Schockwellen

Wie der „islamistische“ Terror die Migrationsdebatte beeinflusst

Seit dem Vormarsch der ISIS-Kämpfer liest und hört man über sogenannte „Islamisten“ wieder verstärkt. Welche Folgen das hat, zeigt Joscha Legewie in einem Experiment: Er vergleicht Umfrageergebnisse in verschiedenen Ländern vor und nach einem Terroranschlag.

Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 sind internationale Terrorhandlungen durch Gruppen, die vorgeben, im Namen des Islam zu sprechen, zu einer politischen Herausforderung auf nationaler wie auf internationaler Ebene geworden. Gleichzeitig haben 9/11 und die darauf folgenden Anschläge in Bali, Madrid und London in den westlichen Gesellschaften zu verstärkter Diskriminierung von Muslimen geführt.

Wissenschaftliche Studien in verschiedenen europäischen Ländern belegen immer wieder negative Einstellungen gegenüber Zuwanderern: Menschen, die in unsere Länder kommen, um hier zu leben, werden häufig als Bedrohung für unsere Lebensweise, unseren wirtschaftlichen Erfolg und unsere nationale Identität empfunden.

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Doch wie konkrete Ereignisse die öffentliche Haltung gegenüber Zuwanderung prägen, kann bislang nur an einzelnen Beispielen gezeigt werden. Nur wenige Studien haben sich mit diesem Zusammenhang beschäftigt und wir wissen kaum etwas über die Umstände, unter denen ein Ereignis die Wahrnehmung von Einwanderern beeinflussen kann.

Um diese Lücke zu schließen und herauszufinden, ob – und wenn ja, wie – Terroranschläge die Einstellungen zur Zuwanderung beeinflussen, mache ich mir für diesen Beitrag einen einmaligen Umstand zunutze: Der Terroranschlag in Bali im Jahr 2002 ereignete sich mitten in der Feldphase des European Social Survey (ESS), einer Umfrage in neun Ländern mit 65 Regionen.

Anknüpfend an frühere Studien aus unterschiedlichen Disziplinen behaupte ich, dass Terroranschläge die Einstellungen gegenüber Zuwanderern durch eine Reihe von psychologischen, emotionalen und sozialen Prozessen beeinflussen. In erster Linie tragen sie dazu bei, dass eine Fremdgruppe als bedrohlich wahrgenommen wird. Anschläge rufen in der Bevölkerung Ängste hervor, die sich nicht nur direkt gegen die Organisation richten, die hinter dem Anschlag steht, sondern auch auf Zuwanderer im Allgemeinen projiziert werden. Solche Ängste spiegeln sich in den politischen Reaktionen auf bestimmte Ereignisse wider.

Terroranschläge lenken Aufmerksamkeit auf Ängste
Als Antwort auf 9/11 und die späteren Anschläge in Bali, Madrid und London erhöhten mehrere europäische Länder nicht nur ihre Sicherheitsvorkehrungen an der Grenze, sondern verschärften auch ihre Einwanderungsgesetze. Gleichzeitig lenken Terroranschläge die Aufmerksamkeit auf vorhandene Ängste, die Zuwanderer etwa im Blick auf wirtschaftlichen Erfolg, Arbeitsplatzsicherheit oder die nationale Identität hervorrufen.

Ein hoher Anteil an Zuwanderern und eine schlechte Wirtschaftslage gelten als wichtige Faktoren, die zu negativen Einstellungen gegenüber Zuwanderern führen. Folglich dürfte die Reaktion auf Terroranschläge in Gegenden stärker ausfallen, die durch schlechte wirtschaftliche Rahmenbedingungen, hohe Arbeitslosigkeit und einen hohen Anteil an Zuwanderern gekennzeichnet sind. Erfahrungen und Erkenntnisse, die aus dem direkten Kontakt mit Mitgliedern der Fremdgruppe entstehen – etwa durch enge Freundschaften, am Arbeitsplatz oder in Alltagsbegegnungen –, könnten allerdings die Bedeutung der Größe der Fremdgruppe abschwächen und den Effekt des Ereignisses selbst verringern. Folglich sollte für die Reaktion auf Ereignisse vor allem die wirtschaftliche Lage relevant sein und weniger der Migrantenanteil in einer Region.

Bei der Prüfung dieser Argumentation nutze ich den günstigen Umstand, dass der Zeitpunkt der Befragungen des European Social Survey (ESS) im Jahr 2002 ein quasiexperimentelles Design ergibt. Der Terroranschlag in Bali fiel zeitlich mit der ESS-Befragungsphase in Belgien, Finnland, den Niederlanden, Norwegen, Polen, Portugal, Schweden, Schweiz und Großbritannien zusammen. Dieser Umstand erlaubt es mir, die Auswirkungen des Anschlags auf Einstellungen gegenüber Zuwanderern in 65 Regionen aus neun europäischen Ländern zu analysieren. Dabei definiere ich die Befragten, die vor dem Anschlag interviewt wurden, als Kontrollgruppe und diejenigen, die nach dem Anschlag befragt wurden, als Versuchsgruppe. Ich untersuche also den Effekt des Terroranschlags in Bali, indem ich die Antworten der Befragten, die unmittelbar vor dem Anschlag interviewt wurden, mit den Antworten jener vergleiche, die nach dem Anschlag in verschiedenen Regionen in neun europäischen Ländern befragt wurden.

