Bades Meinung

Roma-Integration und Politik in Deutschland: Pragmatismus und Populismus

Schlaglichter zu dem am 1.12.2014 in Berlin vorgestellten Buch von Max Matter: “Nirgendwo erwünscht. Zur Armutswanderung aus Zentral- und Südosteuropa in die Länder der EU unter besonderer Berücksichtigung von Angehörigen der Roma-Minderheiten” – von Prof. Klaus J. Bade.

Rechtsextreme Orientierungen im engeren Sinne gehen in Deutschland zurück. Umso mehr wird gruppenbezogene Menschenfreundlichkeit zu einer Alltagserfahrung in der Mitte der Gesellschaft, wo rechtspopulistische Positionen expandieren.

Vierschrötiger Rechtsextremismus gilt dort als fies. Aber von ihm transportierte gruppenfeindliche Ausgrenzungen werden zur Normalität in der Orientierung und Zusammenhalt stiftenden Selbstvergewisserung von Angst- und Wutbürgern, die im Sinne „negativer Integration“ ihre Sorgen auf die Schwächsten der Schwachen projizieren. 1 Das sind, von sozial Schwachen und insbesondere Langzeitarbeitslosen abgesehen, vor allem zwei Zuwanderergruppen: Asylsuchende, die weithin als getarnte Wirtschaftswanderer und damit als „Asylbetrüger“ gelten und Arbeit suchende Roma, die meist “Armutswanderer” genannt und als „Sozialbetrüger“ verdächtigt werden.

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Das alles zeigen verschiedene neuere Umfragen, zuletzt die am 20.11.2014 in Berlin vorgestellte Erhebungsstudie „Fragile Mitte – Feindselige Zustände: Rechtsextremismus in Deutschland 2014“. Darin wurden erstmals zwei gut eingeführte Erhebungslinien zusammengeführt: die seit 2006 laufende “Mitte-Studie” der Friedrich-Ebert-Stiftung und die seit 2002 veröffentlichte Reihe “Deutsche Zustände” des Bielefelder Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. 2

Die Studie “Fragile Mitte” bietet einen vorzüglichen Hintergrund für die zeitgleich und unabhängig davon erarbeitete, am 1.12.2014 in Berlin vorgestellte kritische Dokumentation des Schweizer Kulturanthropologen und Ethnologen Max Matter, der bis zu seiner Emeritierung 2010 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau gelehrt hat. Er beschäftigt sich mit der Geschichte und Gegenwart einer dieser ausgegrenzten Gruppen, den Roma-Minderheiten, die heute als Arbeitskräfte und als Asylsuchende nach Deutschland streben. 3

Max Matter hat sich um die Roma verdient gemacht. Sein Buch bietet auf der einen Seite ein differenziertes Bild der vielfältigen Roma-Minderheiten in Europa. Es beleuchtet auf der anderen Seite vor zeithistorischen und aktuellen politischen Hintergründen antiziganistische Diskurse, Positionen und Projektionen. Hier geht es im Folgenden nur um diese zweite, politisch-populistische Dimension:

Der antiziganistische Grundkonsens

Geredet wird pejorativ von der sogenannten Armutswanderung, die in Wahrheit versuchte Arbeitswanderung ist. Gemeint sind damit meist Roma-Minderheiten aus Rumänien und Bulgarien, die heute EU-Bürger sind.

Sie streben, oft im Zuge von Kettenwanderungen, in die neuralgischen Zonen von de-industrialisierten Städten mit stark angeschlagenen Sozialetats. Das verursacht nicht, verschärft aber mitunter die dort schon vorhandenen sozialen Probleme. Bekannteste Beispiele sind Duisburg und Dortmund, wo rund ein Viertel der Bevölkerung an der statistischen Armutsgrenze lebt, Tendenz dramatisch steigend.

