Kurz vorgestellt

Filme zu Flucht und Migration auf der 65. Berlinale

Die 65. Berlinale ist angelaufen – auch mit vielen interessanten Filmen zu Flucht und Migration, darunter auch „The Cut“ von Fatih Akin. MiGAZIN hat die Filme zusammengestellt.

Dänemark/Serbien 2015, 70 Min, Bosnisch

REGIE: Vladimir Tomic

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Flotel Europa
Als der Regisseur dieses Films noch ein Kind war, stand er vor dem „Flotel Europa“ – und war begeistert, dass dieses riesige Schiff im Hafen von Kopenhagen fortan für ihn, seinen älteren Bruder und seine Mutter das neue Zuhause sein würde. Zusammen mit etwa eintausend anderen Flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien begann für sie auf dem Schiff ein neuer Lebensabschnitt. Dem Vater schickte die Familie, wie es viele Anfang der 90er Jahre machten, „Videobriefe“ in die alte Heimat. Bilder aus der Gemeinschaftsküche, von der fensterlosen Kabine, dem Fernsehsaal, von den Ausflügen mit den coolen Kumpels und einer Tanzdarbietung der unnahbaren Melisa. Durch die Montage des Materials, vor allem aber durch seine Erinnerungen an jene Zeit gelingt es Vladimir Tomic, aus Privatdokumenten, die auch für die Bebilderung von Flüchtlingselend und eine gestohlene Kindheit herhalten könnten, etwas Neues, Eigenes, Anderes zu machen. Die Perspektivverschiebung von innen nach außen macht Flotel Europa zu einem autobiografischen Film über ein Schicksal, das einen sonderbar berührt, weil es den Flüchtling aus der Opferrolle befreit – und einen schüchternen Jungen in einen sympathischen Filmstar verwandelt.

Frankreich/Katar 2015, 61 Min, Arabisch

REGIE: David Yon

DARSTELLER: Lamine Bachar, Aness Baitich

La nuit et l’enfant | The Night and the Kid
Ein Kind bewirft den Mond mit Steinen. Es heißt, die Sonne ist weg und wird erst zurückkommen, wenn die Angst verschwunden ist. Bis dahin bleiben die Sterne und spenden Trost. Also zählt das Kind die Sterne in der endlosen dunklen Nacht an den Hängen des algerischen Atlas-Gebirges. Aness, das Kind, begleitet Lamine, den jungen Mann, auf der Flucht. Beide werden von namenlosen Bewaffneten verfolgt. Wer sind diese Verbrecher? Warum müssen sich die beiden verstecken und nachts mit der Hand am eigenen Gewehr schlafen? Ist das Kind nur eine Wunschvorstellung von Lamine? Elliptisch und assoziativ erzählt La nuit et l’enfant von einer allgegenwärtigen Bedrohung und Gefahr. Der Film schwankt zwischen Realismus und Traum: Fast dokumentarische Aufnahmen wechseln sich ab mit kraftvollen poetischen Bildern. Die Region von Djelfa war in den 90ern eine Hochburg des Terrorismus. Lamine sagt, bevor die Terroristen kamen, war das Leben anders. Undogmatisch und mit viel Raum für Interpretation wird hier vom Lebenswillen einer Jugend erzählt, die leidet und sich abgrenzen muss. David Yon hat eine atmosphärische und dunkle Fabel geschaffen, die an einen anderen kleinen Prinzen denken lässt.