Unterschiede zwischen Ländern
Die Ergebnisse dieses natürlichen Experiments zeigen erhebliche Variationen zwischen den einzelnen Ländern und Regionen, und zwar sowohl im Hinblick auf die Größe des Effekts als auch auf dessen zeitliche Dauer. Die wichtigsten Ergebnisse lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen.

Erstens: In zwei oder, mit Einschränkungen, drei der neun Länder, in denen die Feldphase mit dem Terroranschlag in Bali zusammenfiel (Portugal, Polen und Finnland), hatte dieser Anschlag einen deutlich negativen Effekt auf die Einstellungen gegenüber Zuwanderern. Die Ergebnisse zeigen außerdem, dass der Effekt in Portugal und Polen zwar nach einiger Zeit wieder abnahm, aber selbst einige Wochen nach dem Ereignis auf einem relativ hohen Niveau verharrte. In Finnland dagegen sank der Effekt nach einer Woche sofort wieder ab und blieb danach auf diesem niedrigen Niveau. Folglich scheint der Anschlag in Bali in bestimmten Kontexten einen deutlichen Kurzzeiteffekt auf die Einstellungen gegenüber Zuwanderern gehabt zu haben, der mit der Zeit wieder leicht abnahm, aber auch mehrere Wochen nach dem Ereignis noch beträchtlich war.

Zweitens zeigen sich erhebliche regionale Unterschiede in der Reaktion auf das Ereignis. Insbesondere ist der Effekt in den Regionen stärker, die von einer hohen Arbeitslosigkeit betroffen sind. In Gegenden mit durchschnittlicher Arbeitslosenquote ist er relativ klein, nimmt aber zu, sobald die Arbeitslosigkeit steigt. In diesen Kontexten werden Zuwanderer anscheinend als eine Bedrohung der Arbeitsplatzsicherheit wahrgenommen und Ereignisse wie Terroranschläge haben das Potenzial, die Aufmerksamkeit auf diese Ängste zu lenken. Außerdem zeigen die Ergebnisse, dass die Größe der Fremdgruppe nur für die Befragten eine Rolle spielt, die keinen direkten Kontakt mit Zuwanderern haben. Folglich mindert der direkte Kontakt mit Zuwanderern nicht nur die Bedeutung der Größe dieser Gruppe; es gibt auch Teilbelege dafür, dass der direkte Kontakt den Effekt des Ereignisses selbst abschwächt.

Terror wirkt sich auf Wahrnehmung von Zuwanderern aus
Zusammengefasst zeigt die vorliegende Studie, dass Terroranschläge in manchen Fällen und unter bestimmten Bedingungen einen deutlichen, wenigstens kurzzeitigen Effekt auf die öffentliche Wahrnehmung von Zuwanderern haben können. Um diese Befunde auf andere Terroranschläge übertragen zu können, müssen einige besondere Merkmale des Anschlags in Bali sowie die spezifischen Formulierungen im Fragebogen beachtet werden. Erstens fand das Ereignis an einem geografisch weit entfernten Ort statt. Zweitens erfolgte der Anschlag in Bali ungefähr ein Jahr nach den Anschlägen vom 11. September in den USA.

9/11 hatte möglicherweise massive Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Zuwanderern seitens der Befragten und könnte somit den Effekt des Bali-Anschlags verringert haben. Drittens konzentriert sich die Formulierung der Items im Fragebogen auf alle Zuwanderer und differenziert nicht nach ethnischer Herkunft oder Religionszugehörigkeit. Diese Merkmale der Bali-Angriffe stärken unsere Befunde sogar noch. Die Tatsache, dass ein weit entferntes Ereignis kurz nach 9/11 in einer kleinen Auswahl von Ländern einen Effekt auf die allgemeinen Einstellungen zu Migranten hatte, kann als konservativer Test der Auswirkung von Terroranschlägen auf die Einstellungen gegenüber Zuwanderern angesehen werden. Folglich können solche Ereignisse einen wichtigen Einfluss auf Einstellungen gegenüber Zuwanderern haben.

Aber die Ergebnisse sind auch für die Umfrageforschung von Bedeutung. Während regionale Unterschiede beim Design von Fragebögen seit jeher eine bedeutsame Rolle spielen und zu einem allseits bekannten Thema in der soziologischen Forschung geworden sind, haben zeitliche Unterschiede weitaus weniger Aufmerksamkeit erfahren. Selten wird untersucht, wie sich die öffentliche Meinung über kürzere Zeiträume entwickelt. In der international vergleichenden Forschung könnte diese zeitliche Bedingtheit aber von großer Bedeutung sein, etwa wenn sich Differenzen zwischen einzelnen Ländern als das künstliche Produkt nationaler Ereignisse darstellen, die während der Befragungsphase stattfanden. Die zeitliche Einbettung von Befragungen kann also zu Verzerrungen führen. Umso mehr aber muss die zeitliche Dimension in das Studium von Meinungsbildungsprozessen Eingang finden.