Politisch agitiert, parlamentarisch debattiert und legislativ entschieden wurde über einen angeblich bedrohlichen Missbrauch der Sozialsysteme durch EU-Zuwanderer, der aber in Wahrheit geringfügig ist: De facto gab es nach Ermittlungen im Deutschen Bundestag (Die Linke) für das Jahr 2013 bundesweit insgesamt nur 91 Verdachtsfälle auf Sozialbetrug durch EU-Ausländer.

Gedacht wurde dabei – zu Unrecht – vorzugsweise an Roma aus Rumänien und Bulgarien. Ergebnis der Debatte war ein Exklusionsgesetz gegen den Sozialmissbrauch durch EU-Zuwanderer, das unausgesprochen antiziganistisch ausgerichtet war und vor allem Roma aus Rumänien und Bulgarien meinte.

Agitiert, debattiert und entschieden wurde zugleich über einen angeblich massenhaften, in Wahrheit zwar lästigen, aber eher überschaubaren Missbrauch des deutschen Asylrechts durch Drittstaatsangehörige aus Europa, also durch europäische Zuwanderer aus Ländern jenseits der EU. Das gilt insbesondere für Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien. Gemeint war auch hier vorwiegend die Asyl-Zuwanderung von Roma-Minderheiten aus ihren Elendsquartieren in diesen Ländern, besonders ins trockene und warme sogenannte Winterasyl im reichen Deutschland.

Solche und andere von vornherein aussichtslose und deshalb fast durchweg als “unbegründet” abgelehnte Asylanträge verursachten nur Aufenthaltskosten plus Rückreisepauschale (die als nicht intendiertes Lockmittel später abgeschafft wurde). Und sie verstärkten zugleich den Bearbeitungsstau im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf Kosten der Behandlung der Anträge von im engeren Sinne des deutschen Asylrechts politisch Verfolgten oder Bürgerkriegsflüchtlingen, z.B. aus Syrien.

Das öffentliche und politische Ringen um das vermeintlich nötige gesetzliche Hilfsmittel gegen “Asylmissbrauch” und zu Gunsten der “echten” Flüchtlinge aber war wesentlich ein antiziganistisches Schattenboxen, effektiv wohl nur in seiner negativen, populistischen Wirkung:

Ergebnis war ein unausgesprochen antiziganistischer neuer “Asylkompromiss”, der aber auch andere Gruppen aus den gleichen Ausgangsräumen traf. Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien, mit ihren informellen antiziganistischen Apartheid–Systemen gegenüber den Roma, wurden zu “sicheren Herkunftsländern” im Sinne des deutschen Asylrechts erklärt. Asylanträge aus diesen Ländern haben in Deutschland mithin in aller Regel keine Chance mehr.

Das aber war vorwiegend deklamatorische antiziganistische Symbolpolitik, denn: Mit Verfolgungstatbeständen begründete Anträge müssen auch weiterhin individuell geprüft und entschieden werden. Das pompöse neue Gesetz bewirkt dabei nach Auskunft des BAMF pro Verhandlungsentscheid, bei in der Regel gleichermaßen negativem Ergebnis wie schon früher, einen durchschnittlichen Zeitgewinn von nur etwa zehn Minuten.

Das laute Reden, Debattieren und Entscheiden im stillen antiziganistischen Konsens bestätigte mithin nur Vorurteile, legitimierte und forcierte Kultur- und Sozialrassismus in einer langen und düsteren Kontinuität. Dokumentation und Analyse von Max Matter berichten davon.

Aber Exklusion ist keine Lösung. Nötig sind Interventionen auf kommunaler, nationaler und supranationaler Ebene.

