Flüchtlingspolitik

Sind Ihnen Ihre neuen Schuhe auch wichtiger als ein ertrinkendes Kind?

Stellen Sie sich vor, Sie gehen spazieren und sehen, wie in einem Teich ein schreiendes Kind zu ertrinken droht. Sie könnten das Kind retten, würden dann aber Ihren schicken Anzug und Ihre schönen neuen Lederschuhe ruinieren. Kann man Ihnen diesen Verlust moralisch zumuten oder halten Sie diese Frage schon für unmenschlich?

Auf der anderen Seite fliehen Menschen wegen Krieg, Verfolgung und Chaos aus ihren Heimatländern, um Zuflucht in Europa zu suchen. Viele von ihnen kommen dabei ums Leben. Sie ertrinken im Mittelmeer. Sind wir moralisch dazu verpflichtet, Schutzbedürftige aufzunehmen oder halten Sie auch diese Frage schon für unmenschlich?

Das Kind zu retten ist eine Verpflichtung, die keiner Kosten-Nutzen-Rechnung unterliegen darf. Unterlassene Hilfeleistung ist strafbar. 1 Flüchtlinge zu schützen ist eine humanitäre und völkerrechtliche Verpflichtung, die ebenfalls keiner Kosten-Nutzen-Rechnung unterliegen darf.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in ihrer letzten Neujahrsansprache: „Eine Folge dieser Kriege und Krisen ist, dass es weltweit so viele Flüchtlinge gibt wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Viele sind buchstäblich dem Tod entronnen. Es ist selbstverständlich, dass wir ihnen helfen und Menschen aufnehmen, die bei uns Zuflucht suchen.“ Merkel redet schön.

Übertragen wir die Haltung Deutschlands im Umgang mit Flüchtlingen aber auf das Kind im Teich, ergibt sich folgende Szene: Der Anzugträger geht spazieren und sieht, wie das Kind im Teich zu ertrinken droht. Moralisch und juristisch ist er verpflichtet, das Kind zu retten. Wenn er das aber tut, wird er seinen Anzug und seine Lederschuhe opfern. Das möchte er nicht. Dilemma. Und weil das Schreien des Kindes herzzerreisend ist und den moralischen Druck steigert, legt er sich einfach Ohrstöpsel auf und schaut weg.

Die Bundesregierung sieht sich in einem ähnlichen „Dilemma“. Sie bekennt sich offiziell zu den internationalen Vereinbarungen und Menschenrechten, will aber schon lange nicht mehr Personen „selbstverständlich“ aufnehmen, die „buchstäblich dem Tod entronnen“ sind, um bei den Worten Merkels zu bleiben. Unser Wohlstand ist der Anzug mit den teuren Lederschuhen. Um dieses Problem zu lösen, legt sich Deutschland einfach Ohrstöpsel an und schauen weg nach folgendem Schema:

Flüchtlinge, die in Deutschland Zuflucht suchen, können einen Antrag auf Asyl nur auf deutschem Boden stellen. Die Ohrstöpselpolitik der deutschen Regierung ist deswegen seit 25 Jahren bemüht, dass ein Flüchtling gar nicht erst zum Schreien kommt, also deutschen Boden betritt und einen Antrag stellen kann. So kann sich Deutschland offiziell zu seinen humanitären Verpflichtungen bekennen, ohne einen einzigen Flüchtling aufzunehmen. Wo kein Kind gibt im Teich, da keine Rettungspflicht.

Dieses Prinzip verfolgt auch die EU. Wer Zuflucht in einem Mitgliedstaat der EU sucht, muss erst nach Europa gelangen. Mangels sicherer und legaler Zugangswege nach Europa, mutet die EU mit ihrer Politik denjenigen, die „buchstäblich dem Tod entronnen“ sind, einen weiteren Überlebenstest im Mittelmeer zu. Die Flüchtlinge haben nicht viel zu verlieren und nehmen das Risiko auf sich. Auf diese Weise ist das Mittelmeer zu einem Massengrab geworden. Seit Ende des Kalten Krieges sind etwa 25.000 Flüchtlinge ertrunken, jährliche Tendenz steigend. Diese Zahlen nennen nur die bekannten Fälle, die Dunkelziffer dürfte höher liegen.

Öffentliche Aufmerksamkeit erregen nur die etwa jährlich stattfindenden größeren Unglücke mit mehreren hundert Toten. Der Ablauf ist stets der gleiche: 1) Moralische Größen wie der Papst oder der UN-Generalsekretär verdammen die Politik der EU und fordern Maßnahmen; 2) die EU betrauert die Toten, erklärt die Schlepper zum Sündenbock und mahnt an, dass man etwas unternehmen müsse; 3) nichts Wesentliches passiert – auch nicht nach dem nächsten Unglück.

Schlepper und kriminellen Banden nutzen nicht nur die Misere der Flüchtlinge aus, sondern profitieren in erster Linie von der rigiden Abschottungspolitik der EU, die Flüchtlingen keine legalen Fluchtwege nach Europa bietet. Weil die EU bisher keine ernsthaften Bemühungen zeigte, die Situation der Flüchtlinge zu verbessern, ist das Mittelmeer zum Symbol einer Abschreckungspolitik geworden, die ertrunkene Flüchtlinge stillschweigend als Kollateralschaden in Kauf nimmt, um weitere Schutzbedürftige davon abzuhalten, nach Europa zu gelangen.

Dabei ist Asyl nicht nur ein universelles Menschenrecht sowie moralisch und juristische Verpflichtung, sondern es ist auch ein Teil der grundlegenden Werte, auf denen das heutige Europa aufgebaut wurde. Es sind nicht die Flüchtlinge, die eine Gefahr für unsere Gesellschaft darstellen. Die Gefahr sind Menschen, die Flüchtlingen das Asyl verweigern wollen und eine Politik, die diesem Wunsch stattgibt.

Wenn wir Flüchtlingen den Schutz verwehren, vergessen wir, wer wir sind, was unsere Prinzipien sind und wofür wir stehen. Wir wären dann Anzugträger, denen die schönen Schuhe wichtiger sind, als die Rettung eines ertrinkenden Kindes.

  1. § 323c Strafgesetzbuch: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“