Anders und doch gleich war es in dem Dorf der Obersteiermark in Österreich, in dem ich aufwuchs, und in der nahen Stadt. Das ganze Dorf lebte von seiner großen Papierfabrik. Von den über 2.000 Einwohnern arbeiteten 1.200 dort. Praktisch alle waren von irgendwo zugezogen. Die angestammte örtliche Bevölkerung wurde in den wenigen Bauernhöfen gebraucht, in den drei Geschäften, zwei Metzgereien und vier Gasthöfen.
Aus Jugoslawien vor allem sind die Arbeiter illegal über die Grenze zugewandert. Schon nach dem ersten Weltkrieg, dann aber verstärkt nach dem zweiten. Vertriebene aus früher deutschen Exklaven in Rumänien, Ungarn und Jugoslawien waren viele dabei. Sie sprachen kein oder schlechtes Deutsch. Ihre ganz verschiedenen deutschen Dialekte hatten sich nicht mehr verändert, seit sie sich vor mehreren hundert Jahren nach Prinz Eugens Siegen über die Türken in verlassenen Gebieten auf dem ganzen Balkan angesiedelt hatten. Nun lebten sie in Baracken hinter der Fabrik. Untereinander verstanden sie sich nicht und mit den Einheimischen schon gar nicht. Sie kleideten sich anders. Sie kochten anders, bei ihnen roch es nach Knoblauch und Zwiebeln. Den Obersteirern war das alles fremd.
In der Nazizeit war noch eine Südtiroler Siedlung dazugekommen, isoliert auf der anderen Seite der Bahnlinie. Dort sprachen die meisten italienisch. Als Hitler Südtirol dem italienischen Faschistenchef Mussolini als Preis für das Militärbündnis der beiden abtrat, konnte die Südtiroler Bevölkerung für das nationalsozialistische Deutschland optieren oder das faschistische Italien. Die damals in Südtirol lebenden Italiener aus Sizilien entschieden sich in größerer Zahl für den Zug nach Norden. Die Südtiroler Bauern blieben lieber in ihrer Heimat.
Im Kindergarten kamen die Kinder von ihnen allen zusammen. In den zwei Jahren bis zur Schule brachten sie sich untereinander so viel Deutsch bei, dass der Unterricht dort schon eine brauchbare Grundlage hatte. Wenn wir Kinder uns gegenseitig besuchten, konnten wir uns mit den anderen Eltern oft nur mit Händen und Füßen verständigen. Viele der Älteren haben es über ein gebrochenes Gebrauchsdeutsch nie hinausgebracht. Das war normal und kümmerte niemand. Ausgegrenzt wurde im Dorf auch keiner. Wie hätten auch weniger als 100 Ureinwohner 2.000 Zugewanderte ausgrenzen sollen?
Das änderte sich, als ich nach vier Jahren Volksschule aufs Gymnasium in die fünf Kilometer entfernte Stadt von 20.000 Einwohnern ging. Mein Dorf war nicht das einzige im weiteren Umland, in dem die lokale Industrie ohne die Zugezogenen nicht hätte produzieren können. In der Stadt selbst, vor allem der Altstadt mit vielleicht 5.000 Einwohnern, wohnten die Zugewanderten der Arbeiterfamilien nicht. Im Gymnasium gab es verschiedene Klassenzüge. In den A-Zug gingen Mädchen und Jungen aus der Altstadt zusammen. Sie konnten zu Fuß in die Schule kommen. Im B-Zug wurden die Mädchen, in C-Zug die Jungen von außerhalb geschlechtlich getrennt versammelt, sie kamen mit Schulbussen. Freundschaften zwischen Stadt- und Dorfkindern waren deshalb selten. Von Integration konnte man erst nach Jahren reden.
Heute, nach bald zwei Generationen, ist das kein Thema mehr. Was ich im Kleinen erlebte, liest sich bei Andreas Kossert im Großen nicht anders: „Die Flüchtlinge wurden zu Motoren einer ungeahnten Modernisierung, sie brachen verkrustete Strukturen auf, und sie trugen maßgeblich zum Wiederaufbau Deutschlands bei. Sie waren mobil, konnten überall neu anfangen und gingen dorthin, wo Arbeit war. Gleichzeitig brachten sie wichtige Qualifikationen mit, und gerade die Jungen waren hoch motiviert, mit ihrer Arbeitskraft ein neues Leben aufzubauen. Alles in allem hat Deutschland mit der Integration von Millionen Vertriebenen eine ungeheure kulturelle und soziale Herausforderung gestemmt. All jene hingegen, die damals deren Scheitern voraussagten, konnten nicht weiter danebenliegen.“
Über die vielen Zuwanderer in Deutschland, Österreich und der Schweiz werden unsere Nachfahren Ähnliches berichten. Der entscheidende Vorteil in meinem Dorf war, die Fabrik war dankbar für alle Zuwanderer. Von ihnen war niemand arbeitslos. Diesen Zustand müssen wir auf kluge Weise auch heute schaffen. Dann geht alles leichter.