Die kommunale Ebene

Alle Integration bzw. Inklusion gelingt oder scheitert “vor Ort”, also in den Kommunen. Die EU sieht in den am 9.12.2013 vom Ministerrat verabschiedeten “Empfehlungen des Rates für wirksame Maßnahmen zur Integration der Roma in den Mitgliedsstaaten” besonderen Förderungsbedarf in den Bereichen Bildung, Beschäftigung, Wohnen und Gesundheit. Das sollte auf kommunaler Ebene auch gegenüber unpassend, gering oder auch gar nicht qualifizierten, aber arbeits- und bildungswilligen Roma-Zuwanderern gelten im Blick auf ihre Integrationsförderung durch berufliche Qualifikation bzw. Weiterqualifikation und durch Bildung, besonders für die Kinder.

Auch arme Zuwanderer sind bis zum Beweis des Gegenteils als Arbeitsuchende anzusehen und nicht als transfersüchtige Faultiere, die nur nach einem tragfähigen Ast zum Abhängen im Baum des Wohlfahrtsstaates suchen. Und die kultur- und sozialrassistischen Legenden von der ererbten mangelnden Lernfähigkeit von Roma-Kindern sind ebenso gemeingefährliche Zuschreibungen wie weiland Sarrazins hanebüchene Theoreme vom “Muslim-Gen” und vom “Juden-Gen”.

Die Kommunen leisten in Sachen Roma-Integration viel. Sie bieten dazu eine bunte Palette von praktischen Konzepten, die zum Teil etwas unübersichtlich wirkt, weil nicht wenige kommunale Akteure hinter fiktiven Stadtmauern jeweils für sich das Rad neu zu erfinden suchten.

Aber europäische Probleme sind nicht von und in den Kommunen allein zu lösen. Nötig sind zugleich Aktivitäten auf der EU- und auf der Bundesebene.

Die Bundesebene

Für Städte, die mit den anstehenden Herausforderungen tatsächlich überfordert sind, hätte, wie immer wieder vergeblich gefordert, ein strategischer, nationaler Sozialfond hilfreich sein können. Die regierungsamtliche Zurückhaltung gegenüber dieser Forderung stand in eigentümlichem Widerspruch zu der Tatsache, dass für Deutschland in Brüssel verfügbare, vorwiegend zur Integration benachteiligter Personen in den Arbeitsmarkt gedachte ca. 3 Milliarden € aus dem Europäischen Sozialfonds (EFS) bis zum Ende der Förderperiode 2007-2013 gar nicht abgerufen worden waren.

Deutschland hätte zweifelsohne den ESF besser nutzen können, um Probleme der sogenannten Armutswanderung in struktur- und finanzschwachen Großstädten zu lindern. Das ist nicht geschehen.

Das nach dem dramatischen Hilferuf der Städte vom Februar 2013 schließlich gewährte, nur für bestimmte Städten erreichbare und auf sieben Jahre gestreckte Hilfspaket von 200 Millionen Euro u.a. aus dem Programm “Soziale Stadt” war dafür nicht genug. Ein solcher dreistelliger Millionenbetrag in der Größenordnung der Daueraufwendungen für die Integrationskurse auf Bundesebene könnte hier, wie Sachkenner von Beginn an betonten, auf Zeit sogar jährlich notwendig werden, zumal einzelne betroffene Städte für sich allein schon zweistellige Millionenbeträge einklagten.

Das könnte nun, sofern man dies politisch will, eher möglich werden durch den im Dezember 2013 beschlossenen neuen EU-Fond im Umfang von 26,5 Milliarden, der es den Mitgliedsstaaten und konkret den Kommunen erleichtern soll, Armut, Arbeitslosigkeit und daraus resultierende Sozialprobleme im Allgemeinen zu bekämpfen und in diesem Rahmen auch die Roma-Integration zu fördern. Ob man das im Rahmen der gebotenen Möglichkeiten, auch den Roma gegenüber, mit dem nötigen Nachdruck politisch angehen will, bleibt abzuwarten.

