Revolution durch die Hintertür?

Das neue Migrationskonzept der EU-Kommission

Die EU-Kommission hat ihre neue Migrationsstrategie vorgestellt. Die vorgesehenen Änderungen sind weitreichend, die Umsetzung mehr als fraglich. Mehrere Mitgliedstaaten haben schon ihr Veto signalisiert. Es könnte jedoch einen Ausweg geben.

Das Lampedusa-Unglück im Herbst 2013 hat eine Welle von Lippenbekenntnissen losgetreten. Einen sofortigen Wandel in der Migrationspolitik haben viele Politiker gefordert, zuletzt auch solche aus dem konservativen Lager. Geändert hat sich jedoch erschreckend wenig. Die Zahl der Toten hat weiter zugenommen. Allein dieses Jahr dürften bereits um die 2000 Menschen ihr Leben beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, verloren haben – 30 Mal mehr im Vergleich zum Vorjahr.

Die EU-Kommission macht nun ernst. Das neue Migrationskonzept, das sie heute vorstellt, sieht weitreichende Veränderungen vor. Dazu gehört die Einführung eines Verteilungsschlüssels, sowohl für bereits in der EU angekommene Migranten („Relocation„) als auch für Geflohene aus Krisengebieten, die sich in Nachbarländern aufhalten, dort aber dauerhaft keinen Schutz gewährt bekommen („Resettlement„). Die Neuverteilung der sich bereits in der EU befindenden Personen soll gesetzlich geregelt, also verpflichtend sein. Der Schlüssel soll auf den Kriterien BIP, Bevölkerungsgröße, Arbeitslosenzahl und Anzahl der bereits aufgenommenen Asylbewerber beruhen. Die kurzfristig vorgenommene Umverteilung soll die Dublin-Verordnung zwar nicht aushebeln, jedoch als Vorläufer eines langfristig angelegten Quoten-Modells dienen. Ein solches würde zwangsläufig das Ende von Dublin bedeuten. Dies wird in dem Kommissionspapier allerdings nur zwischen den Zeilen deutlich. Die offizielle Linie lautet, man wolle die für 2016 vorgesehene Evaluierung der Dublin-Verordnung abwarten.

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Was den Umfang des neuen Resettlement-Vorhabens anbelangt, hat die Kommission bislang keine Zahl genannt. Ursprünglich hatte UNHCR bestimmt, 20.000 Menschen sollten – spätestens bis 2020 – jedes Jahr auf diesem Weg in der EU Schutz finden. Diese Zahl erscheint in Anbetracht des Ausmaßes der aktuellen Krisen sehr niedrig. Die Kommission setzt zunächst auf Freiwilligkeit, behält sich jedoch vor, die Teilnahme am Resettlement-Verfahren verpflichtend zu machen, und zwar langfristig. Mehrere Mitgliedstaaten haben in den vergangenen Tagen bereits ihre Ablehnung eines jedweden Verteilungsschlüssels – ob nun Relocation oder Resettlement betreffend – kund getan. Darunter waren Großbritannien, Irland, Dänemark, Tschechien, Ungarn, Polen, Lettland und die Slowakei. Das ist wenig überraschend, denn genau diese Länder müssten bei Einführung eines Verteilungsschlüssels deutlich mehr Migranten als bisher aufnehmen. Italien, Frankreich und Griechenland haben sich hingehen dafür ausgesprochen: Für sie würde ein Quotenmodell Entlastung bedeuten.

Deutschland gehört neuerdings zu den Befürwortern. Lange Zeit hatte sich die Regierung für ein Festhalten am Dublin-System ausgesprochen. Eine Quoten-Regelung würde sich de facto nur minimal auf Deutschland auswirken. Deutschland nimmt zwar absolut betrachtet EU-weit die größte Zahl an Asylbewerbern auf (fast ein Drittel aller in der EU gestellten Anträge), allerdings wäre es dazu – bei Einführung einer Quote – aufgrund seiner Größe und seiner wirtschaftlichen Stärke auch verpflichtet. Theoretisch könnten die Gegner den Verteilungsmechanismus verhindern, denn für eine solche Entscheidung ist Einstimmigkeit im Rat notwendig. So leicht will sich die EU-Kommission jedoch nicht von kritischen Mitgliedstaaten außer Gefecht setzen lassen.

