden Menschen. Die Mittel für die erforderlichen Maßnahmen sind vorhanden, wenn die Vermögenssteuer als Millionärssteuer wieder eingeführt wird, wenn Kapitalerträge höher besteuert und die Erbschaftssteuer reformiert werden. Die 500 reichsten Familien verfügen über ein Vermögen von 615 Milliarden Euro. Das entspricht nahezu zwei Bundeshaushalten! Und, um es unmissverständlich zu sagen: die teuersten Flüchtlinge sind die Steuerflüchtlinge. Sie prellen unsere Gesellschaft um Milliarden.
MiGAZIN: Immer wenn irgendwo eine Flüchtlingsunterkunft brennt, kommt das Thema Rassismus für ein paar Tage hoch, ohne dass sich etwas wesentlich ändert. Pegida oder die AfD gewinnen Umfragen zufolge wieder stark an Zulauf. Wer macht was falsch in diesem Land?
Bartsch: Zuerst jene auf der politischen Bühne, die sich in populistischer Angstmache ergehen. Der Zulauf der rechtsradikalen Parteien und Bewegungen speist sich schließlich nicht aus realen Erfahrungen, sondern aus Unkenntnis und aus fremdenfeindlichen Vorurteilen. Für jede und jeden Einzelnen, für jede Partei oder Organisation gilt: Wer diesen Ressentiments nicht entgegen tritt, verstärkt diese Stimmungen und gießt Wasser auf die Mühlen rechtsextremistischer Hetzer und Gewalttäter.
Ich warne vor populistischer Stimmungsmache auf dem Rücken der Geflüchteten. Stattdessen müssen wir zur sachlichen Arbeit zurückkehren. Das „Wir schaffen das“ der Kanzlerin war richtig. Leider fehlte ihr ein Konzept dafür, wie es umzusetzen ist.
MiGAZIN: Bundeskanzlerin Angela Merkel durchlebt derzeit wohl ihre schwierigste Amtszeit – vor allem Unionspolitiker machen ihr das Leben schwer in der Flüchtlingspolitik. Horst Seehofer hat sie zuletzt auf dem CSU-Parteitag auf offener Bühne schlecht aussehen lassen, indem er ihr offen wiedersprach. Tut Ihnen die Kanzlerin – zumindest ein wenig – leid?
Bartsch: Ich finde es unverantwortlich, wie die CSU die von ihr mitgewählte Regierungschefin demontiert. Es ist fahrlässig, wenn eine Regionalpartei, die allerdings in der Bundesregierung sitzt, das ganze Land mit fremdenfeindlichen Tiraden nach rechts drängen will. Mich bewegt die Frage sehr, was eigentlich die politisch-moralische Geschäftsgrundlage der regierenden Großen Koalition ist. DFB, VW und BND sind zu Kürzeln für moralische Verkommenheit geworden. Dass so etwas möglich ist, hat selbstverständlich zu tun mit den Werten und Normen, die herrschende Politik setzt und propagiert.