Das BMI und die Roma

Gefordert ist im Hohen Berlin hier nicht nur Engagement in der Sache, sondern auch gesellschaftspolitische nachholende Aufklärungs-, Überzeugungs- und Vermittlungsarbeit; denn es gibt viel nachzubessern angesichts des Sündenfalls der vormaligen Ressortleitung unter dem in vieler Hinsicht überforderten Bundesinnenminister Friedrich (CSU):

Das BMI hat bei der EU-Frage nach nationalen Konzepten zur Roma-Integration eine große europageschichtliche Initiative verkannt und durch seine obstruktive Hinhaltetaktik mit abwegigen Argumenten gegenüber Brüssel zuerst unnötigen Zeitverlust verursacht. Und es hat dann mit vom eigenen Versagen ablenkenden populistischen Plattitüden und alarmistischen Gesten des vormaligen Ressortleiters die ohnehin verbreiteten antiziganistischen Abwehrhaltungen noch weiter gesteigert. Das BMI war deshalb bis zum Alarmruf der Städte vom Februar 2013 und zum Teil auch noch danach ein regierungsamtlicher Teil des Problems und nicht seiner Lösung.

Blicken wir zurück: Im April 2011 gab die Europäische Kommission eine Erklärung heraus unter dem Titel “EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020”. Darin rief sie alle EU-Staaten dazu auf, Strategiepapiere zur Verbesserung der Lage von Roma vorzulegen. Kurz vor Einsendeschluss im Dezember 2011 wurde der Kommission von der Bundesregierung, hier wieder federführend vom BMI, signalisiert: aus deutscher Sicht kein Handlungsbedarf:

Die deutschen Sinti und Roma seien wohlintegriert und neu zuwandernde Roma könnten sich doch der bewährten Integrationskurse bedienen, soweit dazu eben Plätze frei seien. Eine exklusive Konzeption zur Roma-Integration würde überdies geradewegs kontraproduktiv wirken. Das lag zwischen Missverständnis und gezielter Fehlinterpretation, weil die EU-Ebene, wie sie 2013 nochmals betonte, an ganzheitliche (“comprehensive”) Fördermaßnahmen dachte. Die sollten zwar ausdrücklich (“explicit”), aber eben nicht ausschließlich (“exclusive”) der Roma-Integration dienen. Und was die zunehmenden Sozialprobleme in verschiedenen deutschen Städten anging, grenzte das demonstrative Desinteresse des BMI an fahrlässige Erkenntnisverweigerung.

Nach Prüfung der eingereichten Papiere aller EU-Staaten kam die Kommission im Mai 2012 zu dem Ergebnis, dass sich viele Mitgliedstaaten, offenbar im Gegensatz zu Deutschland, „um ein Gesamtkonzept für die Integration der Roma bemüht haben“. Allerdings müssten nun konkrete Umsetzungen folgen. Bis Oktober 2012 bitte man deshalb um Mitteilung über den konkreten Stand der Umsetzung. Jetzt gab es für die angezählte Bundesregierung kein wortreiches Ausweichen mehr.

Aber anstelle einer strategischen und konzeptionellen Antwort, um die man sich noch immer nicht zureichend gekümmert hatte, antwortete die Bundesregierung, hier wiederum federführend das BMI, schließlich im Dezember 2012 auf geradezu peinliche Weise: mit dem geschönten Ausdruck einer gehobenen Internetrecherche unter den Suchbegriffen “Roma” und “Integration” zu bundesweit auffindbaren Initiativen.

Die Quittung folgte auf dem Fuß: Im Juni 2013 kam die ernüchternde Bilanz der EU-Kommission über die auch sonst meist nicht sonderlich engagierten nationalen Konzepte zur Roma-Integration für den gesamten EU-Raum, aber auch speziell für Deutschland: Auf einer übersichtlichen Check-Liste erfüllte die Bundesrepublik von 22 Punkten lediglich einen einzigen Punkt. Mehr Versäumnisse gab es nur noch bei Zypern und Luxemburg.

