Niedersachsen

Verfassungsschutz erfasst Moscheebesucher

In Niedersachsen wurden zu Unrecht Daten von knapp 100 Muslimen gespeichert. Begründung: Sie gehen regelmäßig zum Freitagsgebet in die Moschee. Innenminister Pistorius verspricht Reform. Grüne machen unterdessen Ex-Innenminister Schünemann verantwortlich. CDU wehrt sich und warnt.

Der Niedersächsische Verfassungsschutz hat über viele Jahre zu Unrecht Daten von mehreren Hundert Personen gespeichert. Allein im Phänomenbereich Islamismus wurden knapp 100 Personen allein wegen regelmäßiger Besuche von Freitagsgebeten erfasst. Das geht aus einem Task-Force Bericht hervor, der am Mittwoch vom Innenminister Boris Pistorius (SPD) im Landtag vorgestellt wurde.

Im vergangenen Herbst war bekannt geworden, dass der Verfassungsschutz in der Amtszeit von Innenminister Uwe Schünemann (CDU) mehrere Journalisten, Rechtsanwälte und Politiker rechtswidrig überwacht hatte. Als Konsequenz daraus richtete der heutige Innenminister Pistorius eine „Task Force“ zur Überprüfung aller rechtswidrigen Speicherungen ein.

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40 Prozent der Daten unrechtmäßig
Wie aus dem Bericht hervorgeht, soll der Verfassungsschutz in einem Fall sogar die Daten einer Frau gespeichert haben nur weil ihre Telefonnummer im Mobiltelefon eines Kalifatstaatsanhängers gespeichert war. „Erkenntnisse zu der Frau lagen dem Fachbereich aber nicht vor. Selbst Lichtbildvorlagen bei 3 Quellen verliefen negativ. Die Frau hätte also die Zahnärztin, Rechtsanwältin oder Krankengymnastin sein können, wurde aber dennoch gespeichert, nur weil sie in seinen Handykontakten war“, sagte Pistorius in seiner Landtagsrede.

Insgesamt überprüfte die Task-Force 9.004 Datensätze, gegliedert nach den Phänomenbereichen Linksextremismus, Extremismus mit Auslandsbezug, Islamismus und Rechtsextremismus. Dabei ist sie zu dem Ergebnis gekommen, dass davon 1.937 Datensätze nicht in der Datei hätten sein dürfen. Entweder weil sie nie hätten aufgenommen werden dürfen oder weil sie längst hätten gelöscht werden müssen. Das entspricht gut 20 Prozent aller überprüften Datensätze.

Limburg: Daten sind Ausdruck der Geisteshaltung
Die Task Force empfiehlt in ihrem Abschlussbericht damit die umgehende Löschung jeder fünften Datei in den Akten des Verfassungsschutzes. Hinzu kommen 1.564 Speicherungen, also noch mal knapp 20 Prozent die auf Empfehlung der Task Force zeitnah gelöscht werden müssen, da sie nicht länger für die Aufgabenerfüllung erforderlich sind. Aus den vorgefundenen Datensätzen bleiben damit voraussichtlich zukünftig insgesamt lediglich gut 60 Prozent in der Amtsdatei. Die Prüfung konzentrierte sich dabei auf die folgenden zwei Fragen: Sind die Grundrechte hinreichend beachtet worden? Und: Waren die Speicherungen erforderlich und verhältnismäßig?

Für den rechtspolitischen Sprecher der Grünen, Helge Limburg, zeigen diese Zahlen, den „Ausdruck eines damals vorherrschendes Geistes beim Verfassungsschutz“. Das Ausmaß der rechtswidrigen Datenspeicherungen sei erschreckend, jeder einzelne von ihnen stelle einen Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen dar. „Unter schwarz-gelber Regierungsverantwortung und unter CDU-Innenminister Uwe Schünemann wurden durch den Verfassungsschutz massenhaft Grundrechte verletzt. Bereits der bloße Besuch einer Moschee konnte als Grund für die Erfassung von Daten herhalten“, so Limburg weiter. SPD-Fraktionschefin Johanne Modder sieht die Schuld ebenfalls beim ehemaligen Innenminister Schünemannn. Unter seiner Verantwortung „haben sich in der Behörde Methoden ausgeprägt, die mit den Aufgaben des Verfassungsschutzes offenbar nicht zu vereinbaren sind“.