Brasilien/Deutschland 2015, 33 Min, Deutsch, Englisch

REGIE: Felipe Braganca

Escape from my eyes | Flieh aus mein Augen
„Ich will zurückgehen, doch mein Bruder ist ein Geist ohne Füße. Ich träume immer noch von Diamanten und Blut. Sie sehen einen schwarzen Mann und denken, es sei ein Löwe.“ Escape from my Eyes erzählt mithilfe von dokumentarischen und fiktionalen Bildern drei Geschichten über Mayga aus Mali, Elias aus Ghana und Abidal aus Burkina Faso. Wo werden sie nun hingehen? Der Film entstand im Laufe von vier Monaten zum Jahreswechsel 2013/2014. Felipe Bragança, der zu dieser Zeit auf Einladung des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in Berlin war, führte Interviews mit Kriegs- und politischen Flüchtlingen, die damals im Protestcamp auf dem Oranienplatz in Kreuzberg lebten. Auf Basis der Interviews entwickelte Bragança mit ihnen die poetische, fiktionalisierte Filmerzählung. Im Film spielen die Männer selbst ihre Fluchtgeschichten nach, versetzt ins winterliche Berlin.

Spanien 2014, 23 Min, Arabisch

REGIE: David Muñoz

DARSTELLER: Fatoum al Hussein

STAB: Beltran Rengifo, Beatriz Ros, Alberto Rincon

El Juego del Escondite | Hide & Seek | Versteckspiel
Ein Filmteam besucht ein syrisches Flüchtlingslager im Libanon. Die Flüchtlinge verstecken sich vor dem Krieg. Die Kinder spielen Verstecken. Das Filmteam versucht, im Hintergrund zu bleiben, es versteckt sich ebenfalls. In El Juego del Escondite wird das Zusammenspiel von Realität, Fiktion und filmischem Prozess zum Thema. Widersprüche tun sich auf, wenn verschiedene Welten zur einer Zeit an einem Ort aufeinandertreffen. Die Wirklichkeit ist ein Geschehen, aus dem für einen Film nur bestimmte Wahrheiten extrahiert werden, so die These. Dabei wird vom Film erwartet, dass es zu einer Sortierung der Ereignisse in einer bestimmten Sinn-Reihenfolge kommt. Dieser Prozess zerstört die Wirklichkeit. Gleichzeitig will sich der Film als die einzig wahre Wirklichkeit verstanden wissen. „Als Regisseur versuche ich mich selbst dabei zu beobachten, wie ich mich verhalte, wenn die Wirklichkeit der Flüchtlinge und meine eigene aufeinandertreffen. Ich beobachte mich, wie ich beobachte. Ich fühle mich wie ein Fremder, der eben – auch – seine Geschichte erzählen will.“ (David Muñoz)

Israel/Frankreich 2015, 100 Min, Hebräisch, Englisch, Französisch

REGIE: Silvina Landsmann

Hotline
Rund um die Uhr sind die Frauen der Hotline für Flüchtlinge und Migranten in Tel Aviv im Einsatz. Sie kümmern sich um die Rechte von Menschen ohne Papiere, geben juristischen Rat, übernehmen Behördengänge und machen Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache. Die Kamera wirft uns mitten ins Geschehen. Vor einer aufgebrachten Menschenmenge setzt sich eine Aktivistin für den Aufenthalt von Flüchtlingen aus dem Sudan und Eritrea ein, die auf dem Sinai von ägyptischen Menschenhändlern verschleppt wurden und nun in Israel gestrandet sind. Sie trifft auf vehemente Abwehr, wird beschimpft und fast tätlich angegriffen. Aber die Organisation muss nicht nur gegen eine fremdenfeindliche Stimmung antreten, sondern auch gegen eine Gesetzgebung, die jeden illegalen Grenzübertritt als Verbrechen ahndet. Die Flüchtlingsgefängnisse in der Nähe der ägyptischen Grenze werden ständig ausgebaut. Zutritt erhält die Regisseurin nicht. Silvina Landsmann nimmt den Zuschauer mit zu den verschiedenen Schauplätzen – Ämter, Gerichte, die Knesset – und montiert ihr Material so, dass deutlich wird, woraus der Kampf um Menschenrechte besteht: reden, mobilisieren, dokumentieren, überzeugen.