Der Alarmruf der Städte im Februar 2013 und sein anhaltendes bundesweites Echo veranlassten in Berlin demonstrativen Aktivismus. Das galt für die hastige Erweiterung von problembezogenen Kommunikationsbrücken zwischen Bund und Ländern mit Kontakt zu den Städten. Und es galt schließlich, als höchstrangige Symbolgeste, für die Einsetzung des Staatssekretärsausschusses. Eine unauffällige Runde von Abteilungsleitern, deren Referenten dann ohnehin die Arbeit machten, hätte mit höherem Segen das gleiche erbracht, aber nicht so pompös bemüht wirken können. Die Staatssekretäre veranlassten schließlich auch die von Beginn an nötigen Bestandsaufnahmen – mehr als zwei Jahre nach dem Aufruf der EU-Kommission vom Frühjahr 2011.

Dieses vergeblich hinter den populistischen Ersatzhandlungen des vormaligen Bundesinnenministers versteckte, seinerzeit vom mediendienst integration ausgeleuchtete regierungsamtliche Debakel zeigte einmal mehr: Es ging hier auch um durch fahrlässig versäumte bzw. dramatisch verspätete Interventionen verschärfte Probleme.

Mehr amtliche Integrationsverweigerung ging nicht. Ob es sich dabei um eine Art passiven Widerstand des BMI gegen EU-Initiativen oder nur um aggressiv kaschierte Inkompetenz in der Ressortleitung handelte, ist nicht geklärt.

Wandel mit Perspektive?

Mit dem souveränen, kurzfristig schon ressorterfahrenen Pragmatiker De Maiziere schien sich in der Leitung des Bundesinnenministeriums ein Wandel mit Perspektive zu ergeben, auch wenn de Maizières seinerzeitige populistische Desinformationskampagne über angeblich 15 % sogenannte Integrationsverweigerer nicht vergessen war.

Aber an dem erhofften Wandel gibt es, wie das Buch von Matter zeigt, im Blick auf die Roma-Integration begründete Zweifel: Die Europäische Union hatte – sowohl in der Kommissionsmitteilung vom Frühjahr 2011 wie in den Empfehlungen des Rates vom Dezember 2013 – die Mitgliedsstaaten aufgefordert, nationale Kontaktstellen für die Roma-Integration einzurichten. Sie sollten die Initiativen in den verschiedenen Lebensbereichen, Institutionen und Kommunen koordinieren, auch das war eine große und gute Vernetzungsidee.

Hier steht sich die Bundesregierung nun selbst im Wege; denn sie hat zwar diese Empfehlung des Ministerrates zusammen mit den anderen 27 Mitgliedsstaaten angenommen; aber das BMI, dem hier die Federführung obliegt, hat die große Idee bürokratisch-defensiv zerwaltet und beschlossen, als nationale Kontaktstelle schlicht das zuständige Referat im eigenen Hause einzusetzen. Ihm bleibt es nun, wie Matter pointiert, anheimgestellt, „einen Weg aus dem Dilemma zu finden, was denn nun Berichtenswertes in den kommenden sechs Jahren geschehen kann, um bei der generellen Bekämpfung von Armut, Arbeitslosigkeit und damit zusammenhängenden sozialen Problemen, für die Europa bis 2020 26,5 Milliarden € zur Verfügung stellt, die Integration der Roma zu fördern.“

Und das, obgleich es nicht nur in mehreren Bundesministerien Bereitschaft zur Mitwirkung, sondern auch in den Bundesländern und in der Zivilgesellschaft allgemeinhin eine Vielfalt von Projekten und Initiativen dazu gibt: Das gilt für Kommunen, die unterschiedliche Strategien zur Roma-Integration erarbeitet haben. Es gilt aber auch für Stiftungen wie etwa seit langem schon für die Freudenberg Stiftung, zuletzt auch für die Stiftung Mercator und für Organisationen der Roma und Sinti selbst.