CDU wehrt sich gegen Vorwürfe
Das sieht der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Landtagsfraktion, Jens Nacke, anders: Als haltlos habe sich die Behauptung von Rot-Grün erwiesen, Daten von Journalisten oder Rechtsanwälten seien vom Verfassungsschutz systematisch erfasst worden. Dieser Vorhalt sei vollständig widerlegt worden.

Laut Bericht wurden im vergangenen Jahr jedoch unzulässige Speicherungen unter anderem von publizistisch und journalistisch tätigen Personen entdeckt. Selbst Minderjährige, die keinen konkreten zurechenbaren Gewaltbezug aufwiesen, gerieten ins Visier des Verfassungsschutzes.

Im Bereich Linksextremismus beanstandet die Task Force, dass sogar bürgerliche Proteste als extremistisch eingestuft wurden. So wurde ein Landwirt, der ausschließlich im Rahmen von Blockadeaktionen, insbesondere mittels Traktoren, im Rahmen der Anti-Castor-Proteste auffällig geworden war, gespeichert. „Das mag zwar ein Fall für die Polizei sein. Linksextremistisch ist das aber noch lange nicht“, kommentierte Pistorius dieses Beispiel. Und in 2012 wurde eine Studentin als Verdachtsfall gespeichert, nur weil sie in einem von der Polizei bewerteten „Szeneobjekt“ wohnte.

Daten von Rechtsextremisten
Zum Phänomenbereich Rechtsextremismus bemängelt der Bericht, dass im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex verfügte Löschmoratorium zu unangemessenen Verlängerungen von Wiedervorlagefristen geführt habe. Auch in diesem Bereich sollten etwa 1.400 Daten gelöscht werden.

Dem steht CDU-Politiker Nacke kritisch gegenüber: „Eine erhebliche Anzahl von Personendaten mit Extremismusbezug zu löschen, birgt ein gewisses Risiko, das haben nicht zuletzt die Erfahrungen mit dem NSU gezeigt: Wer einmal vom Radar verschwunden ist, taucht möglicherweise erst wieder auf, wenn es zu spät ist.“ Der Innenminister solle sich diese Fälle sehr genau anschauen.

Mitteilung an die Betroffenen
Das Gesetz verlangt, dass jeder Datensatz regelmäßig darauf hin überprüft wird, ob er zu löschen ist. In Ausnahmefällen kann diese Wiedervorlagefrist auf maximal 5 Jahre erhöht werden. In der Behörde wurde diese Ausnahme jedoch zur Regel: Sie wurde im Datensystem automatisch gesetzt. „Nur wenn der Bearbeiter dieses nicht ausdrücklich anders eingegeben hat, war diese Frist kürzer. Der gesetzliche Ausnahmefall wurde so systematisch zum Regelfall und der gesetzliche Schutz der Höchstfrist ad absurdum geführt“, so der Minister weiter.

Zwar habe sich die Task Force dafür entschieden, die Betroffenen nicht flächendeckend zu unterrichten, um die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes nicht aufzudecken. Das Innenministerium prüfe aber, ob es bei besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriffen eine Mitteilung im Einzelfall vornehmen wird.

Pistorius: einmalige Chance
Die Ergebnisse der Task Force bieten laut Pistorius die einmalige Chance, den Datenbestand wieder in einen rechtsstaatlich einwandfreien Zustand zu versetzen. Zusammen mit den im April vorgelegten Handlungsempfehlungen der Arbeitsgruppe zur Reform des Niedersächsischen Verfassungsschutzes habe das Land nun die Chance auf einen echten Neustart. Allerdings wurden die Handlungsempfehlungen von Migrantenorganisationen stark kritisiert. In einer gemeinsamen Erklärung hatten sie sich darüber beschwert, dass der Bericht zu Vorurteilen und Rassismus innerhalb des Verfassungsschutzes schweige.

Ob diese tatsächlich gelingt, wird sich allerdings noch zeigen müssen. „Die Fehler bei einzelnen Mitarbeitern zu suchen führt zu keinem Ergebnis. Art und Umfang der Fehler lassen vielmehr auf ein Organisationsverschulden schließen“, erklärte Pistorius. Das Ministerium arbeite bereits an einem Personalentwicklungskonzept. Bei der Personalauswahl werde zukünftig ein stärkeres Augenmerk Qualifikation gelegt. Dazu gehörten mehr wissenschaftliche Kompetenz, ausgeprägtes Verständnis für gesellschaftspolitische Zusammenhänge, interkulturelle Kompetenz sowie fremdsprachliche Fähigkeiten. (es)