MiGAZIN: Seit der Missbrauchsskandal in Hannover aufgedeckt wurde, ist die Öffentlichkeit erschüttert. Wie kann es dazu kommen, dass ein Polizist seine Macht missbraucht und einen Flüchtling derart demütigt?
Thomas Wüppesahl ist Kriminalbeamter a.D. und ehemaliger Bundestags- abgeordneter (ehemals Die Grünen). Er ist Vorsitz der Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten, auch „Die Kritischen“ oder „BAG“ genannt. Der 1987 von Polizeibeamten gegründete Berufsverband setzt sich für Menschen- und Bürgerrechte, insbesondere im Polizeidienst ein.
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Thomas Wüppesahl: Das passiert deshalb, weil die Kontrolle nicht vorhanden ist. Es gibt keine funktionierende Dienstaufsicht, die Staatsanwaltschaften gehen nicht nach ihren Aufgaben der Strafverfahrensordnung nach, also als neutrale Ermittlungsbehörde zu arbeiten, sondern sind parteiisch gegenüber ihren Polizisten. Darüber hinaus sind die Innenminister schnell dabei, alles gesund zu beten. Die stellen sich, egal was passiert, vor ihre Polizei. Und die veröffentlichte Meinung ist auch nicht ganz unproblematisch, weil die Zeitungen täglich voll sind über Polizeiberichte aus den Polizeiredaktionen. Aber die Kollegen von dort können nicht kritisch berichten. Wenn sie das tun, werden sie ausgegrenzt, weil die Pressestellen der Polizei die Polizeireporter, die kritisch berichten, nicht mehr über nächste Durchsuchungsmaßnahmen, Festnahmen und Aufschläge jeglicher Art informieren.
In Hannover wird jetzt vor allen Dingen darauf geguckt: Wer hat uns verraten? Wer ist zum NDR gegangen? Das ist ja auch schon bezeichnend, dass jemand zum NDR geht und nicht zur Staatsanwaltschaft oder zur Polizeidienststelle. Die Strukturen müssten in der Presse offensiver kommuniziert werden: Dass die Staatsanwaltschaften ständig versagen, dass, selbst wenn ein Polizist vor Gericht gestellt wird, er den „Polizeibonus“ hat. Und die Statistiken sind eindeutig: Wir haben ein Verhältnis von unter 1 Prozent der beschuldigten Polizeibeamten, die überhaupt vors Gericht gestellt wurden.
Sie sagen also, es war nicht nur das psychische Problem eines Einzeltäters, sondern auch ein grundsätzlicher Fehler im System?
Wüppesahl: Polizeigewalt findet täglich statt. Und auch dieser Täter in Hannover hat nicht alleine gehandelt, es gibt Mitwisser und möglicherweise auch Mittäter. Er hat das über Monate gemacht, wenn nicht Jahre. Es ist ein brisantes gesellschaftliches Tabuthema. Natürlich gibt es psychische Probleme bei einzelnen Beamten. Aber das würde man in den Griff kriegen, wenn die Vorgesetzten nach den Regeln arbeiten würden. Ich sagte ja schon, die Dienstaufsicht funktioniert nicht. Und auch Hannover ist geradezu ein exemplarisches Beispiel für mehrere Thesen von uns Kritischen Polizisten. Die Vorgesetzten machen oft sogar mit. Und selbst, wenn sie es mitbekommen, wird dann erstmal dieser Deckmantel der falschen Kollegialität drüber gelegt. Nicht nur Rassismus ist das Problem, sondern es geht darum, wie schwache Bevölkerungsgruppen in solche Behördenwillkür und Behördengewalt geraten. Polizeiarbeit ist hautnah.
In der Staatsanwaltschaft sitzen manchmal die gravierenderen Täter, die Schreibtischtäter. Gerade die Arbeit der Staatsanwaltschaft macht die Polizeiskandale ja erst möglich. Mir will doch keiner erzählen, dass es nicht schon mal eine Anzeige gegen diesen Polizisten, der als Haupttäter im Visier ist, erstattet worden ist. Und genau diese Methode kennen wir seit mehreren Jahrzehnten. Selbst wenn dutzende Anzeigen gegen einen einzelnen Beamten erstattet worden sind, wegen Polizeigewalt im Dienst, wurden die fast immer eingestellt. Das sind gewissermaßen Motivations-Bonbons: Die Staatsanwaltschaft hat es durchgehen lassen. Dann kommt es irgendwann zu einer ganz verrückten Eskalation bis hin zur Tötung durch Polizeigewalt. Nur wenn die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt, kann ein Gericht den Sachverhalt bearbeiten.
Polizeikollegen sollen von den Flüchtlings-Misshandlungen in Hannover gewusst, Details über die Misshandlungen per SMS erhalten haben. Denken Sie, das Problem geht über Kollegen und Mitwisser hinaus und erstreckt sich bis hin zur Staatsanwaltschaft?