Bei der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft schließlich gibt es sogar ein gut vernetztes Modell für eine nationale Kontaktstelle in Gestalt des bundesweiten Arbeitskreises zur Verbesserung der Bildungsbeteiligung und des Bildungserfolgs von Sinti und Roma in Deutschland. Darin arbeiten, wie man bei Matter erfährt, Bundesministerien, die Kultusministerkonferenz, Stiftungen, Wissenschaftler, Städtetag und Vertretungen der Sinti und Roma zusammen mit dem gemeinsamen Ziel, ein Konzept für deren Bildungsförderung zu entwickeln.

Würde man die Aufgabe dieses Kreises erweitern im Sinne der von der EU vorgesehenen Gesamtförderung unter Einschluss der Roma-Integration, dann wäre damit, so Matter, bereits die „Grundlage für eine effektive Arbeit einer nationalen Kontaktstelle geschaffen“. Ob dies im BMI von einem durch die reservierte Haltung des eigenen Ressorts eher behinderten Referat ebenso gut zu gestalten ist, darf bezweifelt werden. Aber vielleicht findet man da ja noch einen praktikablen Mittelweg.

BMI minus Integration?

Dass es gegenüber Roma-Minderheiten aus sozialen, vor allem aber aus sozialhistorischen Gründen, nämlich nach einer seit Menschengedenken anhaltenden Geschichte der Verfolgung, Auskreisung, Diskriminierung und Diffamierung, spezifische Integrationsaufgaben gibt, ist bekannt. Dass das BMI Probleme mit der Integrationsgestaltung hat, ist nicht minder bekannt. Wenn aber gruppenspezifische Integrationsprobleme und ressortspezifische Gestaltungsprobleme zusammenträfen, wäre das Fiasko programmiert.

Vor diesem Hintergrund hatte der Rat für Migration (RfM) im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen vom Herbst 2013 eine von mir zusammen mit dem mediendienst integration und dem digitalen Fachjournal MiGAZIN initiierte Massenpetition (change.org) übernommen, weiter ausformuliert und ins Netz gestellt. Der Aufruf ging davon aus, dass das BMI, das im Schatten von Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr operiert, mit seinen selbst für leitende Beamte oft nur mehr bedingt übersehbaren riesigen Aufgabenbereichen offenkundig überlastet und speziell mit Integrationsförderung im Sinne teilhabeorientierter Gesellschaftspolitik erkennbar überfordert sei. Deshalb wurde angeregt, das BMI zu entlasten und ihm dazu auf der Bundesebene die zentrale Zuständigkeit für den gesellschaftspolitisch enorm wichtigen Bereich der Integration zu entziehen, dessen Praxis bekanntlich ohnehin Ländersache ist.

Die Massenpetition erreichte in den rund zwei Monaten ihrer Laufzeit (Anfang Oktober bis Mitte Dezember 2013) fast 10.000 Unterschriften. Es gab Unterstützer bis in den Bundestag hinein. Die Initiative streifte zwar die Koalitionsverhandlungen nur am Rande, ist aber offenbar vielen Entscheidungsträgern durchaus in Erinnerung geblieben. Ein weiteres Unterlaufen der Brüsseler Initiative durch das BMI mit vordergründigen Argumenten wäre nur ein Beleg mehr dafür, dass das Thema Integration auf der Bundesebene im falschen Ministerium angesiedelt ist.

Die europäische Ebene

Auf europäischer Ebene nötig ist eine Art Entwicklungspolitik mitten in Europa zur Begrenzung der wanderungstreibenden Faktoren in den Ausgangsräumen. Hier sind schon Unsummen fehlinvestiert worden – in die Taschen von korrupten Politikern und in die Kassen von feisten Sozialbürokratien, die nichts produziert haben außer Papieren, die ihre stolzen Ablagen füllen. Jede weitere Investition müsste also durch EU- Kommissare überwacht werden. Dem Vernehmen nach lagen in Brüssel am Ende des Förderungszeitraums 2013 ohnehin noch zweistellige Millionenbeträge, die gar nicht mehr abgerufen worden waren, seit die Öffentlichkeit genauer hinsieht.