Schweiz 2014, 43 Min, Englisch, Rumänisch

REGIE: Nicolas Cilins

DARSTELLER: Adi, Florin

Gineva
Adi and Florin, zwei junge Männer aus Rumänien, tanzen vor einem Blue-Screen. Als der Tanz zu Ende ist, wenden sie sich direkt an die Kamera und danken all jenen, die ihnen halfen, die letzten Wochen in Genf zu überleben. Sie sind vor einiger Zeit dorthin gekommen, da in ihrem Heimatland extreme Armut herrscht, und bitten ihre imaginären Zuschauer nun um Hilfe und Unterstützung. In kurzen Rollenspielen stellen sie Szenen aus ihrem Alltag in Rumänien und Genf nach, manchmal überspitzt und albern, dann wieder aufrichtig und voller Emotionen. Sie erinnern sich an den Abschied von ihren Familien in Rumänien und simulieren einige ihrer Erfahrungen als Callboys in Genf. Sie suchen im Internet ihre Lieblingslieder heraus, um sie den beiden Kameramännern am Set zu zeigen und sprechen von finanziellen und anderen Sorgen.

„2014 hörte ich von einer Bar in Genf, die von Männern besucht wird, die junge rumänische Callboys treffen wollen. Als ich dort zum ersten Mal hinein ging, herrschte eine seltsame Stimmung, die mich stutzig machte. Der Laden war fast völlig leer. Nur an der Bar standen zwei ältere Männer, die zu einer Gruppe junger Rumänen herüber schauten. Von Außen betrachtet bot die Bar eine passende Tarnung für das, was drinnen wirklich vorging. Mir war zuerst nicht recht klar, wie die Transaktionen zwischen potentiellen Kunden und den Roma-Jungs abliefen. An diesem Ort traf ich Adi und Florin. Ich fragte sie, ob sie in meinem Film mitspielen wollten, an dem ich gerade arbeitete. Wir besprachen dann vage, dass unter Umständen eine Bezahlung für sie dabei herausspringen könnte und schließlich kamen sie mit. Der Dreh sollte in einem improvisierten, rudimentären Filmstudio stattfinden, das in der Genfer Kunsthochschule eingerichtet war.“ (Nicolas Cilins)

Deutschland/Frankreich/Italien 2014, 138 Min, Englisch, Spanisch, Türkisch, Arabisch

REGIE: Fatih Akin

DARSTELLER: Tahar Rahim, Hindi Zahra, Simon Abkarian

The Cut
Mardin, 1915: Eines Nachts treibt die türkische Gendarmerie alle armenischen Männer zusammen. Auch der junge Schmied Nazaret Manoogian (Tahar Rahim) wird von seiner Familie getrennt. Nachdem es ihm gelingt, den Horror des Völkermordes zu überleben, erreicht ihn Jahre später die Nachricht, dass auch seine Zwillingstöchter am Leben sind. Besessen von dem Gedanken, sie wiederzufinden, folgt er ihren Spuren. Sie führen ihn von den Wüsten Mesopotamiens über Havanna bis in die kargen, einsamen Prärien North Dakotas. Auf seiner Odyssee begegnet er den unterschiedlichsten Menschen: engelsgleichen und gütigen Charakteren, aber auch dem Teufel in Menschengestalt. Mit THE CUT vollendet Fatih Akin seine Trilogie „Liebe, Tod und Teufel“.

Palästinensische Gebiete 2015, 93 Min, Arabisch, Hebräisch, Englisch

REGIE: Muayad Alayan

DARSTELLER: Sami Metwasi, Maya Abu Alhayyat, Riyad Sliman, Ramzi Maqdisi, Kamel Elbasha, Hussein Nakhleh, Valantina Abu Oqsa, Mustafa Abu Hanood, Nicola Zreineh, Mohammad Othman