Wüppesahl: Es haben eben alle mitgemacht. Es gibt Kampagnen von Länderpolizeien für mehr Zivilcourage, mit plakativen Sprüchen wie „Wer nichts tut, macht mit“. Darüber können wir nur lachen. Gerade für die Polizei gilt das, weil die Kollegen durch die Bank nichts tun, wenn die Kollegen Übergriffe machen. Es gibt bundesweit ja nur ganz seltene Fälle, wo Kollegen Strafanzeigen gegen Kollegen erstatten. Und hier hätten ja Kollegen in Serie, zumindest gegen diesen einen Kollegen, Strafanzeige erstatten müssen. Es ist nicht geschehen. Und das ist der Normalfall, nicht der Gesetzeslage, also der Strafverfolgungspflicht nachzukommen.
Wir brauchen eine Anlaufstelle, auch für die Polizisten. Ich kriege hier ständig Meldungen, auch von unseren Mitgliedern, die sich einfach schämen. Die wissen, wenn sie damit zur Staatsanwaltschaft gehen oder zu einer Polizeidienststelle, dann bedeutet das das Ende der Karriere, dann werden sie ausgegrenzt. Bevor sie auf der neuen Dienststelle ankommen ist klar: Das ist kein „Guter“. Die „guten“ Kollegen sind diejenigen, die alles mitmachen. Also, auch Übergriffe von Kollegen notfalls decken. In Hannover wurde es durch die SMS dokumentiert. Mit solchen Übergriffen hat sich der Täter sich ja gerühmt, man ist ein „Held“.
Es gibt ja nicht nur „die“ Polizei in Deutschland, sondern mit dem Bundeskriminalamt und der Bundespolizei 16 Länderpolizeien – also mindestens 18 eigenständige Polizeien. Wer kontrolliert die Polizeiarbeit? Was können die Bürger tun, wenn Polizeigewalt missbraucht wird?
Wüppesahl: Solange wir keine Innenminister haben, die wirklich Veränderung wollen, wird es immer so weiter laufen. Die Bevölkerung wird dumm gehalten. Man hat keine Chance, sich dagegen zu wehren, solange die Ministerialbürokratien nicht anders ausgerichtet werden. Denn das, was wir an Polizeigewalt haben, ist ja strukturell bedingt. Mit ganz vielen Stellschrauben, die alle Augen und Ohren zuhalten. Das sind nicht nur die Kollegen, die vor Gericht im Zeugenstand „zufällig“ nichts gesehen haben oder deren Gehör zeitweise ausgesetzt hat. Wenn man diese Zeugenaussagen erlebt, dann müsste eigentlich umgehend eine Überprüfung auf Polizeidiensttauglichkeit beim Amtsarzt gemacht werden. Das geht geradezu ins Lächerliche. Es geht in alle anderen Bereiche hinein, bis in die Staatsanwaltschaften und zu einzelnen Richterpersönlichkeiten.
Es ist auch viel Sonntagslyrik dabei. Ob Herr de Maizière sich vor die Kamera stellt oder der Oberstaatsanwalt in Hannover, und sie es einen bedauerlichen Ausnahmefall nennen. Es wird der Öffentlichkeit suggeriert, dass es überall schwarze Schafe gibt, insgesamt sei aber alles in Ordnung. Dabei gibt es inzwischen ganze Herden schwarzer Schafe bei unseren Polizeien. Nicht überall und flächendeckend, aber viel zu häufig. Immer wenn es Spitz auf Knopf steht, funktioniert der falsche Korpsgeist: Denken Sie nur an Oury Jalloh, der Flüchtling, der in einer Polizeizelle verbrannte. Es gibt viele weitere Einzelfälle. Wir bleiben aber dabei als Kritische: Man kann das verändern. Es muss eine Kontrolle her, die den Namen verdient.
Was können Flüchtlinge bis dahin tun, wenn sie Polizeigewalt erleiden? An wen können sie sich wenden, wenn die Ordnungshüter selbst sie misshandeln?
Wüppesahl: Ich könnte Ihnen mindestens zehn Rechtsanwälte nennen, die Flüchtlinge oder andere schwache Bevölkerungsgruppen, die Opfer von Polizeigewalt geworden sind, in folgender Weise beraten: ‚Verzichten Sie auf eine Strafanzeige. Wenn sie die machen, dann haben sie noch ein ganz anderes Programm vor sich.‘ Was kann man dagegen tun? Man kann nur nach Beweismitteln suchen, Sachbeweise, Videoaufnahmen, Fotos oder Zeugen, die vor Gericht für einen aussagen. Besser keine Personalbeweise. Denn wir haben auch Prozessbeobachtungen erlebt, in denen jemand in der Wache verprügelt wurde, in dem Fall ein Deutscher. Zwei Beamte wurden angeklagt, dann marschierte die ganze Schicht auf und sagte: Der hat die Wache unbeschadet verlassen. Da wird gelogen, dass es nur so kracht. Es gibt leider nicht viele Möglichkeiten. Die entscheidende Ebene ist die politische. Der Fisch stinkt am Kopf zuerst und so ist das hier auch. Die Innenminister wollen eine solche Polizei oder nehmen es mindestens in Kauf.