Aber Geld allein genügt nicht, um den Wanderungsdruck zu begrenzen. Es müssen sich auch die Strukturen und Mentalitäten in den Ausgangsräumen ändern; denn dort gibt es gegenüber den “schwarzen” Roma bereichsweise nicht nur kulturelle und soziale Ausgrenzung. Es gibt auch regelrechten Pogromdruck, nicht nur in Bulgarien und Rumänien, sondern auch in Ungarn und Tschechien.

Den neuen Mitgliedsstaaten der EU muss auf europäischer Ebene im Bereich des Minderheitenschutzes mit dem nötigen Nachdruck deutlich gemacht werden, dass zur Mitgliedschaft nicht nur Vorteile und Rechte, sondern auch Pflichten im eigenen Haus gehören. Das wäre zwar eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten, die aber bedingt zu rechtfertigen wäre; denn die soziale Ausgrenzung in den Ausgangsräumen forciert die Roma-Wanderungen innerhalb der EU. Die aber sind im Ergebnis nichts anderes sind als eine Art migratorische Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Zielgebiete dieser Wanderungen in Gestalt eines transnationalen Verschiebebahnhofs für unerwünschte Sozialprobleme innerhalb der EU nach dem St. Florians-Prinzip.

Ende gut – alles schlecht?

Die obstruktive Rolle des BMI könnte in Deutschland am Ende zu dem falschen Eindruck beitragen, dass auch größte Anstrengungen zur Integration neu zugewanderter Roma wenig erbracht hätten. Dazu könnte dann die einseitige Begründung dienen, dass Roma nun einmal generell schlecht integrierbar seien. Das aber wäre der Versuch einer Ablenkung von eigenem Versagen durch die Flucht in sozialhistorische oder gar anthropologische und der Tendenz nach kultur- und sozialrassistische Schuldzuschreibungen.

Das könnte ohnehin die ernste Lage noch ernster werden lassen. In Sachen der sogenannten Armutswanderung ist nach gefährlichem politisch-populistischem Taktieren keine Zeit mehr zu verlieren bei der nötigen Wende zur pragmatischen Gestaltung mit weiten Perspektiven. Der europaweit vehement expandierende Rechtspopulismus lebt von zwei großen Feindbildern: Islam und Zuwanderung. Das Letztere gilt besonders im Blick auf die Asylzuwanderung und die sogenannte Armutswanderung, mit der man vorzugsweise die Roma-Minderheiten meint.

Es geht darum, den rasanten Aufstieg des Rechtspopulismus zu begrenzen, indem man ihm mit guten Argumenten und pragmatischer Gestaltung die Kampfthemen entzieht. Gelingt dies nicht, dann droht Gefahr für den kulturellen und sozialen Frieden in den demokratischen Einwanderungsgesellschaften in Deutschland und in Europa insgesamt. Matters Buch bietet im Blick auf das Thema der sogenannten Armutswanderungen wichtige Informationen für diese nötige Diskussion.

  1. Zum Konzept der “negativen Integration” s. Klaus J. Bade, Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, “Islamkritik und Terror in der Einwanderungsgesellschaft, Wochenschau-Verlag, Schwalbach/Ts. 2013, (3. erw. Aufl. als eBook 2014).
  2. Andreas Zick, Anna Klein, fragile Mitte – Feindselige Zustände: rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, hg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Ralf Melzer, Verlag Dietz, Bonn 2014.
  3. Max Matter, nirgendwo erwünscht. Zur Armutsmigration aus Zentralstrich und Südosteuropa in die Länder der EU- 15 unter besonderer Berücksichtigung von Angehörigen der Roma- Minderheiten, Reihe: Rat für Migration, Wochenschau Verlag, Schwalbach i.Ts. 2014.