Al-Hob wa Al-Sariqa wa Mashakel Ukhra | Love, Theft and Other Entanglements
Tagedieb, heimlicher Liebhaber, Kleinkrimineller – Mousa hat viele Qualitäten. Der im Flüchtlingscamp lebende Palästinenser pfeift auf die von seinem Vater mühsam erworbene Erlaubnis, legal im israelischen Teil Jerusalems zu arbeiten und verdient sich sein Geld lieber mit dem Stehlen israelischer Autos, die er an palästinensische Hehler verkauft. Seine Zukunft sieht er fernab vom von Gewalt und Verboten geprägten Alltag in der geteilten Stadt, sein Herz gehört einer verheirateten Frau. Als Mousa nach dem Diebstahl eines Passats von palästinensischen Milizen brutal in die Mangel genommen wird, und sich danach das Auto genauer anguckt, macht er eine brisante Entdeckung. Durch sie wird der Mann, der sich eigentlich aus der Politik heraushalten will, plötzlich für alle Seiten interessant … Muayad Alayans erster Spielfilm erzählt die Geschichte eines Tunichtguts, den die Umstände zum Handeln zwingen, in leichten, anmutigen Schwarz-Weiß-Bildern, die nicht nur angesichts des ernsten Settings begeistern. Unterstützt wird die palästinensische Hommage an die Nouvelle Vague von einem starken, jazzorientierten Score.

USA 2014, 52 Min, Englisch

REGIE: Julie Cohen

The Sturgeon Queens
The Sturgeon Queen folgt der Geschichte von vier Generationen einer jüdischen Migrantenfamilie, die das berühmte Lachs- und Heringsgeschäft Russ & Daughters an der Lower East Side gründete und noch heute, einhundert Jahre später, das Geschäft besitzt und führt. Im Zentrum des Films steht ein ergreifendes, temperamentvolles, oft urkomisches Interview mit zweien der Töchter, nach denen das Geschäft benannt ist, Hattie Russ Gold und Anne Russ Federman, die 1913 bzw. 1920 geboren wurden. Ihr Vater, ein armer Immigrant aus Österreich-Ungarn, fing in New York an, von einer Schubkarre aus Heringe zu verkaufen und verdiente damit schließlich genug Geld, um sich einen kleinen Laden leisten zu können. Der Dokumentarfilm zeigt, wie dieser zielstrebige, manchmal schwierige Mann, der in einem jüdischen Ghetto in Osteuropa geboren wurde, sich und seine Familie in Amerika zum Erfolg drängte. Der Film enthält auch Interviews mit den zwei jüngeren Generationen, die das Geschäft seit den 1970ern führen, und deren Laufbahn die permanente Spannung zwischen Assimilation und dem Erhalt einer starken jüdischen Identität veranschaulicht.

Schweiz/Deutschland/Irak/Vereinigte Arabische Emirate 2014, 163 Min, Arabisch, Englisch, Deutsch, Russisch

REGIE: Samir

Iraqi Odyssey
Die Schicksale der Mitglieder von Samirs irakischer Familie, Hauptakteure einer wahrhaften Odyssee und in der Diaspora lebend, geben die Möglichkeit, sich jenseits aller Klischees mit der Geschichte der arabischen Welt und dem Irak zu befassen. Der Regisseur stellt Vertreter mehrerer Generationen eines säkularisierten, auch religiösen aber immer fortschrittlichen Bürgertums vor und zeigt uns ein arabisches Universum, das mittlerweile vergessen scheint. Wir erleben die ottomanische Ära, die Jahre des britischen Völkerbund-Mandats, die Hoffnungen auf Unabhängigkeit, die Machtübernahme der Baath-Partei und die Radikalisierung unter Saddam Hussein sowie die Mitverantwortung des Westens für den Zusammenbruch weiter Teile dieser Welt. Samirs Verwandte sind überall auf der Welt zerstreut. Die Sehnsucht nach der Heimat ist stark. Samirs Vater, der in den Irak zurückwollte, kam während des Irak-Iran-Krieges ums Leben. Der Regisseur hat seine zwiespältige Heimat in der Schweiz, wo er aufwuchs, kritisch schätzen gelernt, als Beispiel eines irgendwie toleranten Miteinanders sehr unterschiedlicher Menschen und Kulturen.