Sie gedenkt nun, ihr Quotenmodell durch die Hintertür einzuführen. Artikel 78.3 des EU-Vertrags gibt ihr dazu die Möglichkeit: „Befinden sich ein oder mehrere Mitgliedsstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedsstaaten erlassen.“ Eine Notlage ist zurzeit definitiv gegeben, ein Ende der Krisen in Syrien, Libyen und der Ukraine nicht in Sicht. Allerdings bräuchte die Kommission für die Aktivierung dieses sogenannten Notfallmechanismus’ das Einverständnis von Ratspräsident Donald Tusk. Und Tusk stammt aus Polen, einem Gegner der Quote. Großbritannien, Irland und Dänemark wären von einer auf diesem Weg durchgesetzten Quotenregelung so oder so ausgenommen, denn für sie gelten in den Bereichen Justiz und Inneres gesonderte Regeln.

Die neue Kommissions-Strategie umfasst auch die Seenotrettung. Die Verdreifachung des für die Operation „Triton“* zur Verfügung stehenden Budgets und die Ausdehnung des Operationsradius waren bereits vor einigen Wochen angekündigt worden. Neu ist eine mögliche Erweiterung des Frontex-Mandats auf den Bereich Rückführung. Die EU-Grenzschutzagentur koordiniert und vollstreckt bislang lediglich Rückführungen im Auftrag der Mitgliedstaaten. Nach den Kommissions-Plänen soll Frontex in Zukunft jedoch dazu befähigt sein, Migranten ohne Schutzanspruch auf Eigeninitiative zurückzuschieben. Im Strategiepapier ist die Rolle von einer „dualen Rolle“ der Grenzschutzagentur. Dies ist genauso widersprüchlich wie die der EU zugedachte Rolle, „ihre Grenzen zu schützen und gleichzeitig internationalen Verpflichtungen gerecht zu werden“. Eine Vergemeinschaftung des Außengrenzschutzes wird erneut als Möglichkeit genannt – für Deutschland wie für viele andere Mitgliedstaaten bislang ein rotes Tuch.

Migration soll künftig ein wichtiger Bestandteil von GSVP-Missionen (Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik) der EU werden. Die Hohe Vertreterin Federica Mogherini möchte vom UN-Sicherheitsrat ein Mandat erhalten, (potenziell) für Schleuseroperationen genutzte Boote schon vor den nordafrikanischen Küsten zerstören zu dürfen. Bislang bremst der Sicherheitsrat, allen voran Russland. Auch der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung (SPD), Christoph Strässer, sprach sich dagegen aus. Mogherini plant ferner, die bereits in Niger und Mali tätigen GSVP-Einsatzteams noch mehr in die Verstärkung des Grenzschutzes der beiden Länder einzubinden.

In Niger ist außerdem die Einrichtung eines Mehrzweckgebäudes unter EU-Management geplant. Dort sollen sich Migranten über ihre Einreisemöglichkeiten in die EU informieren können. Ob ihr Schutzanspruch bereits vor Ort geprüft werden soll, lässt das Papier offen. Erörtert werden soll allerdings die Möglichkeit, vor Ort Schutz finden, sowie die freiwillige (womöglich finanziell unterstützte) Heimreise anzutreten. Ein solches Zentrum könnte als Pilotprojekt für andere Herkunfts- und Transitländer dienen. Das Kommissionspapier deutet an, die „Einstufung“ von Migranten in Zukunft allgemein auf Drittstaaten auslagern zu wollen. Dass sich dies als Vorteil für Schutzbedürftige erweist, ist mehr als fraglich.

Die neue Strategie der Kommission unterscheidet weiterhin zwischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten. Letztere, vor allem die niedrig bis gar nicht Qualifizierten, dürften auch in Zukunft kaum Chancen haben, die EU auf legalem und sicherem Weg zu erreichen. Allerdings stellt das Papier die Möglichkeit in Aussicht, eine Art Pool an zuwanderungswilligen Arbeitskräften zu errichten, auf das staatliche Stellen sowie Arbeitgeber, angelehnt an das kanadische Modell, Zugriff haben. Doch auch hierbei dürften ungelernte Kräfte das Nachsehen haben. Und gerade diese werden auch weiterhin Schlupflöcher in den Zäunen um die Festung Europa suchen – und auch finden. Wie viele Menschen diese Reise noch mit ihrem Leben bezahlen werden, vermag niemand zu sagen.